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Mersad Selimbegovic von Jahn Regensburg im Interview: "Sie wissen gar nicht, zu was Sie im Krieg imstande sind"

Mersad Selimbegovic ist seit 2006 bei Jahn Regensburg und hat als Cheftrainer gute Chancen, dem Klub zum dritten Mal in Folge den Klassenerhalt in der 2. Liga zu sichern. Der 39-Jährige hat als Flüchtlingskind im Bosnienkrieg der 1990er-Jahre eine bewegende Geschichte zu erzählen.

Im Interview mit GOAL und SPOX spricht Selimbegovic ausführlich über seine monatelange Flucht in Bosnien und berichtet dabei von Granatenangriffen sowie Schüssen auf seine Familie und ihn.

Der ehemalige Innenverteidiger erzählt zudem von Plünderungen, dem Schicksal seines Vaters und erläutert seine Sicht auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine.

Herr Selimbegovic, Sie sind 2006 mit 24 Jahren vom FK Zeljeznicar Sarajevo aus Ihrer Heimat Bosnien-Herzegowina zum Jahn gekommen - weil Aldiana, Ihre heutige Frau, damals in Passau lebte und Sie in ihre Nähe wollten. 16 Jahre später sind Sie noch immer in Regensburg. Dabei soll Sie einst ein Zufall dorthin geführt haben.

Mersad Selimbegovic: Das stimmt. Mein damaliger Berater war im Winter in Antalya im selben Hotel wie der Jahn, der dort sein Trainingslager abhielt. Er traf den Regensburger Torwarttrainer, der auch aus Bosnien kam. Dem sagte er, dass er einen guten Spieler hat, der nicht mehr in Ost-Europa, sondern in Deutschland oder Österreich spielen möchte.

Und das war's schon?

Selimbegovic: Mein Berater rief mich wenig später an und fragte: Wo wohnt deine Frau nochmal genau? Ich antwortete: in Passau. Und dann hörte ich im Hintergrund, wie jemand überrascht hineinrief: Das ist ja nur 100 Kilometer von uns entfernt! So kam letztlich der Kontakt zum Jahn und am Ende auch der Transfer zustande.

War es keine Option, dass Sie dort bleiben und Ihre Frau nach Sarajevo kommt?

Selimbegovic: Theoretisch schon. Ich hatte aber keine Lust mehr, jede Saison meinem Geld nachzulaufen und nur sieben von zwölf Gehältern zu bekommen. Wobei ich beim Jahn dahingehend anfangs auch kein Glück hatte: Die ersten zwei Gehälter sind gekommen, die nächsten vier nicht. (lacht)

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Als Sie zum Jahn kamen, war der gerade in die Bayernliga abgestiegen. Sie wurden als Innenverteidiger sofort Stammspieler und trugen zum Wiederaufstieg in die Regionalliga bei. Allerdings plagten Sie in der Folge immer wieder Verletzungen. Was gab den Ausschlag, dass Sie schließlich 2012 mit 30 dazu gezwungen waren, Ihre Karriere zu beenden?

Selimbegovic: Ein gravierender Unterschied meiner Beinlänge. Mein rechtes Bein ist 1,5 Zentimeter kürzer als das linke. Das wurde erst kurz vor meinem Karriereende durch Doktor Müller-Wohlfahrt festgestellt. Ich merke das nicht beim Laufen, aber damit ist ein Beckenschiefstand vorprogrammiert. Der wiederum führt zu Überdehnungen der Muskeln und bei maximaler Belastung zu Faserverletzungen. Als ich dann in einem Training über einen Mitspieler fiel und mir mein Iliosakralgelenk zertrümmerte, war der Haarriss groß genug, dass alle damit zusammenhängenden Nerven falsche Signale sendeten.

Unmittelbar danach wurden Sie Co-Trainer der U23 und blieben das für vier Jahre. Parallel dazu begannen Sie eine Ausbildung zum Industriemechaniker. Was war damals Ihr Plan für die Karriere nach der Karriere?

