John Terry Roman Abramovich ChelseaGetty Images

FC Chelsea - Ex-Profi Sebastian Kneißl im Interview über Roman Abramovich: "Auf einmal fahren sechs schwarze Limousinen vor"

DAZN-Experte Sebastian Kneißl spielte zwischen 2000 und 2005 beim FC Chelsea und war mittendrin, als Roman Abramovich den Klub kaufte. Im Interview mit GOAL und SPOX erzählt der 39 Jahre alte Ex-Profi, wie die Ankunft des russischen Oligarchen seine Karriere veränderte.

Kneißl berichtet außerdem, wie Claudio Ranieri die Jugendspieler in die Kabine holte und warum er sich Sorgen um die Zukunft des Klubs macht.

Herr Kneißl, als Roman Abramovich im Jahr 2003 den FC Chelsea übernahm, spielte die Welt verrückt und es wurde fast über nichts mehr anderes gesprochen. Wie hat es damals die Mannschaft aufgenommen?

Sebastian Kneißl: Wir waren alle erstaunt. Zum einen, dass es so etwas gibt und dann vor allem, dass es in unserem Verein passiert.

Warum?

Kneißl: Chelsea war vorher ein Mittelklasseverein. Klar, sie haben mal Champions League gespielt, aber der Klub hatte kein Flair. Das Trainingsgelände war marode, es gab kaputte Scheiben. Da musste man stärker heizen, damit es einigermaßen warm wurde. Daher haben wir uns alle gefragt: Warum macht er das? Wir haben dann gemerkt, dass es da jemanden gibt, der ernsthaftes Interesse daran hat, den Verein in eine andere Liga zu heben. Das war sehr spannend.

Wie haben die Spieler konkret auf diesen bevorstehenden Wandel reagiert?

Kneißl: Das war eine Mischung aus "Ich habe Schiss, was mit mir passiert" und "Cool, lass mal gucken, wo es hingehen kann". Uns war allen klar: Mit dieser Übernahme hat sich die Erwartungshaltung geändert: Früher hat man mal geschaut, wohin es in der Saison gehen kann. Jetzt mussten unbedingt Titel her!

Wie war es bei Ihnen persönlich?

Kneißl: Ich habe es natürlich auch gespürt. Ich war zu dem Zeitpunkt bei der ersten Mannschaft, Claudio Ranieri war Trainer. Ich habe in der Vorbereitung mitgemacht und gegen Lazio Rom sehr ordentlich gespielt. Ranieri sagte zu mir: "Hey Seb, du wirst in dieser Saison deine Premier-League-Einsätze bekommen!" Ich habe mich darüber sehr gefreut. Dann kam die Übernahme und keine Woche später hat Ranieri uns junge Spieler in die Kabine geholt und gesagt: "Sorry, auch die Erwartungshaltung an mich ist gestiegen. Ich kann keine jungen Spieler mehr ausbilden. Ich muss jetzt auf einen Schlag liefern und ihr werdet demnächst noch ganz viele Spieler sehen, die kommen werden."

Ehrlich war er also?

Kneißl: Ja, das hat mir auch sehr imponiert, aber das war natürlich doof für mich, denn ich war schon ein Leidtragender von Abramovich. Du hast eh schon die Multimillionäre vor dir und dann kommt einer und spielt Playmobil mit dir. Auf meiner Position gab es den Vereinsrekord mit Damien Duff und den 17 Millionen Pfund Ablöse. Ein Witz, wenn man die Ablösesummen heute sieht. (lacht)

John Terry Roman Abramovich ChelseaGetty Images

Haben Sie schon mal daran gedacht, wie es gelaufen wäre, wenn Abramovich nicht gekommen wäre?

