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FC Bayern München spieltaktisch nur noch Mittelmaß: Ein bisschen Guardiola täte der Mannschaft gut


HINTERGRUND

Thomas Müller rannte mal wieder wie nur Thomas Müller es kann einem Ball hinterher: In Schlangenlinien, die Arme ausgebreitet und wild fuchtelnd, um den Mitspielern auch in dieser Situation noch letzte Anweisungen zu geben. Dann spielte ein Innenverteidiger von Holstein Kiel den Ball an Bayern Münchens Müller vorbei und nun hätte die Jagd eigentlich erst so richtig beginnen sollen - aber ein Spieler in Rot war weit und breit nicht in Sicht in dieser Szene während des DFB-Pokalspiels bei Holstein Kiel, das in der Münchner Blamage mündete. Müller rannte vergeblich und als er sich ansah und das auch erkannte, hob er resignierend die Arme in die Luft.

Szenen wie diese gibt es derzeit häufig in Spielen des FC Bayern. Jener Mannschaft, die noch vor ein paar Monaten mit ihrem Kollektivgedanken und drei, vier fast in Perfektion ausgeführten Stilmitteln den europäischen Fußball dominiert hatte und den deutschen natürlich auch.

Und jetzt? Hagelt es nur so Gegentore, in der Bundesliga sind es 24 nach 15 Spielen, mehr als Augsburg oder Stuttgart, doppelt so viele wie Leipzig und so viele wie die Bayern zuletzt vor fast 40 Jahren zu diesem Zeitpunkt einer Saison kassiert haben. Die Bayern haben im Kalenderjahr 2021 schon doppelt so viele Pflichtspiele verloren wie im gesamten Jahr 2020. Und wir schreiben erst den 15. Januar ...

Da läuft etwas gewaltig schief und irgendwann können auch die Tore von Robert Lewandowski nicht mehr alles noch irgendwie retten. Die Bayern sind aus spieltaktischer Sicht allenfalls noch gehobenes Mittelmaß in der Bundesliga und wurden beim Pokalspiel in Kiel in der zweiten Halbzeit sogar von einem Zweitligisten phasenweise so aufgespielt, dass der Rekordmeister kaum noch den Ball hatte. Wie kann das alles sein? Der FC Bayern in der Taktikanalyse.

FC Bayern DFB-Pokal 2020-21Getty Images

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FC Bayern: Oft gesagt, aber wichtig - Spieler sind müde

Vorneweg: Auch die beste Taktik der Welt ist nur so gut wie die Spieler, die sie ausführen. Und ein großer Teil der Bayern-Stars hat derzeit mit teilweise erheblichen Problemen zu kämpfen. Die Spieler wirken weder körperlich noch geistig so fit, dass im Spiel über 90 Minuten ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Konzentration gewährleistet wäre. Die verschlafenen Startphasen mit acht Rückständen in Folge in Ligaspielen sind ein Zeichen, wie schwer die Mannschaft in die Gänge kommt und sich von in der Regel ausgeruhten Mannschaften überrumpeln lässt.

Im letzten Ligaspiel bei Borussia Mönchengladbach gingen die Bayern zwar 2:0 in Führung, verloren aber am Ende noch 2:3. In Kiel reichte eine zweimalige Führung nicht, Kiel glich in der fünften Minute der Nachspielzeit aus und erzwang so die Verlängerung und dann auch das Elfmeterschießen.

In den Endphasen der Spiele sind es nicht immer nur die Bayern, die wie eigentlich gewohnt noch eine Schippe drauflegen können. Die Mannschaft wirkt ausgelaugt und überspielt - was angesichts der Dauerbelastung seit Mai ohne eine echte Pause auch nur verständlich ist. Und das hat unmittelbare Folgen speziell für die Spezialbereiche des Flick-Fußballs.

FC Bayern: Das zerrissene Pressing

Nicht die Tormaschine in der Offensive oder die individuelle Klasse der Spieler waren Bayerns Markenzeichen in der letzten Saison, sondern die Arbeit gegen den Ball. Mit Flick kam die Schärfe zurück in Bayerns Pressing - davon ist in diesen Tagen aber allenfalls noch rudimentär etwas zu sehen. Die gruppen- und mannschaftstaktischen Abläufe sind nicht mehr sauber abgestimmt. Manche Spieler bewegen sich im hohen Tempo zum Ball, andere eher pflichtschuldig. Sobald ein Glied in der Kette beim Anlaufen ausfällt oder sich falsch verhält, ist die Pressingsituation kaputt - und genau das ist derzeit zu oft bei den Bayern zu sehen.

