Der FC Bayern hat ohne Thomas Müller ein großes Problem, das Thomas Müller aber nicht mehr lösen kann: Im Pressing ist man zu harmlos. Gerade in den vergangenen Wochen fehlt es den Münchnern an Intensität, Schärfe und Qualität beim Anlaufen. Eine Analyse.
GOALBesorgniserregende Zahlen! Das größte Problem des FC Bayern hat mit Thomas Müller zu tun
Getty ImagesFC Bayern: Besorgniserregende Statistik
7,88 Pässe hat der FC Bayern seinen Gegnern in der Bundesliga durchschnittlich im Spielaufbau erlaubt, ehe eine Defensivaktion erfolgte - bis zum Auswärtsspiel in Freiburg Ende Januar. Seitdem können Gegner laut dem Datenportal understat durchschnittlich 14,47 Pässe spielen.
Allein in den Partien gegen Freiburg (11,2), Kiel (20,7), Bremen (12,9) und Leverkusen (15,6) hat sich der Wert im Durchschnitt also verdoppelt. Nun ist die Stichprobe mit vier Spielen deutlich kleiner als die der 18 Spiele im Zeitraum davor. Und auch in diesem Zeitraum gab es insgesamt vier Spiele, in denen die sogenannten PPDA (Passes per defensive Action) im zweistelligen Bereich waren.
Allerdings war das Auswärtsspiel in Bochum mit 12,83 hier mit großem Abstand der höchste Wert. Bei drei der vergangenen vier Spielen lagen nochmal deutlich darüber. Eine Schlussfolgerung, die sich auch ganz ohne Statistiken zuletzt beobachten ließ, ist, dass die Bayern nicht mehr so gut in ihr Angriffspressing kommen.
FC Bayern: Das Pressing ist zu harmlos
Auch gegen Celtic Glasgow war das wieder zu beobachten. Nach einer guten Anfangsphase der Münchner kamen die Gäste immer besser ins Spiel. Eine ihrer größten Chancen hatten sie in der 16. Minute. Vorausgegangen war eine längere Ballbesitzsequenz in der eigenen Hälfte.
Als Torhüter Kasper Schmeichel das Spiel auf einen seiner Innenverteidiger eröffnete, wurden die Probleme des FC Bayern besonders offensichtlich. Jamal Musiala trabte ihn nur an, auch Serge Gnabry kam mindestens zwei Sekunden zu spät, um den kurz danach in Ballbesitz kommenden Außenverteidiger unter Druck setzen zu können. Min-Jae Kim verfolgte seinen Gegenspieler bis an den gegnerischen Strafraum, verpasste den Ballgewinn aber ebenfalls und lief dann hinterher, als der sich für einen Rückpass freilief und auf den linken Flügel verlagerte.
Dort gingen Leon Goretzka, Harry Kane und Michael Olise eher halbherzig in die Zweikämpfe, brachten damit keinen Druck auf den Ball. Celtic konnte sich mit Leichtigkeit befreien und spielte schließlich einen langen Ball in eine Drei-gegen-drei-Situation, aus der eine Großchance entstand.
GettyWo ist die Intensität des FC Bayern hin?
Vincent Kompanys Spielstil lebt von Intensität. Normalerweise verteidigen die Münchner Mann-gegen-Mann, sind bei fast jedem Zuspiel sofort am Gegenspieler. Auch in der Hinrunde gab es Gegentore wie das 0:1 in Barcelona oder in Dortmund, wo einzelne Spieler es verpassten, den ballführenden Gegner unter Druck zu setzen.
Gegen Celtic waren es aber nicht nur einzelne Momente. Wie schon gegen Leverkusen griff das Pressing viel zu selten, in langen Phasen des Spiels sogar gar nicht. Einige der gefährlichsten Angriffe der Schotten entstanden, weil immer ein Spieler frei war und die Bayern damit beschäftigt waren, die Lücken irgendwie zu schließen.
Das wiederum führt dazu, dass der Laufaufwand deutlich höher wird. Es gibt weniger eigene Ballbesitzphasen, man muss mehr Sprints ansetzen und läuft hinterher, statt selbst das Tempo zu diktieren. Mit rund 2626 Kilometern haben die Bayern laut kicker in dieser Saison den fünfthöchsten Wert in der Bundesliga - das sind 119 Kilometer pro Spiel. Auch weil es oft zu lange dauert, bis man im Pressing zu Ballgewinnen kommt.