Selimbegovic: Ich hatte zunächst keinen richtigen Plan. Die ständigen Comeback-Versuche hatten mich mental ausgelaugt, so dass ich trotz des Angebots auf Vertragsverlängerung einen Strich unter die Karriere und etwas Neues machen wollte. Der Verein bot mir daraufhin an, es einmal bei der U23 zu probieren. Das reichte finanziell aber nicht aus, so dass ich diese Umschulung begann.

Und wieso Industriemechaniker?

Selimbegovic: Weil das der Beruf meines Vaters ist. Ich habe das dual über zwei Jahre und vier Monate gemacht: Eineinhalb Tage pro Woche war ich in der Schule, dreieinhalb im Betrieb, jeden Tag stand ich um 4.20 Uhr auf. Dazu war viermal Training plus das Spiel am Wochenende. Ich kam meist erst um 22 Uhr nach Hause. Und 2013 kaufte ich mir ein Haus, dass ich nebenbei selbst kernsaniert habe. In diesem Jahr begann ich auch mit den Trainerscheinen, blockweise für je sieben Tage in Bosnien. Anfangs musste man mich dazu drängen, da ich dachte, dass ich das als Ex-Profi schon irgendwie hinkriegen würde. (lacht)

2016 übernahmen Sie für eine Saison die U19, danach waren Sie zwei Jahre lang Co-Trainer der Profis. Was ist aus dem Industriemechaniker Selimbegovic geworden?

Selimbegovic: Den gibt's noch. Wobei meine Frau nicht begeistert ist, wenn ich Reperaturen in unserem Haus vornehme. (lacht) Mein Betrieb gab mir damals einen unbefristeten Vertrag, den ich nach eineinhalb Jahren aufgeben musste, als ich das Angebot als Co-Trainer bekam. Ich bin aber sehr stolz darauf, diese Ausbildung abgeschlossen zu haben. Ich hatte zuvor mit der Industrie nichts am Hut, hinzu kam diese mir fremde Fachsprache. All das half mir, das Leben noch einmal von einer anderen Seite kennenzulernen, so dass ich die Zeit im Fußball mehr zu schätzen lernte.

Selimbegovic: "Ist nicht so, dass ich keine Ambitionen habe"

Mittlerweile absolvieren Sie Ihre dritte Saison als Cheftrainer des Jahn und werden ein drittes Mal in Folge den Klassenerhalt sichern. Ihr Vertrag läuft bis 2023. Was müsste passieren, damit Sie Regensburg den Rücken kehren?

Selimbegovic: Ich habe nie gedacht, dass ich einmal Profitrainer werde. Das hat sich einfach so entwickelt. Es hat mir und den Spielern gefallen, man gab mir immer größere Verantwortung. Mittlerweile ist alles so intensiv, dass es vielleicht schwer zu glauben ist, ich mir aber nie Gedanken über ein Ende in Regensburg gemacht habe. Mir gefällt's hier und ich hoffe, dass ich noch lange bleiben kann.

Wie groß ist Ihr Ehrgeiz, als Trainer eines Tages einmal in der Bundesliga oder mit größeren Mitteln zu arbeiten als in Regensburg?

Selimbegovic: Ich bin kein Träumer, aber es ist auch nicht so, dass ich keine Ambitionen habe. Manchmal wird gesagt, dass ich hier nach drei Jahren nicht mehr viel erreichen kann. Das sehe ich komplett anders, denn das, was wir hier machen, ist jedes Jahr eine riesige Herausforderung. Jahn Regensburg ist noch kein etablierter Zweitligist, der zu Saisonbeginn weiß, dass er den Klassenerhalt schaffen wird. Ich weiß aber auch, dass im Fußball nur eines sicher ist: dass nichts sicher ist. Ich habe in meinem Leben schon viele Dinge in alle verschiedenen Richtungen erlebt und kann daher einschätzen, wie schnell sich die Gegenwart verändern kann.