Die Mannschaft ist nicht in der Lage, den Gegner in höchstem Tempo unter Dauerstress zu halten und damit auch ohne Ball das Spiel zu kontrollieren. In Kiel war das in der ersten Halbzeit noch ordentlich, die Bayern hatten bis zum Gegentor totale Kontrolle. In der zweiten Hälfte kippte das Spiel, weil die Bayern auf die Bewegungen der Kieler Innenverteidiger keine Antworten fanden und der Gegner fast ungestört immer wieder die Tiefe anspielen konnte.

FC Bayern: Weder vertikal, noch horizontal kompakt

Die Bayern sind in diesen Phasen weder vertikal noch horizontal kompakt, der Block ist auseinandergerissen und auch schwächere Mannschaften finden Lücken vor und bespielen diese. Da kommt es auf die Sechser an, die nicht sauber abgestimmt sind in ihrem Aufrücken. Gegen Kiel waren es Joshua Kimmich und Corentin Tolisso, aber auch die Flügelspieler im 4-2-3-1 sind in der Pflicht, Situationen besser zu erkennen.

Leroy Sane und Jamal Musiala mussten von Trainer Flick ein paar Mal daran erinnert werden. Und so beginnt es mit der fehlenden Frische, mit der Leidenschaft im Anlaufen und führt sich dann fort bis in die Restverteidigung. Dass der FC Bayern von, bei allem Respekt vor Kiel, einem Zweitligisten fast eine komplette Halbzeit lang dominiert wird, ist bedenklich. Aber auch Ausdruck einer Entwicklung, die sich seit Wochen anbahnt: In der Bundesliga gibt es eine gute handvoll Teams, die aus taktischer Sicht und in ihren Abläufen besser funktionieren als die Bayern: Leipzig, Wolfsburg, Freiburg oder der VfB Stuttgart. Das zeigt sich insbesondere beim Pressing im geordneten Aufbau des Gegners.

FC Bayern: Das schlechte Gegenpressing

Die andere Königsdisziplin unter Flick leidet momentan fast genau so wie das geordnete Pressing. Es geht um Nachrücken und Zuordnen, wenn man ins Gegenpressing aufrückt, die zentralen Zutaten einer kompakten Formation. Und auch hier lassen die Spieler untereinander abreißen. Ein Teil geht zum Ball, baut Druck auf und kesselt den Ballführenden so ein, dass es kaum Anspielstationen gibt. Der andere Teil der Mannschaft rückt dann aber nicht mutig zum Ball nach und macht damit die letzten Ausweichmöglichkeiten für den Gegner zunichte.

Hier sind alle Spieler hinter dem Ball in der Pflicht, den Raum so zu verkleinern, dass es keinen Ausweg mehr gibt, eben Nachrücken und Zuordnen. Stattdessen freuen sich die Gegner darüber, dass die Bayern wie eine Mannschaft aus zwei Teilen agiert: Einem aktiven und einem passiven Teil. Und die Schnittstelle dieser beiden Teile ist gewissermaßen die Fluchtmöglichkeit für den Gegner. Frühe Ballgewinne und damit automatisch auch Torgefahr gibt momentan nur vereinzelt. Dafür umso größere Löcher, die der Gegner hinter dem aktiven Teil des Gegenpressing bespielen kann. Und das ist ein veritables Problem.

FC Bayern: Die Alarmglocken schrillen nicht

Die Bayern kassieren nun seit Monaten in fast jedem Spiel ein und dasselbe Gegentor: In einem Umschaltmoment greift das Gegenpressing nicht, der Druck auf den Ball ist weg und der ballführende Gegenspieler hat einen offenen Fuß. Das heißt: Er schaut in Spielrichtung aufgedreht Richtung Bayern-Tor und hat Zeit. Allerspätestens jetzt müssten in der Restverteidigung alle Alarmglocken schrillen. Die Innenverteidiger nicht mehr nach vorne verteidigen, sondern sich ein paar Meter absetzen, der jeweils ballferne Außenverteidiger einrücken und das Zentrum mit absichern.

Genau das passiert aber nicht und deshalb erleben wir seit Wochen einen Manuel Neuer, der sich in jedem Spiel in zwei, drei, vier oder noch mehr Eins-gegen-Eins-Situationen mit einem gegnerischen Angreifer stürzt. Die Wahrnehmung der drohenden Gefahr ist kein messbarer Wert wie ein gewonnener Zweikampf oder ein Torschuss. Aber auf diese so genannten "soft skills" kommt es an.

