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Lucien Muller: Der unbekannte Halbdeutsche, der für Real Madrid und den FC Barcelona spielte


HINTERGRUND

Das Gebrüll der Masse schwoll zu einem infernalischen Gemisch an. Hier der Hass, die pure Abneigung der Männer mit Mantel und Schirmmütze, die dem FC Barcelona die Treue hielten. Dort bedingungslose Liebe der Männer mit Mantel und Schirmmütze, die Real Madrid unterstützen. El Clasico, schon damals, im Jahr 1963, ein Spektakel, das, auch politisch, jedes Mal aufs Neue ein Spiel darstellte, das viel mehr als nur ein Spiel war.

Über 80.000 drängten sich im Camp Nou. Offiziell. Inoffiziell dürften es weit mehr gewesen sein. Denn selbst bedingungslose Barca-Fans wollten ihn sehen, den inzwischen ein wenig alternden Superstar-Sturm der Königlichen, das Weiße Ballett mit Paco Gento, Ferenc Puskas, Amancio und allen voran Alfredo Di Stefano. Fünfmal in Folge hatten sie Real in den Fünfzigern zum Champions-League-Titel, damals noch Europapokal der Landesmeister, geschossen. Nun gaben sich die Hauptstädter, die den europäischen Fußball dominierten, die Ehre und waren zu Gast beim Siebten, dem damals noch nicht so mächtigen FC Barcelona.

Real Madrid: Muller überragte im Clasico

Und obwohl ihre Glanzzeit längst vorüber war, wirbelten sie wie in besten Tagen. Doppelpass, Doppelpass, Tor. Puskas, Puskas, Di Stefano, Gento, Puskas. 5:1 hieß es am Ende. Die Masse kochte, der Grund für den Hass war die Chancenlosigkeit des eigenen Teams gegen Real. Was selbst damals, als wenigstens sein Name noch ein Begriff war, die meisten übersahen: Hinter der Sturmreihe agierte mit beeindruckender Qualität ein schmales Bürschchen, acht Jahre jünger als Di Stefano.

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Mit ernstem Blick verteilte er Bälle, gab einen aus heutiger Sicht modernen Mix aus Spielmacher und Abräumer. Mit stoischer Ruhe erkannte er Räume, antizipierte und hielt beim atemberaubend rasanten Kombinationsspiel der Ikonen vor ihm so mühelos mit, dass es gar nicht auffiel, dass er eben keine der heute verklärten Legenden war, sondern einfach bloß Lucien Muller. Halbdeutscher, Halbfranzose, ein halbes Jahr vorher von Stade Reims nach Madrid gewechselt.

"Muller war der Motor von Real Madrid"

"Muller war der Motor des Teams, das seine beste Zeit hinter sich hatte", sagt Xavier Garcia Luque, Autor des Bestsellers El caso Di Stefano im Gespräch mit Goal. In gewisser Weise ermöglichte er mit seiner Spielintelligenz Größen wie Puskas ihre Freiheiten. Er hatte früher als Außenstürmer gespielt, spielte also sehr facettenreich. Kaum jemand konnte sich so gut anpassen wie er."

Zeitsprung ins Jahr 1965. Wieder Gebrüll, wieder Clasico. Obwohl beide Teams in der Liga strauchelten, war das Duell an jenem Dezembertag noch aufgeladener als sonst. Verbal hatten sich beide Teams vorher einige Scharmützel geliefert. Als das Team des FC Barcelona ins Estadio Santiago Bernabeu einlief, hagelte es Wurfgeschosse.

Anders als noch zwei Jahre vorher, dominierten dieses Mal die Blaugrana. Mit geradlinigem Passspiel zogen sie Real immer wieder auseinander, gewannen am Ende mit 3:1. Der Unterschied: Der schmale Muller trug dieses Mal das rot-blaue Trikot der Katalanen, war vier Monate vorher gewechselt.

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"Muller markierte in gewisser Weise eine Zäsur", sagt Garcia Luque. "Als erster Spieler wechselte er direkt von Real zu Barcelona und nahm nicht den anderen Weg. Das ist in sofern besonders, als dass es Symbol dafür war, dass Barca erstarkte und Real nicht mehr so übermächtig war wie zuvor." Und auch beim FCB nahm Muller eine dominante Rolle ein: "Er war für Barca noch wichtiger als für Real. Zwar waren große Spieler wie Kocsis, Fuste oder Barque seine Teamkollegen, er spielte aber etwas offensiver und trat auch öfter als Torschütze in Erscheinung."

Real und Barcelona: Muller mit bester Clasico-Bilanz überhaupt

Elf Clasicos hat er gespielt, sechs im Trikot von Real Madrid, fünf in dem Barcelonas, neun davon hat er gewonnen, nur einen einzigen verloren. Prozentual hat kein Spieler, der mindestens zehn Clasicos gespielt hat, eine besser Bilanz. Ein Zufall ist das nicht. Muller war einer der unterbewertetsten Spieler seiner Zeit. "Fußball im Fernsehen war eine Seltenheit. Nur wenige sahen die Spiele. In der Zeitung las man immer nur die Namen der zwei, drei Torjäger. Muller tauchte, wie so viele andere damals auch, nur in der Aufstellung auf, obwohl er der beste Mann gewesen war."