Kneißl: Ich hätte auf jeden Fall meine Spiele in der Premier League gemacht. Das weiß ich, weil ich den Lauf damals einfach hatte. Ich ging nach London, weil mich Gianluca Vialli, der damals Chelsea-Trainer war, unbedingt haben wollte. Er sagte: "Du erinnerst mich an mich und ich will dich unbedingt aufbauen." Die Absprache war: Ich spiele ein Jahr in der U19 und bin dann Vollgas bei den Profis dabei. Aber sechs Wochen später war Vialli weg und da stehst du dann mal als 17-Jähriger. Dann kommt der nächste Trainer und trotzdem habe ich es geschafft, mich hochzuarbeiten. Klar kommt es immer darauf an, wie man spielt. Ich habe den Vergleich mit Carlton Cole. Er hat bei Chelsea angefangen, dann eine tolle Karriere bei West Ham United und in der Nationalmannschaft hingelegt. Ich würde mich so einordnen, dass ich auch ein ganz ordentlicher Kicker war. Ich hätte vielleicht nicht Champions League gespielt, aber ich hätte genauso einen ganz ordentlichen Premier-League-Klub gefunden.

Sie waren nicht der einzige junge Spieler, dem der Weg durch die Übernahme verbaut wurde. Wissen Sie noch, wer die anderen waren, die Ranieri in die Kabine holte?

Kneißl: Das waren Joel Kitamirike, Joe Keenan, Robert Huth, der aber dann den Sprung schaffte und Felipe Oliveira, mit dem ich neulich erst wieder Kontakt hatte.

Spürten Sie damals auch bei den gestandenen Profis eine Nervosität, dass es sie treffen könnte?

Kneißl: Wir hatten zwar tagtäglich Kontakt und sahen uns beim Essen, aber wir waren damals nicht in der gleichen Kabine. Stellen Sie sich einen langen Flur vor: Es gab sechs kleinere Kabinen für je zehn bis zwölf Spieler. Die ersten beiden Kabinen waren für die U19, die mittleren zwei für die Reserve und die hinteren beiden waren für die erste Mannschaft bestimmt. Da hat man nicht mitbekommen, was gesprochen wurde, aber Spieler wie John Terry oder Frank Lampard haben das Ding natürlich gezogen. Sie haben die Chance sofort gesehen und waren sehr glücklich. Andere Spieler wie Jody Morris wussten natürlich, dass es sehr schwer wird.

Können Sie sich noch an die erste Begegnung mit Abramovich erinnern?

Kneißl: Das war sein erster Besuch im Training. Es ist unvorstellbar: Du weißt: Roman kommt gleich. Das Trainingsgelände war an der Straße in der Nähe des Heathrows. Auf einmal fahren sechs schwarze Limousinen vor und heizen da wie die Bekloppten. Ich dachte mir: "Ach du Scheisse, was kommt da jetzt!?" Es kamen tatsächlich immer fünf bis sechs Limousinen und sie mussten immer eine andere Route fahren, weil man nie wusste, ob es einen Anschlag oder so etwas geben kann. Es durfte auch niemand wissen, in welcher Limo er saß. Es war surreal.

Wie ging es nach der Ankunft der Limousinen weiter?

Kneißl: Er kam auf den Platz. Es standen alle aufgereiht nebeneinander wie bei einem offiziellen Fußballspiel. Er ist jeden einzeln durchgegangen, hat jedem in die Augen geschaut, jeden begrüßt und versucht auf Englisch ein paar Brocken zu sagen. John Terry ist mitgelaufen und hat jeden namentlich vorgestellt.

Wie Jürgen Klinsmann und die Queen bei der Euro 96.

Kneißl: Ja, genau! Es war schon lustig, als ich ihn zum ersten Mal sah, weil ich dachte, dass da so eine russische Kante um die Ecke kommt. So ein Bodybuilder-Typ eben. Aber dann kam Roman, der eher klein und schmal ist und er freute sich einfach, da zu sein. Das war schon angenehm. Er schüttelt dir die Hand und wirkt wie ein Kind, das an Weihnachten sein Geschenk auspacken darf.

Wie ging es weiter?

Kneißl: Er hat sich das Training angesehen und am Ende wollte er noch einen Elfmeter schießen. Er durfte gegen Carlo Cudicini antreten.

Und hat getroffen.