Wenn die Bayern Neuer nicht hätten...

Am ehesten bringt die derzeit noch Neuer ein, der auf Grund seiner hohen Position, seiner Antrittsschnelligkeit und seines Muts, sich mit voller Wucht in enge Situationen zu schmeißen, viele Dinge löscht. Aber hier sind auch die Abwehrspieler gefragt, die richtige Balance zwischen Nach-vorne-verteidigen und Fallen lassen zu finden und mit Kommandos den Mitspieler zu instruieren.

Auch das kommt seit Wochen offenbar viel zu kurz. Das erste Gegentor in Kiel ist eine Blaupause aller Probleme, die die Bayern in diesen Momenten derzeit haben.

Manuel Neuer FC Bayern KielGetty Images

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FC Bayern: Das hätte es unter Pep nicht gegeben

Ein Spiel wie das in Kiel, oder das in Gladbach, das gegen Wolfsburg, gegen Union, gegen Salzburg und so weiter: Das hätte es unter Pep Guardiola nicht gegeben. Der verfolgte ein paar andere Ansätze und Flick hat in einem Jahr alles gewonnen, aber: Der FC Bayern zeichnet sich in der Regel eben auch dadurch aus, dass er einen Gegner einfach auch erdrückt mit seiner Dominanz und seiner Kontrolle. Nie waren die Bayern in dieser Disziplin besser als unter Guardiola.

Man muss auch nicht die Zeiten des Spaniers in München über die Maßen glorifizieren. Aber ein bisschen Guardiola-Fußball täte den Bayern gerade jetzt richtig gut. Das letzte souverän gewonnene Spiel liegt nun fast drei Monate zurück, es war das 5:0 gegen Frankfurt. Danach hatten die Bayern in jeder Partie Schwierigkeiten, selbst nach eigenen Führungen. Die Mannschaft muss deshalb auch seit Wochen immer bis zum Ende an ihr Limit gehen, was wiederum wertvolle Kräfte raubt für anstehende Aufgaben.

Es ist wie ein Teufelskreis: Weil die Mannschaft nicht in der Lage ist, einen Gegner über viel Ballbesitz zu dominieren und sich damit selbst Ruhephasen zu verschaffen, ist immer eine enormen Kraftanstrengung nötig. Und die wirkt sich wiederum auf das nächste Spiel ein paar Tage später aus, wenn die Mannschaft schwer in Tritt kommt, in Rückstand gerät oder nicht in der Lage ist, einen Zweitligisten trotz zweimaliger Führung in Schach zu halten. Das ist ein systemimmanentes Problem, das der Flick-Fußball mit sich bringt.

Auch in den besten Phasen hatten die Bayern immer wieder Probleme, eine Partie einfach auch mal ruhig nach Hause zu spielen oder auf Umstellungen des Gegners zu reagieren. Die individuelle Klasse der Spieler regelte fast alles. Jetzt, mit müderen Spielern, drücken sich die strukturellen Probleme aber voll durch. Flick hatte diesen Missstand schon Ende der letzten Saison erkannt und eigentlich Besserung angekündigt - passiert ist seitdem aber nichts. Das muss sich auch der Trainer selbst ankreiden: Nur mit einem Plan A funktioniert das in dieser Saison nicht. Zumal der immer weiter entschlüsselt wird und schon längst Alternativen gefragt sind.

FC Bayern: Die Neuen helfen kaum weiter

Und noch eine Sache wird immer auffälliger: Die Bayern haben auf dem Transfermarkt im Sommer nicht adäquat auf die vorhersehbaren Schwierigkeiten in dieser Saison reagiert. Der Kader wurde in der Breite ergänzt, die abgewanderte Qualität von Spielern wie Thiago, Coutinho oder auch die des gerne unterschätzten, aber sehr wichtigen Rollenspieler Ivan Perisic, nicht aufgefangen.

Von den insgesamt acht Zugängen deutet bisher lediglich Leroy Sane seinen Wert für die Mannschaft an. Bouna Sarr, Marc Roca oder Douglas Costa sind allenfalls Mitläufer, Tanguy Nianzou ein Toptalent, aber lange verletzt. Eric-Maxim Choupo-Moting ist eigentlich für genau solche Spiele wie das in Kiel gekauft worden, fehlte aber verletzt. Und Alexander Nübel wird wohl weiter vergeblich auf Einsatzzeiten hoffen, dafür ist die Lage viel zu angespannt. Im Prinzip muss es der alte Kader minus der abgegeben Spieler richten und ist damit immer öfter überfordert.

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