Mr. Vielseitig? Wo Kai Havertz bei Arsenal spielen könnte

Tuchel beschrieb seinen Landsmann zu Beginn so: "Er fühlt sich in hohen Positionen sehr wohl, er ist sehr gut im offensiven Kopfballspiel, er hat ein gutes Timing, wenn er in den Strafraum eindringt, einen guten Abschluss, ist ruhig im Strafraum."

Er fügte jedoch einen Vorbehalt hinzu: "Muss er immer auf der gleichen Position spielen? Oder ist er hybrid?" Zwei Jahre später haben wir immer noch keine endgültige Antwort auf diese Frage.

Havertz ist teils Stürmer, teils offensiver Mittelfeldspieler, der aufgrund seiner beeindruckenden Fähigkeiten mit beiden Füßen auf beiden Seiten und in der Mitte agieren kann. Infolgedessen stand er nur selten nicht in Chelseas Startaufstellung - trotz seiner schwachen Torausbeute.

Die Saison 2022/23 verlief für den ehemaligen Leverkusener äußerst enttäuschend, er erzielte im Schnitt nur 0,23 Tore pro Spiel und vergab 14 der 18 Großchancen, die sich ihm in der Premier League boten. Havertz wurde oft als Nummer 9 eingesetzt und wirkte dabei isoliert - niemand aus dem Chelsea-Team schien ihm gute Vorlagen zu servieren.

Es war sicher kein Zufall, dass Chelsea mit nur 38 Toren in 38 Spielen seine schlechteste PL-Torausbeute aller Zeiten verzeichnete. Doch Havertz ist nach wie vor in der Lage, dem Angriff von Arsenal eine neue Dimension zu geben.

Mit Gabriel Jesus, Bukayo Saka und Gabriel Martinelli sowie den kreativen Qualitäten von Martin Ødegaard und Granit Xhaka hatten die Gunners in der vergangenen Saison bei ihrem Kampf um den Titel keine Probleme damit, Tore zu erzielen. Arsenal verfügt über eine weitaus größere Durchschlagskraft als Chelsea - davon wird Havertz profitieren.

"Er erinnert mich manchmal ein wenig an Robin van Persie mit dem Rücken zum Tor, so wie er den Ball festmachen kann", sagte Arsenal-Legende Thierry Henry gegenüberCBS Sports. "Van Persie hatte einen sehr guten linken Fuß, seine Ballbehandlung war makellos und er wollte alle mitreißen."

Über Havertz' beste Position sagte er: "Er ist einer von den Spielern, die einst 10er spielten oder auf dem Flügel, aber jetzt spielt er als 9er. Denn er kann den Ball mit dem Rücken zum Tor sehr gut verwerten. Er muss das nun in noch mehr Tore umwandeln."

Tuchel verglich Havertz während seiner Zeit beim FC Chelsea ebenfalls mit van Persie. Die Arsenal-Fans hoffen natürlich, dass er dem fliegenden Holländer nacheifern kann, der in 278 Spielen 132 Tore in Nordlondon erzielte. Van Persie begann als traditioneller Mittelstürmer, bis Arsène Wenger ihn mit dem Alter auf die Position der "falschen Neun" setzte.

Van Persie war nicht nur ein überragender Torjäger, sondern auch ein großartiger Verbindungsspieler. Arteta könnte Havertz beispielsweise neben oder vor Gabriel Jesus stellen.

Havertz verfügt über die nötige Ausgeglichenheit, Geschicklichkeit und fußballerische Intelligenz, um viel Schaden beim Gegner anzurichten. Er agiert zwischen den Abwehrreihen und lässt seine Mitspieler glänzen. Auch bei Artetas Pressing wird der Stürmer sicher wie gewohnt gut mitarbeiten.

Vor seinem Wechsel zu Chelsea im Jahr 2020 verriet Havertz in einem Interview mit der spanischen Zeitung Marca seine bevorzugte Position. "Ich würde sagen, als 8er, rechts innen", sagte er. "Ich bin keine klassische Nummer 10, aber ich mag es, den Ball am Fuß zu haben und einfach Spaß auf dem Spielfeld zu haben."

