Mit 20 Jahren stand Chris Smalling vor der bis dato schwierigsten Entscheidung seines Lebens. Der 1,92 Meter große Engländer hatte sich entschlossen, ein Wirtschaftsstudium aufzunehmen. Nur die Entscheidung über den Standort der Universität stand noch aus, als plötzlich das Angebot eines Fußballklubs die Pläne des Innenverteidigers durchkreuzte.
Dabei war eine mögliche Profikarriere als Fußballer als Option nie auf dem Radar des heutigen Nationalspielers aufgetaucht. Bis zu seinem 15. Lebensjahr galt seine volle Energie und Leidenschaft dem Judosport. Als Landesmeister in seiner Altersklasse betrieb der heute 26-Jährige die Sportart äußerst erfolgreich. Erst 2008 nahm der in seiner Jugend für Millwall kickende Defensiv-Spezialist das Angebot von Maidstone United, einem Amateur-Klub im Süden der Insel, an. Nicht ahnend, dass er nur zwei Jahre später in der Champions-League auflaufen sollte.
Ausgerechnet der heutige England-Coach Roy Hodgson war es, der die Karriere des Innenverteidigers wenig später ins Rollen brachte. 2009 holte der heutige englische Nationalcoach das Abwehrtalent zum FC Fulham in die Premier League, weil er Potenzial in dem Youngster erkannte. Beim Londoner Klub debütierte er gegen den FC Everton - und machte in der Folge physisch und taktisch unter Hodgson einen derart großen Sprung, dass seine Auftritte auch in Manchester nicht unbemerkt blieben und 2010 Sir Alex Ferguson auf den Plan riefen.
Von der Amateurliga in die Champions League
Für acht Millionen Euro Ablöse sicherten sich die Red Devils die Dienste des damaligen U21-Nationalspielers, der plötzlich Superstar Rio Ferdinand ersetzen sollte, obwohl er drei Jahre vorher noch vor einem Studium gestanden hatte.
Zunächst besetzte der heute 26-Jährige die Backup-Rolle für die Platzhirsche Rio Ferdinand und Nemanja Vidic. Aus dieser Rolle ist Smalling sechs Jahre später jedoch längst herausgewachsen und hat sich als wichtige Säule der United-Abwehr etabliert. Da störte es auch nicht, dass der Ex-Trainer Louis van Gaal ihn auf einer Pressekonferenz “Mike Smalling“ nannte.
In der letzten Saison unter dem Niederländer wies United mit 35 Gegentreffern die beste Abwehr der Premier League vor. Diese gute Gegentor-Bilanz geht auch auf das Konto Smallings, der als zweikampfstarker und passsicherer Antreiber die großen Fußstapfen, die ihm Ferdinand hinterließ, ausfüllen konnte.
Vom Skandal-Profi zum Leader ?
Dabei ging es nicht immer geradlinig voran. 2013 sorgte die Hodgson-Entdeckung mit einer makabren Verkleidungsaktion für einen Skandal, auf den sich die Yellow Press mit größtem Vergnügen stürzte. Im Look eines Selbstmordattentäters mit Sprengstoffgürtel und Bart besuchte Smalling eine private Feier. Ein kurz darauf folgender Nachtklubbesuch bescherte dem United-Star nicht nur eine weitere Schlagzeile, sondern auch eine Geldstrafe seines Vereins.
Drei Jahre später ist er jedoch gereift – auf und neben dem Platz. “Leute sagen, dass man aus seinen Fehlern lernt. Das hat er offensichtlich getan. Er ist besser in den Dingen geworden, die er zuvor nicht konnte“, sagte der ehemalige englische Nationalspieler Paul Konchesky. Und er hat Recht: Bei der EM in Frankreich präsentiert sich Smalling als wichtiger Leader des englischen Teams.
Starke Statistiken
2010 hatte Smalling erstmals im englischen Kader gestanden. Sechs Jahre später ist der Rechtsfuß aus der Defensive der Three Lions nicht mehr wegzudenken und konnte in der EM-Vorrunde mit einer konstant soliden Leistung überzeugen. Mit 29 klärenden Aktionen steht er in dieser Kategorie in den Top-3 der EM-Gruppenphase. Lediglich der Pole Kamil Glik (31) und der Türke Mehmet Topal (30) beförderten den Ball noch öfter aus der Gefahrenzone.
Mit einer überragenden Passquote von 90,8 Prozent in den vergangenen drei EM-Spielen schlägt er zudem nicht nur seinen Vereinswert der vergangenen Saison (83 Prozent), sondern stellt auch die starke Quote von Abwehr-Kollege Gary Cahill (86,6 Prozent) in den Schatten.
"Chance, der Leader zu werden"
Vom spielerischen Potenzial des 1,94-Meter-Mannes sind auch zahlreiche Kollegen überzeugt. So wählte Chelsea-Legende John Terry ihn in die Top-11 der Premier-League-Saison 2015/2016. Auch Ex-Nationalspieler und Smallings Vorgänger in Vereins- und Nationaltrikot Ferdinand ist sich der Qualitäten des 26-Jährigen bewusst und forderte gegenüber ESPN: “Er hat nun die Chance, der Leader der Viererkette zu werden.“
Die nächste Chance, diese Gelegenheit zu nutzen, hat Smalling schon bald. Im EM-Achtelfinale trifft England auf Außenseiter Island (Montag, 21 Uhr im LIVE-TICKER). Der Einzug in die Runde der letzten Acht ist für die Hodgson-Elf Pflicht und mit einer weiterhin stabilen Defensive auch wahrscheinlich.
Und selbst wenn die Three Lions gegen den Underdog die Segelstreichen müssten: Die Last-Minute-Entscheidung für den Fußball und gegen das Studium war nicht nur die schwierigste, sondern wohl auch die beste Entscheidung in Chris Smallings bisherigem Leben.