Auf brutale Art und Weise hat sich bei Ihnen die Gegenwart verändert, als Sie zehn Jahre alt waren und im Bosnienkrieg der 1990er Jahre zum Flüchtlingskind wurden. Wie ergeht es Ihnen in diesen Tagen, wenn Sie die Bilder vom russischen Angriffskrieg in der Ukraine sehen?

Selimbegovic: Wahrscheinlich noch etwas schlechter als vielen anderen. Die meisten sehen nur die schrecklichen Bilder, verbinden damit aber keine echten Gefühle. Bei mir ist das anders, die Bilder von damals kommen sofort wieder hoch. Es macht mich sehr traurig zu sehen, dass Menschen einfach nicht lernen und schnell vergessen. Ich bekomme natürlich mit, was dort passiert, aber ich versuche auch zum Eigenschutz, nicht zu viele Nachrichten zu konsumieren.

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Viele Menschen sind auch deshalb schockiert, weil der Krieg so nah ist. Wie blicken Sie derzeit auf die Rezeption des Krieges vor allem in Westeuropa?

Selimbegovic: Es ist leider so, dass es ständig Kriege gibt. Doch wenn sie weiter entfernt sind, sind sie meist nicht unsere Sache. Aber: Es gibt keinen besseren oder schlechteren Krieg. Krieg ist kein Computerspiel, das man noch einmal neu starten kann. Wer einmal stirbt, was einmal zerstört ist, das lässt sich nicht mehr ändern. Das ist etwas, was viele komplett unterschätzen. Ich bin etwas gespalten, ob die Menschen wirklich begreifen, was gerade passiert und wie schnell sich das auch verbreiten kann. Die Ukrainer dachten zwei Wochen vor dem Einmarsch nicht, dass es sie treffen würde. Uns ging es in Bosnien zwei Tage vor dem Angriff genauso. Deshalb ist jede diplomatische Anstrengung wertvoll und keine zu viel. Das darf unter keinen Umständen ein größeres Ausmaß annehmen.

Ende April werden Sie 40 Jahre alt, im Juni liegt die Flucht aus Ihrem Heimatort nahe der Kleinstadt Rogatica östlich von Sarajevo 30 Jahre zurück. Wie weit weg fühlt sich das für Sie an?

Selimbegovic: Ich finde es wirklich verrückt, dass 30 Jahre vergangen sind. Ich habe noch so viele Bilder in mir, dass es mir vorkommt, als wäre es gestern passiert. Ich habe auch als Fußballer vieles erlebt, aber nichts kommt so schnell und so klar hoch wie die Zeit der Flucht. Das wird auch mein Leben lang so bleiben. Es prägt dich einfach, du kannst es nicht verdrängen. Wichtig ist, es zu verarbeiten und gut zu kanalisieren. Ich kenne viele, denen das nicht gelungen ist und die heute noch sehr stark damit zu kämpfen haben.

Sie haben einmal gesagt, der Fußball habe Ihnen geholfen, das Geschehene schneller zu verarbeiten. Wie sind Sie darüber hinaus vorgegangen, haben Sie sich Hilfe geholt?

Selimbegovic: Während des Kriegs bist du einzig und allein damit beschäftigt, zu überleben. Man verschiebt seine Grenzen extrem. Sie wissen gar nicht, zu was Sie in einer solchen Lage imstande sind. Als der Krieg vorüber war, überwog die Freude am Leben. Schule, Fußball, Freunde - es lagen so viele Dinge vor mir, die ich verpasst habe und aufholen musste. Ich habe jahrelang kein Fernsehen gehabt, mir fehlt die WM 1994 zum Beispiel komplett. Dadurch hatte ich kaum Zeit darüber nachzudenken, wie es mir wirklich geht. Es ist auch Typ-Sache, ich war stets sehr lebensfroh. Ich erinnere mich, dass es Momente gab, da haben wir uns stundenlang vor den Granatenangriffen versteckt und als sie aufhörten, lachten wir zwei Minuten später wieder. So verrückt das auch klingen mag.