Kneißl: Hallo, er hat bezahlt. (lacht) Da machst du alles. Hätte Carlo gehalten, hätte Roman ihn sofort aus der Hosentasche ausbezahlt und ihm gesagt, dass er jetzt gehen kann.

Sind Sie ihm danach noch einmal begegnet?

Kneißl: Man lief sich mal über den Weg, aber er war krass abgeschottet. Das waren Jungs von der Spezialeinheit, die ihn begleitet haben. Also keine Chance, da nah ranzukommen.

Es gibt Eigentümer oder Präsidenten, die sich bei Spielen gerne mal in der Kabine blicken lassen. Wie war es bei ihm?

Kneißl: Ich weiß, dass er vor und nach Spielen öfters da war. Nach Siegen hat er gerne mitgefeiert. Nicht im Sinne: "Ich haue mir fünf Bier hinter die Binde", sondern einfach da zu sein, sich zu freuen und abzuklatschen. Dann war er auch schon wieder weg. Man hat von Anfang an gemerkt, dass er brutale Lust auf Chelsea hat und etwas bewegen wollte. Es hat Spaß gemacht, weil es auch gleich darum ging, wie man die Jugend nach vorne bringen kann. Wie man das Trainingsgelände gestaltet.

Roman Abramovich Chelsea 2016Getty/GOAL

Wenn man sich den Klub, aber auch die heutige Mannschaft ansieht, mit jungen Spielern wie Kai Havertz, Mason Mount, Reece James und gestandenen Profis im besten Fußballalter wie Romelu Lukaku, N'Golo Kante oder Jorginho. Wenn er den Klub nun verkauft, wird er keinen Scherbenhaufen hinterlassen, oder?

Kneißl: Der Verein wird noch lange von der finanziellen Unterstützung aber auch von dieser Leidenschaft profitieren. Er hat diese Leidenschaft immer gezeigt. Er hat gesagt: Ich will mehr, ich will weiterkommen, aber ich will auch Titel. Das fordere ich. Dafür helfe ich auch, um besser zu werden. Man hat den Vergleich: Er hat den Verein für rund 140 Millionen Pfund von Ken Bates gekauft. Allein die Mannschaft heute ist über 800 Millionen Euro wert. Hinzu kommt die Infrastruktur, in die er investiert hat. Es ist da Nachhaltiges aufgebaut worden.

Es scheint im Umfeld Chelseas den Menschen schwerzufallen, aufgrund der aktuellen Ereignisse in der Ukraine eine Distanz zu Abramovich aufzubauen.

Kneißl: Ich habe erst neulich das Video von John Terry gesehen, wie er sich bei Roman für alles bedankt. Da gab es viel Aufregung, wie er so etwas machen kann. Aber John hat auch damals nach einer Meisterschaft vor 40.000 Menschen gesagt: "Ohne dich wäre das nicht machbar und ich bin dir von Herzen dankbar!" Man wird keinen Spieler finden, der negativ über Roman Abramovich spricht.

Genau das kommt nicht gut an.

Kneißl: Man muss da einfach unterscheiden. Wenn es diese Nähe zu Wladimir Putin und das Wissen zum Kriegsvorhaben gibt, ist es natürlich eine Schande. Aber sportlich hat er viele Menschen positiv beeinflusst. Er hat für viele Glücksmomente bei den Menschen in und um den Verein gesorgt. Er war 19 Jahre da und hat 19 Titel geholt. Ich finde auch, dass er dem Fußball einen großen Gefallen getan hat.

Inwiefern?

Kneißl: Er hat 20 Jahre lang gezeigt, dass das Modell Investor funktionieren kann und man nicht immer Angst haben muss, dass er zurückzieht. Vor drei Jahren hat er schon mal anklingen lassen, dass er gerne verkaufen würde. Jetzt sind der Zeitpunkt und die Dringlichkeit aber natürlich unglücklich. Das lässt die Vermutung zu, dass da irgendetwas sein muss.