Ødegaard spielt derzeit für Arsenal auf dieser Position und das wird sich auch so schnell nicht ändern. Der Norweger war in der vergangenen Saison einer der besten Spieler der Premier League. Arteta ernannte ihn sogar zum Kapitän.

Havertz mag zwar die rechte Seite bevorzugen, hätte aber auch bestimmt kein Problem damit, in Artetas 4-3-3-System auf der linken Seite des zentralen Mittelfelds zu spielen. Er wird in große Fußstapfen treten müssen, denn Granit Xhaka wird nach seiner besten Saison im Arsenal-Trikot gehen - ironischerweise zu Havertz' Jugendklub Leverkusen.

Der deutsche Spielmacher wird Arsenal defensiv natürlich nicht so viel bieten wie Xhaka. Aber er wäre in der Lage, spät in den Strafraum zu stürmen und öfter in den Halbräumen in Ballbesitz zu kommen. Havertz hat in der vergangenen Saison 54 Schüsse aus dem Spiel heraus abgegeben, mehr als jeder andere Chelsea-Spieler.

Auch seine Läufe abseits des Ballbesitzes sind stark. Der ehemalige Leverkusener Trainer Tayfun Korkut sagte in einem Interview mit Sky Sports2020: "Er bewegt sich fantastisch zwischen den Linien. Er weiß genau, wo er stehen muss. Er sieht die Räume, in denen er stehen muss. Wenn sich der Raum zu schließen beginnt, geht er in den nächsten Raum. Er kontrolliert also nicht nur den Ball, sondern auch den Raum. Deshalb steht er immer richtig."

Havertz ist wendig, körperlich stark und ein meisterhafter Techniker - das macht ihn auch im zentralen Mittelfeld geeignet. Arsenal zahlt nicht 76 Millionen Euro für den Havertz, der drei Jahre lang bei Chelsea spielte - sondern investiert in einen Spieler, den sich Arteta in seinem System vorstellen kann.

Als Romelu Lukaku im vergangenen Sommer den FC Chelsea verließ und sich leihweise Inter Mailand anschloss, lagen der Druck und die Verantwortung im Blues-Angriff wieder auf dem Deutschen.

Arsenal-Legende Paul Merson hatte ihn davor gewarnt. "Kai Havertz ist für mich ein 10er. Kein Mittelstürmer. Ich sehe ihn als einen Spieler wie Dennis Bergkamp", schrieb Merson in seiner Kolumne für den Daily Star. "Er braucht den Ball nicht mit dem Rücken zum Tor. Dafür ist er zu gut. Er braucht den Ball mit dem Kopf Richtung Tor." Merson behielt Recht - Chelsea tat sich mit Havertz schwer.

Aber es ist sicher, dass die Gunners nicht den gleichen Fehler wie Chelsea machen werden, nachdem sie Havertz von ihrem Londoner Rivalen weggelockt haben. Er könnte sich als perfekter Gegenpart für Jesus erweisen - so wie Bergkamp es zu seinen besten Zeiten für Henry war.

Havertz kann das Schwierige genauso mühelos aussehen lassen wie einst Bergkamp: Er verfügt über den gleichen außergewöhnlichen ersten Kontakt, die gleiche Passsicherheit und die gleiche Coolness vor dem Tor. Arteta würde vielleicht mit einer neuen Formation experimentieren, um Havertz und Jesus zusammen aufs Feld zu bringen - aber das könnte sich lohnen.

Jesus ist ein Wirbelwind mit frenetischer Energie und würde die Defensivreihen schwindlig spielen, während Havertz hinter ihm abliefert.

Es gibt aber noch eine andere mögliche Rolle, die Havertz einnehmen könnte. Saka war in der Saison 2022/23 einer der besten Spieler Arsenals - doch gegen Ende der Runde wirkte er etwas überspielt. Mit Havertz hätte Arteta die Möglichkeit, Saka in manchen Spielen zu schonen. Der deutsche Nationalspieler könnte auf dem rechten Flügel ebenso gefährlich sein wie der Engländer.