Ist es unmöglich, die schlimmen Bilder gänzlich aus dem Kopf zu löschen?

Selimbegovic: Ich will das nicht verdrängen. Man darf vor bestimmten Sachen nicht weglaufen, sondern muss sich ihnen stellen. In mir stecken keine Rachegelüste, sondern ich rede gerne darüber. Mir hat das dabei geholfen, zu der Person zu werden, die ich heute bin. Ich schätze das Leben und den Frieden, respektiere meine Mitmenschen und sehe alles, was wir haben, nicht als selbstverständlich an.

Wie blicken Sie hinsichtlich Eigen- und Selbstständigkeit auf die heutige Generation an Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die Sie ja auch trainieren, wenn Sie bedenken, dass Sie in diesem Alter um Ihr Überleben kämpfen mussten?

Selimbegovic: Einer meiner beiden Söhne ist 14. Wenn ich ihn im Winter bitte, er soll abends um halb sieben bei Dunkelheit noch schnell etwas vom 80 Meter entfernten Bäcker holen, antwortet er: Was, jetzt noch? Er sagt das natürlich aus Bequemlichkeit, aber er kann irgendwo auch nichts dafür, weil er es sich schlicht nicht vorstellen kann, dass ich damals mit zwölf nachts bei Schnee, Matsch und Regen auf der Jagd war, um für meine Familie Essen zu besorgen. Es ist unvorstellbar, wie schnell dich der Krieg erwachsen macht. Ich stoße als Vater auch immer wieder an meine Grenzen, wenn ich gewisse Dinge vermitteln möchte, weil sich meine Erlebnisse für meine Jungs wie Erzählungen aus einem Film anhören.

Selimbegovic: "Dann hört ich Schüsse ..."

Als der Krieg 1991 in Kroatien ausbrach, war das auch für Ihre Familie und Sie zunächst noch weit weg. Dennoch wurde für den Notfall mit gepackten Rucksäcken vorgesorgt - die aber in dem Moment der Flucht liegen gelassen wurden. Wie schnell haben Sie anschließend realisiert, dass Sie Ihre Heimat verlieren werden?

Selimbegovic: Erst Monate später. Wir dachten anfangs, dass wir nach ein paar Tagen wieder nach Hause können. Doch unsere kleine Ortschaft mit 50 Häusern ist innerhalb von zwei Tagen komplett zerstört worden. Ich habe mit meinem jüngeren Bruder draußen gespielt. Dann hörte ich Schüsse und bin die paar Meter nach Hause gerannt. Daraufhin stürmten sofort alle los, in die entgegengesetzte Richtung der Schüsse. Es fiel uns wegen des Schocks erst Stunden später auf, dass wir die Rucksäcke vergessen hatten.

Ihre Familie ist im ersten Moment zusammen mit ein paar Nachbarn, insgesamt waren es zwölf Personen, in den Wald geflohen. Wie weit war der von Ihrem Zuhause entfernt?

Selimbegovic: 500 bis 700 Meter.

Mit welcher Ausstattung an Essen und Trinken haben Sie dort die ersten Tage und Nächte verbracht?

Selimbegovic: Mit gar keiner. Wir sind immer weiter gegangen und schließlich in eine Ortschaft gekommen, in der sich einige Leute gesammelt und uns die Einheimischen versorgt haben. Dort formierte sich dann ein Konvoi und wir sind wieder ein paar Tage durch den Wald gegangen. Es war ein immerwährender Fußmarsch.

Wohin wollten Sie flüchten?

