Lionel Messi Copa America retirement GFX

"Er weinte wie ein Baby, das seine Mutter verloren hat": Als Lionel Messi in einer denkwürdigen Nacht aus Argentiniens Nationalmannschaft zurücktrat

"Ich denke im Moment darüber nach, dass ich nicht mehr für die Nationalmannschaft spielen werde."

Worte, die die Fußballwelt im Jahr 2016 in ihren Grundfesten erschütterten. Lionel Messi - der beste Spieler der Welt - war nach dem Schlusspfiff eines dramatischen Endspiels fassungs- und sprachlos. Das Finale der Copa América, Argentiniens zweites in den letzten beiden Jahren, war der Albiceleste wieder einmal entglitten.

"Ich habe mein Bestes gegeben", sagte ein niedergeschlagener Messi. "Es waren jetzt vier Endspiele, ich habe es nicht geschafft, eines davon zu gewinnen. Ich habe alles Mögliche versucht. Es schmerzt mich mehr als alle anderen, aber es ist offensichtlich, dass dies nichts für mich ist. Ich wünsche mir mehr als jeder andere, mit der Nationalmannschaft einen Titel zu gewinnen, aber leider hat es nicht geklappt."

Das Finale der WM 2014, drei Endspiele der Copa América - das dritte war jener schreckliche Abend im MetLife Stadium im Juni 2016, als man im Elfmeterschießen gegen Chile verlor - lasteten schwer auf dem damals 29-Jährigen. Der Stürmer wurde von ungläubigen Journalisten zur Sicherheit ein letztes Mal gefragt, ob er jemals wieder das Wappen der Albiceleste tragen werde.

"Ich glaube nicht", antwortete er mit Tränen im Gesicht. "Ich habe darüber nachgedacht. Wie ich schon sagte, habe ich alles versucht, um zu gewinnen. Und das war's. Es sind vier verlorene Endspiele."

Verzweifelt wegen seiner Leistung hatte Messi die Welt - und anscheinend auch sich selbst - davon überzeugt, dass er fertig war. Er würde sein Land nicht mehr auf der internationalen Bühne vertreten.

Gänsehaut stellte sich ein. Die Welt las und sah zu, wie der damalige Superstar des FC Barcelona einen unvergesslichen Moment der Verletzlichkeit zum Ausdruck brachte.

Jetzt, ziemlich genau acht Jahre nach diesem Moment, führt der Angreifer von Inter Miami die Albiceleste wieder als Kapitän bei einer Südamerikameisterschaft an. Argentinien ist Top-Favorit auf den Gewinn des Titels, in der Nacht zum Freitag steht nach perfekter Vorrunde (drei Spiele, drei Siege 5:0 Tore) das Viertelfinale gegen Ecuador auf dem Programm.

Nach der Episode aus dem Sommer von vor acht Jahren könnte nun alles ganz anders sein. Was wäre, wenn sich Messi wirklich dazu entschieden hätte, 2016 zurückzutreten? Mindestens zwei Monate lang waren die Fans rund um den Globus überzeugt davon, dass er genau das getan hatte.

GOAL blickt zurück auf jene Nacht und fragt: Was zur Hölle ist nach dem Copa-América-Finale im MetLife Stadium wirklich passiert?

  • Argentiniens Durststrecke beginnt gegen Brasilien

    Spulen wir erstmal zurück ins Jahr 2007, als ein 20-jähriger Messi der angehende Star des Weltfußballs war und in Barcelona an der Seite von Thierry Henry, Samuel Eto'o, Yaya Touré, Deco, Xavi und Andrés Iniesta wirbelte.

    Er entwickelte sich in Katalonien zu einem Stürmer von internationalem Format und hatte auch schon zwei Jahre Erfahrung mit der Nationalmannschaft gesammelt.

    Ein Jahr zuvor war er Teil des Teams, das im Viertelfinale der WM 2006 im Viertelfinale im Elfmeterschießen gegen Deutschland ausgeschieden war. 2007 sollte also die Wiedergutmachung für Argentinien und Messi bringen, denn er gab sein Debüt bei der Copa América und wollte sein Land zu seinem ersten internationalen Titel führen.

    Zunächst lief es großartig. Messi schoss ein Tor und gab zwei Vorlagen auf dem Weg ins Finale. Argentinien strotzte vor Selbstvertrauen und ging zuversichtlich in das mit Spannung erwartete Duell mit dem Erzrivalen Brasilien.

