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Mit der Lizenz zum Foulen: Als Chelseas Andre Villas-Boas den jungen Messi im Scout Report analysierte


HINTERGRUND

Als Marcel Sabitzer in diesem Jahr von RB Leipzig zum FC Bayern wechselte, war der Aufschrei unter denjenigen, die es nicht mit dem Rekordmeister halten, groß. Als er dann auch noch sagte, er habe den Scouts in der Videoabteilung "natürlich" taktische Informationen über seinen Ex-Verein mitgeteilt, wurde er sogar noch ein wenig größer. War Sabitzer ein durchtriebener Verräter, der den eh schon übermächtig erscheinenden Bayern die streng geheimen Schwächen von RB auf dem Silbertablett servierte?

Wohl kaum. Dass es überhaupt Scouts in einer Videoabteilung gibt, impliziert es bereits: Sabitzer hat den Bayern-Mitarbeitern wohl ledigilich noch Details verraten können, den Rest haben die Menschen, die dafür bezahlt werden, längst selbst beobachtet und analysiert. Wer glaubt, dass sich ein Team - egal, wie groß es auch sei - nur auf eigene Stärken verlässt und kommende Gegner nicht bis ins kleinste Detail auf Stärken und Schwächen studiert, der hat wohl auch noch nie von einem ganz klassischen Scout Report gehört, der auch im höheren Amateurbereich längst gang und gäbe ist.

Je höher das Niveau, umso penibler ein solcher Report. Und so verwundert es nicht, dass auch der FC Chelsea in der Champions-League-Saison 2005/06 seinen Achtelfinal-Gegner FC Barcelona sehr genau beobachten ließ. Was später durch einen Leak den Weg in die Öffentlichkeit fand, ist pures Gold für all diejenigen, die heute nostalgisch an die damals wohl beste Mannschaft des Planeten zurückdenken wollen.

FC Chelsea: Geleakter Scout Report über Barca-Spieler wie Messi, Puyol, Iniesta und Ronaldinho

In dem Report, für den Chelsea-Trainer Mourinho explizit nicht verantwortlich sein will und der daher wohl aus der Feder von Co-Trainer Andre Villas-Boas stammt, finden sich Aufzeichnungen über Barca-Legenden wir Carles Puyol, Ronaldinho - und einen gewissen Lionel Messi. Der damals 18-jährige Argentinier sollte im Hinspiel an der Stamford Bridge erstmals einen britischen Rasen betreten, viele wussten dementsprechend nicht, dass dieser schmächtige junge Mann einmal von vielen als bester Fußballer aller Zeiten tituliert werden sollte.

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Was Chelseas Scout Report aber noch interessanter macht, ist die Tatsache, dass es nicht nur um Stärken und Schwächen einzelner Spieler ging, sondern auch um daraus abgeleitete Handlungsweisen für die eigenen Akteure. Bezüglich Puyol, den der Report als "aggressiv, aber sehr emotional" beschreibt, rät der Verfasser den Chelsea-Profis beispielsweise, "Kontakte im letzten Drittel oder um den Strafraum herum" zu provozieren. Die Stärken des Innenverteidigers seien demnach Kopfballspiel und Stärke, er sei aber "schlecht" im Positionsspiel und führe - wie man mithilfe von misslungenen Abseitsfallen feststellen könne - die Defensive schlecht an.

Andres Iniesta, damals noch ein junger, aufstrebender Mittelfeldspieler, wird vom Autor des Berichts hingegen durchweg gelobt: "Kommt immer von der Bank. Sehr dynamischer Spieler. Großer Aktionsradius. Schnelle Bewegungen und schnelle Ausführung. Trickreicher Spieler." Fans des Spaniers, der sein Land 2010 zum WM-Titel schoss, können diese Beschreibung wohl gerade als Prophezeiung hinsichtlich Iniestas Zukunft betrachten.

Report von Villas-Boas: Ronaldinho ein "Schummler"

Spannend, weil eben nicht durchweg positiv, sind die Ausführungen über den damaligen Weltfußballer Ronaldinho. Sein Offensivspiel wird im Bericht - wie könnte es anders sein - als große Gefahr für die Chelsea-Abwehr beschrieben: "Technische Qualität, Verteidigern mit der ersten Ballberührung auszuweichen. Wenn er Platz hat, attackiert er Außenverteidiger im Eins-gegen-Eins (nach innen, um zu schießen oder nach außen, um zu flanken). Viel gefährlicher, wenn er sich in der Mitte Platz verschafft und einen Innenverteidiger herauszieht, dann spielt er tödliche Pässe auf Messi, Eto'o oder aufrückende Mittelfeldspieler." 

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Der Brasilianer habe aber große Defizite im Defensivspiel, so der Scout Report: "Sehr schwaches defensives Umschaltspiel und schwache defensive Arbeitsrate - dies nutzen." Und den letzten Satz über Ronaldinho werden seine zahlreichen Fans gar nicht gern lesen: "Konstanter Schummler - fällt sehr leicht." Im Klartext: Der Autor - vermutlich Villas-Boas - bezeichnete den Weltfußballer hier mehr oder weniger als unfairen Schwalbenkönig. 

Zuletzte behandelt der Bericht die offensiven Samuel Eto'o ("trickreich auf engstem Raum") und eben den jungen Messi. Bezüglich des Argentiniers gibt es klare Anweisungen, denn Messi habe viel "Qualität und Geschwindigkeit", obwohl er auffällig stark nur den linken Fuß nutze. Seine Verhaltensweise seien laut Chelsea-Report "exakt dieselben wie bei Ronaldinho", der 18-Jährige sei daher oft "zwischen den Linien und diagonal" anspielbar. Besonders gefährlich: "Ermutigt das Team, den Ball nach vorn zu treiben. Unglaublich im Eins-gegen-Eins." 

Chelsea vs. Barcelona: Lizenz zum Foulen gegen Messi

Was also sollten die Verteidiger der Blues gegen diese Qualitäten ausrichten? Der Verfasser hat einen Vorschlag parat: "Wenn es eine Möglichkeit gibt, ihn zu foulen, dann ist es wichtig, das außerhalb des Strafraums und so früh wie möglich zu tun." Die Anweisungen waren also klar: Wenn es nicht anders geht, greift zu unfairen Mitteln, ihr habt die Lizenz zum Foulen. Wenn man sich anschließende Szenen der Partien zwischen Barca und Chelsea anschaut, kann man zu dem Schluss kommen, dass die Abwehr der Londoner bei der Gegneranalyse gut aufgepasst haben muss.

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Abschließend bleibt angesichts all dieser theoretischen Vorbereitung nur noch die Frage: Hat dem FC Chelsea und seinem Co-Trainer Villas-Boas diese eingehende Analyse genutzt? Wenn man sich das Gesamtresultat ansieht, wohl eher nicht. Barca gewann das Hinspiel an der Stamford Bridge mit 2:1, Messi wirbelte trotz diverser Fouls ein ums andere Mal durch die Blues-Defensive. Das Rückspiel im Camp Nou endete 1:1 und die Katalanen gewannen am Ende der Kampagne schlussendlich auch den Henkelpott.

Was wiederum nur eins bedeutet: Wenn es um Spieler wie Messi oder Ronaldinho geht, ist es essentiell, sich genau vorzubereiten. Keine Frage. Doch Spieler diesen Kalibers bleiben wegen genau einer Sache für immer in den Geschichtsbüchern des Sports: dass sie eben nicht zu hundert Prozent ausrechenbar waren und sind. So war es auch an jenem Abend.

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