Selimbegovic: Wir nahmen die Route nach Sarajevo, haben aber nach sieben oder acht Tagen erfahren, dass dort niemand hinein- und herauskommt. Wir sind dann abends im bewaldetem Bergland von Gorazde angekommen, 50 Kilometer südöstlich von Sarajevo. Dort gab es mittig einen Fluss und an beiden Seiten ging der Wald steil in die Höhe. Wir waren todmüde und wollten dort einfach nur übernachten. In der Früh ritt dann jemand auf einem riesigen Pferd durch dieses Tal und meinte, wir müssten erst einmal dortbleiben. Hier würde ein Flüchtlingslager entstehen, das wir uns selbst einrichten mussten.

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Womit?

Selimbegovic: Die Armee hat uns immer wieder versorgt, so dass es später ein richtiges Lager geworden ist. Uns war nicht kalt, das Problem war der Regen. Dann hatten wir in unserem Bau keine Chance und sind nass geworden. Sobald es aufhörte, wurde Feuer gemacht und alles getrocknet. Wenn es wieder regnete, ging es von vorne los. Von dort bin ich immer wieder losgezogen und teils vier Stunden in eine Richtung marschiert, um Felder nach Essen zu durchsuchen. Wenn du eine Kartoffel von der Größe eines Apfels gefunden hast, war das wie ein Sechser im Lotto.

Sie sind zweieinhalb Monate in diesem Lager geblieben. Wie nah war dort die Bedrohung?

Selimbegovic: Das Lager war gut versteckt, von außen konnten keine Granaten hineinfliegen. Die größte Gefahr waren die Flugzeuge, denn es gab dort keine Luftabwehr. Die sind so tief darüber geflogen, dass allein das Geräusch beängstigend war. Sobald man nur ein bisschen was von ihnen hörte, sind sofort alle in den Wald gerannt. Ich habe im Krieg Schüsse, Granaten und Bomben erlebt, aber die Flugzeuge hatten eine besonders grausame Qualität.

Anschließend bezog Ihre Familie in Gorazde eine kleine Wohnung in der Nähe eines Krankenhauses, das jedoch häufig beschossen wurde. War dies das erste Mal, dass Sie wieder auf einem richtigen Bett schlafen konnten?

Selimbegovic: Ja, das war unser erstes richtiges Dach über dem Kopf. Wir kamen dorthin, weil es Herbst und das Lager aufgelöst wurde. Es ergab jedoch wenig Sinn, länger zu bleiben. Wir hatten kaum zu essen, waren eingekesselt, es gab ständige Bombardements und jeden Tag Tote. Wir hockten vor allem im Keller. Am 2. November 1992 begaben wir uns schließlich auf den nächsten Marsch. Der führte durch gegnerisches Territorium, aber das war die einzige Route.

Wie oft haben Sie gedacht, dass Sie sterben würden?

Selimbegovic: Zum ersten Mal gleich am zweiten Tag. Wir sind leider nicht weit gekommen und in der Nähe unseres Ortes mehr oder weniger im Kreis gerannt. Da haben wir Patrouillen gesehen, die nur ein paar Meter hinter uns waren und auf uns schossen. Später vor allem bei einigen Granaten, die in unmittelbarer Nähe explodiert sind. Ich habe mich speziell dann oft gewundert, wie ich das überleben konnte.

Schließlich wurden Ihre Mutter, Ihre Tante, Ihr Bruder Mirsa und Sie Teil eines Flüchtlingskonvois, auf dem Männer nicht erlaubt wurden. Das entschied Ihr Vater, den Sie aber zurücklassen mussten. Wieso hat er so entschieden?