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Und so steht Lucien Muller heute in einer Reihe mit anderen, die für Real und Barca spielten, Ronaldo, Luis Figo, Michael Laudrup. Seinen Namen kennt dennoch niemand. Dabei wandelte er auf den Spuren einer echten Real-Legende, auf denen seines großen Landsmann Raymond Kopa, der mit den Königlichen fünf Titel gewann.

Mullers Vorbild: Real-Star Di Stefano

Doch von vorne: Geboren wurde Muller im elsässischen Bischweiler nur wenige Kilometer von der deutschen Grenze entfernt. Er genoss eine gute Bildung, seine Eltern hielten nicht viel vom grobschlächtigen Volkssport Fußball. Seine Mutter, eine Deutsche, schickte den jungen Lucien lieber zum Klavierspielen. Heimlich schmuggelte er seine Schuhe mit und rannte danach direkt zu seinen Freunden, mit denen er auf der Straße kickte.

Er zeigte großes Talent, schoss beim FC Bischweiler als Außenstürmer Tor um Tor. Sein großes Vorbild: ein junger Angreifer namens Alfredo Di Stefano. 1953, drei Jahre, bevor dem Real zum ersten Mal den Europapokal der Landesmeister gewann, schloss er sich dem FC Straßbourg an, einem damals unbedeutenden Profiklub. Dort spielte er als Rechtsaußen herausragend, schoss in einem Spiel gegen Stade Reims drei Tore.

Reims war damals das Nonplusultra des französischen Fußballs, verlor 1959 gegen Real Madrid das Finale um den Henkelpott. In jenem Jahr verpflichtete man Muller, der die Armada an Nationalspielern um Superstar Kopa vergrößerte. In seiner ersten Saison waren alle elf Stammspieler Nationalspieler, Trainer war Albert Batteux, der auch die Equipe Tricolore coachte. Muller erzielte 13 Tore, bereitete von den insgesamt 109 Toren eine ganze Reihe vor, Reims wurde mit großem Abstand Meister.

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1961 spielte die französische Nationalmannschaft in Madrid gegen Spanien. Diverse Stars der damaligen Zeit standen auf dem Platz. Zwar verlor Frankreich mit 0:2, beim Bankett nach der Partie in einem opulenten Ballsaal tippte ihn jemand an: Vor Muller stand der große Alfredo Di Stefano, sein Vorbild. "Er sah mich an und ich sagte zunächst kein Wort. 'Du hast klasse gespielt', meinte er dann. Ich starrte ihn weiter an. 'Warum kommst du nicht zu uns nach Madrid?' Ich hielt das Ganze für einen Scherz", erinnert sich Muller.

Doch die Ikone, von den Real-Fans im Jahr 2017 zum besten Real-Spieler aller Zeiten gewählt, meinte es ernst. Nach einem weiteren Jahr und einem weiteren Meistertitel mit Reims wechselte Muller im Jahr 1962 tatsächlich zu Real Madrid. "Bei Real trainierte der große Miguel Munoz, der insgesamt 14 Jahre dort Trainer war", sagt Garcia Luque. "Er bat vor dem Wechsel Raymond Kopa, der nach seiner Zeit in Spanien zu Reims zurückgekehrt war, um Rat. Raymond sagte: 'Das müsst ihr machen! Lucien ist unglaublich."

Wechsel von Real Madrid zum FC Barcelona

Munoz funktionierte Muller endgültig zum Mittelläufer um, wo er das Spektakel von Di Stefano, Puskas und Gento nicht nur absicherte, sondern sogar mitinitiierte. Als Motor und ABS eines 300-PS-Luxusvehikels, sozusagen. Dreimal in Folge gewann er den Meistertitel. Bitter: 1964 verlor Real gegen Helenio Herreras Inter Mailand um Suarez und Mazzola in Wien das Finale des Europapokals.

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Es folgte das Jahr 1965, Real plante einen gewaltigen Umbruch. Barcelona trat an Muller heran, er wusste um die Rivalität, sah in Katalonien aber eine größere Perspektive. "Ich unterschrieb sofort", sagt Muller. "Di Stefano hatte den Verein verlassen, sportlich lief es nicht mehr so gut wie in den Jahren zuvor."

Bessere Clasico-Bilanz als Messi und Ronaldo

Drei Jahre spielte der so feine Mittelfeldspieler für Barca, gewann den spanischen Pokal und den Messestädte-Pokal. "In Barcelona fühlte er sich sehr wohl. Er konnte die Sprache deutlich besser und kehrte nach Spanien zurück, nachdem er 1970 bei Reims seine Karriere beendet hatte", sagt Garcia Luque.

Jahrelang arbeitete er als Trainer, auch eine Saison lang für den FC Barcelona. 1990 zog er sich dann zurück, heute lebt er wieder im Elsass, wo Goal ihn trotz mehrerer Kontaktversuche nicht erreichte. Er ist 83 Jahre alt, ein alter Mann, dessen Namen heute fast niemand mehr kennt. Dabei hat er Clasico-Geschichte geschrieben.

Zum Vergleich: Figo, der große Superstar, der für Barca und Real spielte, absolvierte 25 Clasicos und gewann nur zehn. Ronaldo gewann von zwölf fünf. Und selbst Lionel Messi verließ nur bei 17 von 37 Clasicos den Rasen als Sieger, Ronaldo bei acht von 29. Muller dagegen, jener stille Motor, hat mit die beste Bilanz im spanischen Spiel der Spiele. Denn noch beeindruckender als seine neun Siege ist sein Clasico-Torverhältnis: 26:8. Und wieder: Ein Zufall ist das nicht.
 

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