    Der Optimismus hielt aber nicht lange. Die Seleção dominierte den ungeliebten Nachbarn mit 3:0, Messi kassierte seine erste Finalpleite, die Dürre begann.

    In den neun Jahren bis zu dem Moment, an dem er seinen Rücktritt erklärte, führte Messi seine Nationalmannschaft zu drei Copa-América-Endspielen, die sie allesamt verlor: 2007 gegen Brasilien, 2015 und 2016 jeweils gegen Chile.

    Zu allem Überfluss setzte es 2014 im Endspiel der WM nach Verlängerung die knappe Pleite gegen Deutschland. Das nicht gewonnene Finale zwei Jahre später schien Messi endgültig gebrochen zu haben.

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  • Lionel Messi Copa America 2016Getty Images

    Denkwürdige Nacht im MetLife

    Messi hatte seine Rolle in den drei vorangegangenen Endspielen ohne einen echten Makel gespielt, viel musste er sich bei den Misserfolgen nicht vorwerfen lassen. 2016 aber war das anders.

    Das Finale gegen Chile entwickelte sich zu einer Schlacht. Beide Mannschaften kassierten noch vor der Pause jeweils einen Platzverweis: Chiles Marcelo Diaz wurde nach 28 Minuten vom Platz gestellt, Argentiniens Marcos Rojo nur 15 Minuten später. Der von den Defensivreihen dominierte Abnutzungskampf endete nach 120 Minuten mit einer Nullnummer.

    Zum zweiten Mal in Folge musste das Elfmeterschießen zwischen diesen beiden Teams über den Titelträger entscheiden. Ein Jahr zuvor hatte Messi seinen Elfmeter verwandelt, doch sein gesamtes Team ließ ihn im Stich: Kein anderer Argentinien netzte vom Punkt und Chile gewann mit 4:1.

    Auch diesmal trat Messi im Elfmeterschießen als Erster für sein Land an. Als Anführer, Kapitän und bester Schütze wollte er vorangehen und war psychologisch im Vorteil, weil Arturo Vidal zum Auftakt für die Chilenen vergeben hatte.

    Messi trat an. Messi schoss. Messi setzte die Kugel weit über den Querbalken.

    Die Kamera schwenkte zu den Fans im Publikum, die sprachlos waren, die Kinnladen heruntergefallen, die Hände auf dem Kopf. Und dann auf Messi selbst, Verzweiflung pur. Er zerrte mit gesenktem Kopf am unteren Rand seines Trikots und warf frustriert die Fäuste in die Luft. Das Unglück nahm wieder seinen Lauf und Chile siegte mit 4:2.

  • Argentina Copa America 2016Getty Images

    Ein Abend, für den einem die Worte fehlen

    Obwohl er damals erst 29 Jahre alt war, waren Messis Träume geplatzt. Sein langjähriger Freund und Mannschaftskamerad Sergio Agüero schilderte, was nach dem Schlusspfiff in der Umkleide geschah.

    Der damalige Man-City-Torjäger sagte: "Einige in der Kabine sehen fürchterlich aus: Ich glaube nicht, dass sie in der Nationalelf weitermachen werden. Wenn man darüber nachdenkt, mag es gut für die Mannschaft sein, anderen Spielern Chancen zu geben. Leider ist Leo derjenige, der am meisten leidet, wegen des Elfmeters. So schlimm habe ich ihn noch nie in der Umkleidekabine gesehen."

    "Wir sind getroffen wegen Messi - es gibt keine Erklärung für das, was mit ihm passiert ist", so Agüero weiter: "Er hat alles versucht, um den Titel für uns zu holen. Ich weiß wirklich nicht, wie ich die Niederlage erklären soll. Ich habe keine Ahnung, was die anderen Spieler denken, aber so etwas wie heute habe ich noch nie erlebt."

    Elvio Paolorosso war damals Fitnesstrainer Argentiniens. Er erzählte später bei ESPN, dass er Messi nach dem Spiel unkontrolliert schluchzend vorfand. "Die Szene in der Umkleidekabine nach der Copa América war sehr schmerzhaft, aber das Schlimmste kam danach. Gegen zwei Uhr morgens fand ich Leo allein vor seinem Spind, ganz allein, er weinte wie ein Baby, das seine Mutter verloren hat. Er kauerte dort, und niemand konnte ihn trösten. Also habe ich einfach meinen Arm um ihn gelegt und wir beide haben zusammen geweint."