Selimbegovic: Es war einfach alternativlos, weil man in diesem bergigen Gebiet ab Mitte November mit Schnee und Frost rechnen musste. Über den militärischen Funk und Mundpropaganda hatte es sich wie ein Lauffeuer verbreitet, dass es Gebiete gab, in denen man einigermaßen normal leben konnte und nicht jeden Tag um sein Leben fürchten musste. Er sagte daher, dass wir das unbedingt versuchen müssen. Dabei sind leider auch viele Menschen gestorben, die zwischenzeitlich Pause machten, kurz eingeschlafen und zurückgeblieben sind.

Wie erging es Ihrem Vater anschließend, hatten Sie Kontakt zu ihm?

Selimbegovic: Er musste wie alle Männer zwischen 18 und 70 Jahren dort bleiben, um die Stadt zu verteidigen. Später haben wir erfahren, dass zwei oder drei unserer Briefe an ihn durchgekommen sind.

Ihr Weg führte Sie dann in Richtung Südbosnien, um dort eine Tante Ihrer Mutter zu suchen, deren genauer Aufenthaltsort nicht bekannt war. Wie haben Sie sie gefunden?

Selimbegovic: Nach 50 Kilometern sind wir Richtung Konjic weiter. Wir wussten, dass sie dort in der Nähe ist. Zehn Kilometer vor Konjic haben wir herumgefragt, ob jemand den Namen der Tante kennt. Irgendwie haben wir es so geschafft, den genauen Ort herauszukriegen. Als wir dort ankamen, liefen uns zwei Mädchen entgegen. Meine Mama fragte sie, ob sie den Namen der Tante kennen. Da sagte die eine: Das ist meine Oma! Unglaublich, da bekomme ich heute noch Gänsehaut.

Selimbegovic: "Dort gab es endlich wieder Strom"

Dort war die Frontlinie etwas über 15 Kilometer entfernt und der Krieg quasi nicht existent.

Selimbegovic: Es war das Paradies, weil dort sehr viel humanitäre Hilfe aus dem angrenzenden Kroatien durchkam und die Lieferungen Richtung Sarajevo irgendwann gestoppt wurden. In Gorazde kostete ein Kilogramm Mehl umgerechnet 100 Mark - dort waren es drei. Es gab dort lediglich einen Blitzkrieg, die Zerstörung war minimal.

Wo sind Sie untergekommen?

Selimbegovic: Die Tante hatte ein ganz kleines Haus, in dem wir zu zwölft wohnten. Dort gab es endlich wieder Strom - ein unbeschreibliches Gefühl.

Hier sind Sie auch wieder auf Ihren Vater getroffen. Wie lange hatten Sie ihn nicht gesehen?

Selimbegovic: Fünf Monate. Wir wussten zwischenzeitlich nicht, wie es ihm geht und hörten immer nur im Radio, wie bei ihm vor Ort die Lage ist und sich die Kämpfe entwickelten. Ob oder wann er aber wiederkommt, war völlig unklar. Ich war an dem Tag in der Umgebung draußen spielen. Auf einmal rannte ein Junge völlig außer Atem auf mich zu und sagte: Dein Vater ist da! Ich dachte erst, er will mich veräppeln, aber es stimmte. Als ich ihn wiedersah, habe ich stundenlang geweint.

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Haben Sie auf der Flucht daran gedacht, wie ungerecht es ist, dass die Menschen wenige hundert Kilometer weiter westlich ein friedliches Leben führen können?

Selimbegovic: Nein. Ich habe nicht mit meinem Schicksal gehadert. Auch nicht damit, dass wir theoretisch schon vor dem Krieg nach Deutschland hätten kommen können. Mein Opa war seit 1974 in Düsseldorf, einige andere Familienmitglieder seit 1988 in München. Meine Eltern haben damals entschieden, nicht mitzugehen. Wir wussten, dass es ihnen gutging, denn wir haben von ihnen alle drei, vier Wochen Pakete zugeschickt bekommen. Das war jedes Mal wie Weihnachten.

Hatten Sie auf der Flucht die Hoffnung, dass Sie irgendwann wieder Ihr gewohntes Leben zurückbekommen?