Der 24-Jährige kann mit dem linken Fuß genauso gut nach innen ziehen wie mit dem rechten. Er trifft meistens die richtigen Entscheidungen, wenn er in der Vorwärtsbewegung in die richtigen Räume kommt.

Havertz hat zurecht den Ruf eines Spielers, der gerade in großen Spielen abliefert. Im Champions-League-Finale 2021 gegen Manchester City (1:0) bewies er Nerven aus Stahl und wiederholte das Kunststück bei der Klub-Weltmeisterschaft.

Als Chelsea am 12. Februar 2022 bei der Klub-WM im Finale gegen Palmeiras (Brasilien) tief in der Verlängerung ein Elfmeter zugesprochen wurde, nahm sich Havertz die Kugel. Er versenkte souverän links unten.

Seine Leistungen und Konzentration unter Druck in großen Spielen sind beeindruckend. Aber vielleicht muss er bei Arsenal erst einmal sein verlorenes Selbstvertrauen zurückgewinnen.

"Für mich war die Ablöse eine große Sache. Ich war der teuerste Spieler in der Geschichte des FC Chelsea", sagte Havertz im März dem englischen Guardian. "Das bringt Druck mit sich, weil die Leute denken, man sei Messi. Man kann ihn spüren, den Druck."

Havertz ist in der vergangenen Saison unter der Last der Erwartungen eingeknickt und muss wieder zurück zu mehr Leichtigkeit. Derzeit scheint es unwahrscheinlich, dass er in den nächsten Jahren einer der 30 besten Spieler der Welt und für den Ballon d'Or nominiert wird.

Aber Arteta wird Havertz' Zeit bei Chelsea genau studiert haben und zu dem Schluss gekommen sein, dass es sich lohnt, auf ihn zu setzen.

Nur Tottenhams Heung-min Son und Aston-Villa-Star Ollie Watkins haben 2022/23 mehr offensive Läufe gemacht als Havertz. Er legte auch mehr Strecke zurück als jeder seiner Kollegen bei Chelsea. Leider gehörte er zu einer Mannschaft, die sich beinahe im Abstiegskampf befand - aber Arsenal wird ihm die Möglichkeit geben, seine Kritiker ein für alle Mal zum Schweigen zu bringen.

Im zarten Alter von 24 Jahren hat Havertz bereits viele Höhen und Tiefen auf höchstem Niveau erlebt. Das wird ihn stärker gemacht haben. Der FC Chelsea hat ihn nun vor seiner womöglich besten Phase aufgegeben. Das könnten die Blues letztlich bereuen.

Arsenal hat den Zuschlag bekommen, aber auch Real Madrid und der FC Bayern waren sehr interessiert. Havertz' Marktwert ist nicht deutlich gesunken - er bleibt ein potenzieller Diamant, den es zu schleifen gilt.

Arteta zählt auf ihn und weiß: Der Vizemeister braucht mehr Kopfballtore. In der abgelaufenen Saison war Havertz der Spieler mit den viertmeisten gewonnen Kopfballduellen - auch dank seiner 1,90 Meter.

Drei seiner sieben Premier-League-Tore gelangen ihm per Kopf und nur elf Spieler haben mehr Kopfbälle aufs Tor gebracht als er.

Außerdem weiß er sicher, was genau er bei Chelsea falsch gemacht hat. Ein Neuanfang im Emirates Stadium ist genau das, was Havertz braucht. Arsenal bekommt einen Spieler, der noch immer hungrig ist und sich beweisen will - der entschlossen sein wird, weitere Titel zu gewinnen. Nur wenige Spieler in Havertz' Alter verfügen über seine Erfahrung und seine Skills.

Man darf gespannt sein, wie er sich in der nächsten Saison im Norden Londons zurechtfindet, wenn Arsenal einen weiteren Angriff auf den Premier-League-Titel unternimmt. Wenn Havertz endlich sein Potenzial ausschöpft und Arteta seine passende Position findet, könnten die Gunners diesmal wirklich alle überraschen.