Sofyan Amrabat kann Manchester Uniteds Saison zum Guten wenden - nicht nur defensiv, sondern auch im Ballbesitz

United hat in den ersten beiden Spielen der Saison eine alarmierend schlechte Motivation und Laufbereitschaft an den Tag gelegt. Gerade in der Mitte des Feldes wurde man von den Wolverhampton Wanderers und Tottenham Hotspur überrannt.

Der einstige United-Kapitän und heutige Experte Roy Keane kritisierte die Leistung bei der 0:2-Niederlage gegen die Spurs wie gewohnt und nahm dabei Casemiro, Bruno Fernandes und Mason Mount ins Visier: "Die sechs Spieler im Mittelfeld und Angriff machen absolut gar nichts, wenn sie nicht im Ballbesitz sind", sagte er bei Sky Sports. "Mount und Fernandes sehen wie Schuljungen aus, wenn sie nicht in Ballbesitz sind. Sie haben nicht die Körperlichkeit, um den Ball zurückzuerobern."

Glücklicherweise kann Amrabat United dabei helfen, weitaus mehr Raum abzudecken als bisher. Bei der Weltmeisterschaft 2022 lief er mehr als jeder andere Spieler. In sieben Spielen in Katar legte er 81,4 Kilometer zurück, um Marokko zum ersten Mal überhaupt ins Halbfinale zu bringen.

In diesen sieben Spielen kam er auf insgesamt 22 Balleroberungen, die fünftmeisten im gesamten Turnier. Er war auch für einen der herausragendsten Momente des Turniers verantwortlich, als er Kylian Mbappé im Sprintduell verfolgte und ihn mit einer unglaublichen Grätsche stoppte.

Seine Leistung in Katar begeisterte nicht nur die marokkanischen Fans. Er wurde von vielen Experten als bester defensiver Mittelfeldspieler des Turniers angesehen. Nach dem Ausscheiden Marokkos kam sogar der französische Staatspräsident Emmanuel Macron in die Kabine, um ihm zu gratulieren.

Amrabats ehemaliger Trainer bei Hellas Verona, Ivan Juric, gab einen Einblick in die Spielfreude des Mittelfeldspielers. Laut The Athletic wurde der kroatische Trainer einmal gefragt, ob er Amrabat auswechseln solle, nachdem der Spieler eine 20-stündige Hin- und Rückreise auf sich genommen hatte, um bei der WM-Quali für Marokko aufzulaufen. "Ihm eine Pause geben? Sofyan würde auf dem Spielfeld bleiben, bis er ohnmächtig wird", lautete seine Antwort. Juric hatte sehr von Amrabats Ankunft von Club Brügge profitiert. Zu dem Zeitpunkt befand sich Hellas im Abstiegskampf.

Der Trainer fügte hinzu: "Amrabat ist die größte Überraschung in meinem Leben. Wir dachten alle, er sei nur ein physischer Mittelfeldspieler, aber er hat gezeigt, dass sein Spiel eine große taktische Tiefe hat. Er gibt alles für das Trikot, seine Mannschaftskameraden und den Trainerstab. Er spielt, bis er stirbt", erklärte Juric. "Das macht einem bewusst, dass nicht nur die begabten Spieler an die Spitze kommen können. Manchmal sind es die Spieler, die eine besondere Einstellung und Willenskraft haben. Und genau das ist es, was Sofyan ausmacht. Er hat diese enorme Einstellung: 'Tag ein, Tag aus, hart arbeiten, weitermachen'. Er hat immer gekämpft, und das meine ich auf eine tolle Art und Weise. Das ist es, was er zu Manchester United mitbringt: seine Kraft, aber auch seine Willensstärke."

Es gibt auch die Geschichte, wie Amrabat sich während der Weltmeisterschaft von einer Rückenverletzung erholte, um gegen Spanien zu spielen und eine der besten Leistungen seiner Karriere zu zeigen. Letztlich bezwangen die Marokkaner die Roja im Achtelfinale im Elfmeterschießen. "Ich konnte mich nicht bewegen, mein Rücken war wie eingefroren", erinnerte er sich im Gespräch mit The Athletic. "Ich habe bis drei Uhr morgens mit dem Physiotherapeuten gearbeitet. Wir haben alles versucht und ich habe überhaupt nicht geschlafen, weil es so anstrengend war. Ich habe nur gedacht: 'Kann ich spielen?"

Amrabat erzählte außerdem: "Am Morgen des Spiels hatte ich immer noch Schmerzen. Ich habe mit dem Trainer gesprochen und er hat mir gesagt: 'Du musst spielen, wir brauchen dich. Das ist die Weltmeisterschaft, dein Land braucht dich'. Es kam für mich nicht in Frage, nicht zu spielen. Aber ich hatte Angst, jemanden mit meiner Leistung zu enttäuschen."