Selimbegovic: Die hatte ich jeden Tag. Eines Tages, wenn alles vorbei und überstanden ist, werde ich dies und dies und dies machen - daran habe ich ständig gedacht.

Ab wann war die Bedrohung vorüber und wie haben Sie anschließend gelebt?

Selimbegovic: Nachdem mein Vater zurückkam, haben wir nur 500 Meter von der Tante entfernt ein leerstehendes Haus gefunden. Dort lebten wir von April 1993 bis August 1996. Danach sind wir nach Sarajevo gezogen. Der Arbeitgeber meines Vaters hat ihm dort eine Wohnung angeboten. Doch ab Mai 1993 verlagerte sich der Krieg mehr in den Süden - und das haben wir leider auch sehr gespürt.

Inwiefern?

Selimbegovic: Jeden Abend warfen die Flugzeuge eineinhalb Tonnen schwere Pakete herab. Man wusste nie, was drin war. Da mein Vater weiter als Soldat eingebunden war, bin ich immer mit meinen Kumpels auf die Jagd gegangen. Man wusste ungefähr, wo die Pakete landen, aber musste schnell sein. Dort war auch stets Polizei, die die Lieferungen beschützt hat, damit alles gerecht verteilt wird. Im Krieg lernt man jedoch schnell, dass es keine Gerechtigkeit dieser Art gibt. Wenn man Erwachsene erwischte, die dort plünderten, wurden sie für ein paar Tage verhaftet. Kinder bekamen nur eine Ohrfeige und wurden wieder laufengelassen.

Wie oft hat man Sie erwischt?

Selimbegovic: Kein einziges Mal. Einmal hatte ich Glück und habe 25 Kilogramm getrocknete Feigen mit nach Hause gebracht. Das war eine Delikatesse. Ich weiß aber auch noch, wie ich zwei Säcke schnappte und mich wunderte, dass die so leicht waren. Darin waren Stofftiere. Ich war stinksauer, weil ich damals nicht verstand, was man im Krieg damit anfangen sollte.

Selimbegovic: "Mein Bruder setzte unsere Wohnung in Brand"

War der Zusammenhalt unter anderen Flüchtlingen groß?

Selimbegovic: Nicht immer und nicht mit allen. Manche ältere Jugendliche waren schlau, die haben am Ortseingang gewartet und uns die Beute abgenommen. Wir mussten also nicht nur vor der Polizei flüchten, sondern uns auch unbemerkt in den Ort schleichen. Das war große Kunst.

Ihre Familie soll später in Sarajevo ein zweites Mal alles verloren haben. Was war geschehen?

Selimbegovic: Mein Bruder setzte unsere Wohnung in Brand. Wir hatten einen Ofen, da die Zentralheizung nach dem Krieg nicht funktionsfähig war. Er war allein zu Hause und das Feuer ließ nach. Auf dem Balkon fand er einen Benzinkanister, den mein Vater für seine Kettensäge benutzte. Als er das Benzin in den Ofen kippte, fing der Kanister Feuer und er schmiss ihn vor Schreck weg. Die Wohnung brannte komplett aus.

Wo waren Ihre Eltern und Sie zu dem Zeitpunkt?

Selimbegovic: Ich kam gerade von der Nachmittagsschule nach Hause und sah in unserem zweiten Stock kein Licht brennen, obwohl eigentlich jemand zu Hause hätte sein müssen. Plötzlich sah ich, wie die Feuerwehr ihre Sachen einpackte. Meine Eltern waren zum Glück oben bei den Nachbarn. Sie standen unter Schock, da sie nicht wussten, ob ich auch wirklich in die Schule gegangen war oder vielleicht noch in der Wohnung. Wir haben sie dann dank vieler helfender Hände innerhalb eines Monats wieder bezugsfertig gemacht.