    In den folgenden zwei Monaten waren die Albiceleste, ihre Anhänger und Fußballfans auf der ganzen Welt gleichermaßen verzweifelt.

  • No Te Vayas Lionel MessiGetty Images

    No te vayas, Leo

    Banner in ganz Argentinien, Hashtags bei Social Media, Fans auf den Straßen, Plakate bei den Spielen - eine Bewegung hatte begonnen, die von einem einzigen Satz bestimmt wurde: "No te vayas, Leo". Geh nicht weg, Leo.

    Messis Fans flehten das Aushängeschild ihrer Mannschaft an, doch bitte seine Meinung zu ändern. Wochenlang gab es wilde Spekulationen darüber, wie es mit dem mehrfachen Weltfußballer weitergehen würde.

  • Lionel Messi Copa America 2016Getty Images

    Die Kehrtwende

    Im September, vor zwei argentinischen WM-Qualifikationsspielen, ließ Messi erneut aufhorchen.

    "In der Nacht des Endspiels gingen mir viele Dinge durch den Kopf, und ich habe ernsthaft darüber nachgedacht, aufzuhören. Aber meine Liebe zu meinem Land und zu diesem Trikot ist zu groß", sagte Argentiniens Rekordtorschütze in einer Erklärung. "Ich will keinen Schaden anrichten, im Gegenteil, mein Ziel war es, auf jede erdenkliche Weise zu helfen."

    Wie er helfen wollte? "Es gibt viele Dinge, die im argentinischen Fußball in Ordnung gebracht werden müssen. Aber ich ziehe es vor, von innen zu helfen, anstatt außen zu stehen und zu kritisieren. Ich möchte mich bei allen Fans bedanken, die wollten, dass ich weiter für Argentinien spiele. Ich hoffe, dass wir ihnen sehr bald eine Freude machen können."

    Die bemerkenswerte Kehrtwende war vollzogen. Fünf Jahre musste er anschließend warten, ehe er belohnt wurde.

  • Lionel Messi Copa America 2021 trophy ArgentinaGetty

    Eine Rückkehr zum Ruhm

    Wieder spielte die Copa América Schicksal. 2021 beendeten Messi und seine Argentinier eine mittlerweile 28 Jahre andauernde Durststrecke mit einem 1:0-Sieg gegen Titelverteidiger Brasilien im berühmten Maracanã.

    Dank vier Toren und fünf Assists wurde Messi zum besten Spieler des Turniers gekürt, sein langjähriger Weggefährte Ángel Di María war mit dem Treffer im Finale der Matchwinner.

    Der Fluch, der auf der Albiceleste zu liegen schien, war bezwungen. Die Mannschaft tankte Selbstvertrauen und war mit dem Glauben ausgestattet, der schließlich 2022 bei der WM in Katar den Triumph ermöglichte.

  • Lionel Messi Argentina 2023Getty

    Nächster Eintrag in die Geschichtsbücher

    Heute ist die Stimmung in Argentinien und bei Messi so gut wie nie zuvor.

    Der 37-Jährige ist mittlerweile offiziell der König der Copa América - zumindest was die Anzahl der Auftritte angeht. Beim Auftakt gegen Kanada (2:0) absolvierte er seinen 35. Einsatz bei einer Endrunde und überholte damit Chiles Ex-Torhüter Sergio Livingston. Die Fans hoffen, dass Nummer 36 nun gegen Ecuador folgt, nachdem der Routinier zuletzt wegen einer Blessur pausieren musste.

    Wie es anschließend weitergeht, ist ungewiss. Vor geraumer Zeit schloss Messi noch eine Teilnahme an der Weltmeisterschaft 2026 aus. Mittlerweile äußert er sich defensiver und macht dies von seiner körperlichen Verfassung und seinem Leistungsvermögen im hohen Fußballeralter abhängig.

    Ist die Copa also der Last Dance? Oder doch nur der Last Dance vor dem Last Dance in zwei Jahren?

    So oder so, Argentinien und Fans in aller Welt dürfen sich glücklich schätzen, dass es nach jener verhängnisvollen Nacht im Jahr 2016 noch eine Kehrtwende gab.

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