"Ich wusste nicht, wie ich es anstellen sollte. Ich hatte nicht geschlafen, ich war müde, ich hatte Rückenschmerzen. Ich habe mich aufgewärmt, aber fühlte mich immer noch nicht gut. Also habe ich dem Trainer noch einmal gesagt: 'Ich möchte spielen, aber Sie sollten wissen, dass Sie mich vielleicht nach zehn Minuten auswechseln müssen'. Ich bekam eine Spritze, und als ich den Pfiff des Schiedsrichters hörte, habe ich einfach alles vergessen. Ich habe wie verrückt gespielt. Es waren 120 Minuten, weil das Spiel in die Verlängerung ging. Ich bin 15 Kilometer gelaufen, so viel wie kein anderer auf dem Platz."

Amrabat ist jedoch weit mehr als nur ein energiegeladenes Arbeitstier. Er will so oft den Ball haben wie möglich. In der vergangenen Saison belegte er bei der Fiorentina mit durchschnittlich 73,9 Ballkontakten pro Spiel den fünften Platz unter den Mittelfeldspielern der Serie A. Dabei spielte er durchschnittlich 7,93 Pässe pro Ligaspiel nach vorne, mehr als Arsenal-Kapitän Martin Ødegaard und knapp weniger als Rodri von Manchester City.

Er spielte die meisten Pässe aller Spieler in der UEFA Conference League (850), gab die meisten Pässe ins letzte Drittel (108) und trug den Ball am weitesten (2326 Meter). Er spielte die dritthöchste Anzahl an Spiel-Verlagerungspässen (Bälle quer über das Spielfeld) und rangierte mit einer durchschnittlichen Passgenauigkeit von 92,3 Prozent auf Platz acht.

Das ist einer der Hauptgründe, warum sich United für ihn interessierte, nachdem man im vergangenen Sommer so viel Zeit und Energie darauf verwendet hatte, Frenkie de Jong zu verpflichten.

United hat zwar viele erfahrene und körperlich starke Spieler, aber niemanden, der den Ball von der Defensive in die Offensive trägt.

"Er hat mehr Fähigkeiten und das braucht man als Spieler auf höchstem Niveau, man braucht mehr Fähigkeiten (als nur verteidigen). Aber seine Ausdauer, seine Dynamik, das ist eine seiner größten Stärken", sagte ten Hag.

Amrabat zeigte bei seinem Debüt gegen Palace sein ganzes Können, obwohl er ungewohnter Weise als Linksverteidiger ran musste. Denn Sergio Reguilon, Luke Shaw und Tyrell Malacia waren alle verletzt.

Doch Amrabat blieb nicht nur hinten links stehen, wenn United in Ballbesitz war, sondern schaltete sich ins Mittelfeld ein. Seine Leistung erinnerte an die hybride Rolle von John Stones bei Manchester City in der vergangenen Saison und verschaffte United eine numerische Überlegenheit im Mittelfeld. Im starren 4-3-3 der Vorsaison hatte man das nur selten.

Der 27-Jährige verlagerte das Spiel mit seinen hochwertigen Pässen auf rechts immer wieder auf Diogo Dalot und kombinierte stark mit Alejandro Garnacho.

Seine Präsenz im Mittelfeld verhalf auch Casemiro zu einer seiner besten Leistungen in dieser Saison: Der Brasilianer erzielte das zweite Tor für United und bereitete das dritte Tor für Anthony Martial vor. Und sein Stellungsspiel ermöglichte es Mason Mount, sich mehr auf die Offensive zu konzentrieren.

Amrabat sollte United auch dabei helfen, sich von einer reagierenden Mannschaft zu einer proaktiven Mannschaft zu entwickeln, die Spiele kontrolliert. Beim knappen 1:0-Sieg von United in Burnley in der vergangenen Woche war es erstaunlich, dass man nur 38 Prozent Ballbesitz hatte.

Ten Hags Ajax war für seinen Ballbesitz-Fußball bekannt. Doch der Niederländer hat es noch nicht geschafft, aus United eine Mannschaft zu machen, die sich mit langen Ballbesitzphasen wohlfühlt. Seine rücksichtslose Entscheidung, sich von Torwart David de Gea zu trennen und Andre Onana zu verpflichten, zeigt jedoch, dass er diese Idee durchsetzen will.

Die jüngste Verletzung von Lisandro Martinez ist ein Rückschlag für Uniteds Bestreben, effektiver von hinten heraus zu spielen. Aber Amrabat kann helfen, selbstbewusster mit dem Ball umzugehen und weniger anfällig für Angriffswellen des Gegners zu sein, wie bei der 3:4-Niederlage gegen Bayern München in der Champions League oder der 0:7-Klatsche gegen Liverpool in der letzten Saison.

"Man braucht nicht immer so viel Ballbesitz, um das Spiel zu kontrollieren, denn gegen Burnley hatten wir das ganze Spiel über die Kontrolle", sagte ten Hag am Freitag. "Aber ich ziehe es vor, ihn zu haben, wie gegen Crystal Palace."

United hatte 69 Prozent Ballbesitz gegen die Mannschaft von Trainer Roy Hodgson und das war ein wichtiger Faktor für die Dominanz, dank der sie nur zwei Torschüsse von Palace abbekamen. Einen großen Anteil daran hatte Amrabat, der mit einer Passgenauigkeit von 96 Prozent mehr Pässe spielte als jeder andere Spieler auf dem Platz.