Heute sind Sie der Einzige Ihre Familie, der nicht mehr in Bosnien lebt. Wie sehr ist der Krieg von damals bei Ihrer Familie in Regensburg ein Thema?

Selimbegovic: Er ist es immer und immer wieder. Der Krieg wurde zwar gestoppt, aber die Verhältnisse und die Situation in Bosnien sind weit davon entfernt, wirklich gut zu sein. Erst im Januar gab es wieder eine kritische Entwicklung, die NATO hat beispielsweise weitere Truppen installiert. Dort steht der Frieden auf wackligen Beinen.

Sind Sie denn als Vater gegenüber Ihren Söhnen eher streng oder spendabel?

Selimbegovic: Wahrscheinlich zu streng, aber ich hoffe, dass es ihnen hilft. Ich will, dass sie sich viele Dinge selbst erarbeiten. Sie sollen das, was sie haben und bekommen, nicht als selbstverständlich erachten. Das formt ihre Persönlichkeit, da bin ich mir zu 100 Prozent sicher. Darüber diskutiere ich auch mit meiner Frau, denn sie verbringt die meiste Zeit mit ihnen und hat die längere Leine. Manchmal sagt sie zu mir: Du bist hier nicht auf dem Fußballplatz, es läuft nicht alles nach deinem Matchplan. (lacht) Ich bleibe meiner Linie aber treu.

Selimbegovic: "Ich leiste mir maximal einen schönen Urlaub"

In Ihrem Job verdienen Sie gutes Geld. Was bedeuten Luxus und Wohlstand für Sie?

Selimbegovic: Nicht viel. Ich unterstütze verschiedene Menschen mit dem, was ich habe. Ich habe für meine Eltern einen kleinen Bauernhof aufgebaut, auf dem sie ihr Leben genießen können. Mein Vater bekommt eine Rente von nur 180 Euro im Monat. Ich leiste mir maximal einen schönen Urlaub. Wobei der im Sommer, da war ich zum ersten Mal für einen längeren Zeitraum wieder in meinem Heimatort, recht günstig war.

Die Corona-Pandemie hat rein gar nichts mit einem Krieg zu tun, ist aber ebenso eine Ausnahmesituation. Sie fordert von den Menschen viel Solidarität, Rücksicht und Verständnis, damit dem Gemeinwohl gedient ist. Wie blicken Sie darauf, gelingt das?

Selimbegovic: Unsere Gesellschaft hat es im Großen und Ganzen sehr solide gemeistert. Ich hoffe nur, dass sie nicht mehr so lange dauert. Das persönliche wie gegenseitige Rücksichtnehmen ist endlich und kann in Gleichgültigkeit umschlagen. So war es auch im Krieg: Anfangs hat sich jeder vor allem noch versteckt. Nach eineinhalb Jahren betraten manche Leute aber Gebiete, obwohl sie ein Schild mit der Aufschrift "Vorsicht, Scharfschützen" warnte. Dort wurden Menschen erschossen, doch man ging am nächsten Tag wieder dort entlang.

Die Pandemie hat allerdings auch einige gesellschaftliche Gräben offengelegt. Manchmal sind die individuellen Interessen doch größer.

Selimbegovic: In meiner Heimat sind einige sehr reich geworden, weil sie vom Elend profitierten und ihren Reichtum auf Leichen bauten. Das wird ihnen noch auf die Füße fallen. Da bin ich sicher, die Gerechtigkeit wird jeden einholen. Die Pandemie zeigte, dass viele ihre eigene Erklärung für die Dinge haben - und sei sie noch so seltsam. Mein Rat ist, noch mehr und ehrlicher miteinander zu kommunizieren. Denn mangelnde Kommunikation führt zu Spaltung, zumal der Mensch eher zu Abgrenzung von anderen Menschen neigt. Obwohl wir so viele Gemeinsamkeiten haben, sucht man nach kleinsten Unterschieden, die dann irgendwann nicht mehr klein, sondern riesig sind.

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