Es heißt, dass Marina Granovskaia, die früher Abramovichs Assistentin war und heute als Direktorin agiert, bleiben soll. Wie wichtig ist sie für Chelsea?

Kneißl: Ich habe ins aktuelle Trainerteam Kontakte und ich weiß: Diese Frau wird für ihre herzliche Härte sehr geschätzt. Sie weiß genau, was sie machen muss und sie schafft es mit ihrer Art, dass sie nicht nur im eigenen Verein gut ankommt, sondern auch bei Geschäftspartnern hoch angesehen ist. Ich glaube, auch über sie wird niemand ein schlechtes Wort verlieren. Sie ist sehr fair und im aktuellen Trainerteam sehr geschätzt.

Apropos Trainerteam: Ist es in der aktuellen Situation Chelseas große Chance, dass mit Thomas Tuchel ein Trainer da ist, der für eine gewisse Ruhe steht?

Kneißl: Ich fand seine Pressekonferenz sehr wichtig, wie er auf eine Frage zum Ukraine-Krieg emotional und laut reagiert hat. Das waren genau die richtigen Worte. Wir sind alle hoch privilegiert in der Situation, in der wir uns befinden. Völlig richtig. Ganz allgemein: Er hat eine tolle Mischung aus Demut und Erfolgshunger und das bringt er jedes Mal sehr gut rüber. Auch innerhalb der Mannschaft.

Tuchel äußerte anfangs Sorgen um die Zukunft des Klubs. Wie ergeht es Ihnen aktuell?

Kneißl: Es kommt darauf an, wer den Verein übernimmt. Aufgrund der Dringlichkeit wird Roman nicht den Preis bekommen, den er im Kopf hat. Der ist wohl außergewöhnlich hoch. Forbes hat es aktuell auf 2,2 Milliarden Euro beziffert, aber vor drei Jahren lag seine Vorstellung bei vier Milliarden Euro. Das war möglichen Interessenten schon damals zu hoch. Jetzt wird man sehen, was passiert. Sollten Amerikaner den Zuschlag bekommen, ist klar, was passiert.

Was erwarten Sie in so einem Fall?

Kneißl: Sie stecken das Geld nicht rein, um mal zu gucken, wie es läuft. Sie wollen Geld reinstecken, um Geld herauszuholen. Das wird ein reines Investment. Bei Roman hat man sich diesbezüglich keine Sorgen gemacht. Dass sich jetzt Menschen im Verein Sorgen machen, ist völlig klar und verständlich. Es wird eine Veränderung geben und Veränderungen bringen Unsicherheiten. Das ist für uns Betrachter nicht anders.

Wie meinen Sie das?

Kneißl: Es wird spannend zu sehen sein, wohin sich der Fußball entwickelt. Roman Abramovich hat 2003 mit dem Kauf des FC Chelsea ein Statement gesetzt. Kommt jetzt die Zeit des Statements seiner Nachfolger mit einem anderen Weg? Ich bin sehr gespannt.

Könnte eine reine Investment-Übernahme aus Übersee die European Super League beschleunigen - für Chelsea, aber auch für alle?

Kneißl: Die Super League wird kommen. Die Schere ist eh schon weit auseinander zwischen arm und reich und sie wird noch größer. Der Fokus wird sich weiter verändern. Das Entertainment-Niveau wird sich steigern. Es geht nur noch in Superlativen. Ein Abstauber-Tor reicht schon gar nicht mehr. Neymar, Mbappe und Messi müssen nur noch Superlative-Tore erzielen. Und irgendwann heißt es dann: Nur noch die besten Mannschaften spielen gegeneinander - und das weltweit: Jetzt kommt schon die NFL nach Deutschland und irgendwann fliegt man auch die Fußball-Mannschaften durch die ganze Welt, damit sie Fußball spielen.

Und dann 60 Minuten, weil Florentino Perez 90-Minuten-Spiele nicht mehr zeitgemäß findet.

Kneißl: Dann würde ich vielleicht auch noch einmal angreifen. 60 Minuten schaffe ich noch. (lacht)

Werbung