Dahingehend lohnt auch ein Blick auf den Kader. Gerade in der Achse des Teams gibt es Vielspieler, die nur wenige Pausen bekommen, weil sie qualitativ von niemandem im Kader auch nur annähernd ersetzt werden können oder weil es Verletzungen gab. Darunter Kimmich, Upamecano, Kim, Kane und Musiala.
Haben die Bayern also ein Fitnessproblem? Zahlen und der individuelle Eindruck deuten darauf hin. Die Lösung aber ist nicht so einfach, als dass die Einforderung nach einer weniger intensiven Spielweise oder tieferem Pressing Abhilfe schaffen würde. Denn gerade die defensiv sehr stabile Phase zwischen der Niederlage in Barcelona und der Niederlage in Mainz zeigt, dass es einen Zusammenhang gibt: Je erfolgreicher die Bayern hoch pressen, desto weniger lassen sie hinten zu. In der angesprochenen Periode lag der Durchschnitt der PPDA bei 7,7. Die öffentliche Meinung zur Defensive damals war nahezu einhellig: Kompany hat die Probleme in den Griff bekommen.
Getty ImagesFC Bayern: Thomas Müller fehlt jetzt schon
Die Frage ist also eher weniger, ob die Bayern hoch anlaufen oder tief am eigenen Sechzehner stehen, sondern wie sie in ihrem Anlaufverhalten wieder erfolgreicher werden. Und hier fehlt dem Rekordmeister schon länger ein Spieler wie Thomas Müller.
Gut, dass sie den ja im Kader haben, könnte man nun einwenden. Allerdings kann auch Thomas Müller das Müller-Problem nicht mehr lösen. Der Angreifer ist nicht mehr schnell genug, hat sowohl bei der Handlungsschnelligkeit als auch bei seinem generellen Tempo nochmal Tribut zahlen müssen. Deshalb dürfte er unter Kompany auch kaum mehr eine Rolle spielen.
Nur schaut man sich an, wie die Bayern zuletzt ihre Gegenspieler nahezu angetrabt sind, statt sie aggressiv anzulaufen, kommt der Gedanke an den früheren Müller zurück. Der war nicht nur im eigenen Anlaufverhalten einzigartig, sondern auch darin, gleichzeitig seine Mitspieler ständig zu coachen. Gerade während der Geisterspiele in der Corona-Zeit konnte man hören, wie viel Einfluss er nahm.
Müllers Bedeutung für das bayerische Spiel gegen den Ball war in etwa vergleichbar mit der Bedeutung, die Lionel Messi für das Spiel mit dem Ball beim FC Barcelona hatte. Er war der Anker- und Fixpunkt. Gerade in der Triple-Saison 2020 war Müller für Hansi Flick, der eine ähnliche Strategie gegen den Ball verfolgt hat wie nun Vincent Kompany, von unschätzbarem Wert.
FC Bayern auf der Suche nach Lösungen
Ein solcher Spieler wäre für den FC Bayern heute ebenfalls wichtig. Doch es gibt diesen Leader in der Offensive nicht mehr. Das kann gerade dann, wenn es mal nicht so läuft, den großen Unterschied machen.
Dass die Münchner es grundsätzlich besser können, zeigten sie in der Hinrunde - trotz ausbleibender Ergebnisse durchaus auch in den Heimspielen gegen Leverkusen, in der Anfangsphase in Barcelona, bei Aston Villa oder in Frankfurt. Und doch bleibt die Frage: Wer soll der künftige Müller werden? Der, der die Geschicke im Pressing in die Hand nehmen und kleine Dinge als verlängerter Arm des Trainers justieren und anpassen kann, um Zugriff auf die Partie zu bekommen, wenn der Gegner gut eingestellt ist.
Jamal Musiala ist ein anderer Typ und kann vor allem mit dem Ball zum Dreh- und Angelpunkt des Spiels reifen. Gegen den Ball aber ist das Loch, das Müller hinterlassen hat, riesig.

