Das Spiel mit der Angst: Als Fabio Quagliarella die Stalking-Hölle auf Erden erlebte

Fabio Quagliarella steht auf der Sonnenseite des Lebens, als er im Sommer 2009 einen Fünfjahresvertrag bei der SSC Neapel unterschreibt. Er kehrt aus Udine zurück in seine Heimat, zu jenem Klub, für den er bereits als kleiner Junge brannte.

Zu diesem Zeitpunkt ahnt der Stürmer nicht, dass sich seine Zeit am Fuße des Vesuvs zum größten Albtraum entwickeln, er nach nur einem Jahr gezwungenermaßen weiterziehen, beim Erzrivalen Juventus anheuern und den Hass einer ganzen Region auf sich ziehen würde. Weil niemand seinen Wechsel nachvollziehen kann. Weil er die Gründe für die Flucht von seinen Liebsten nicht offenlegen kann. Quagliarella hat einen Stalker, der ihm die Hölle auf Erden bereitet – und auch vor Familie und Freunden nicht Halt macht.

Im August 2017 stimmt Quagliarella einem Interview mit Bleacher Report zu, nimmt sich Zeit, um erstmals umfassend über die unglaublichen Geschehnisse zu reden, die elf Jahre zuvor ihren Anfang nahmen.

Es ist Weihnachten 2006, als er seinen besten Kumpel Giulio De Riso in dessen Laden, einem Vodafone-Shop inmitten von Castellamare di Stabia, besucht. Nebenbei lässt er fallen, dass er den Verdacht hege, jemand habe seinen PC gehackt. Zudem erhalte er immer wieder sporadisch anonyme Textnachrichten. Der Vorwurf: Er sei drogenabhängig und mit Mitgliedern der Mafiaorganisation Camorra befreundet. Ungewöhnliche Anschuldigungen, denn Quagliarella ist beliebt in der Region, die Menschen schätzen ihn für seine Bodenständigkeit. Quagliarella ist kein Spieler, der seine Urlaube social-media-wirksam in Saint Tropez, Monaco oder Dubai inszeniert. Erst recht keiner, der mit Gesetzesbrechern kooperiert.

Fabio Quagliarella Udinese CalcioGetty

De Riso weiß sofort, an wen er seinen Freund vermitteln muss. Er selber habe immerhin einige Monate zuvor mehrfach dubiose SMS von einem Unbekannten erhalten, der ihm die Zusammenarbeit mit der berüchtigten Camorra vorwarf. Raffaele Piccolo, der Schwager eines Bekannten, sei der richtige Ansprechpartner für derartige Probleme. Er arbeitet bei einer Sonderkommission der neapolitanischen Polizei, die auf Cyberkriminalität spezialisiert ist.

Piccolo ist sofort bereit, Lokalmatador Quagliarella zu unterstützen. "Nachdem er sich meinen Computer angesehen hatte, haben wir uns angefreundet", sagt Quagliarella. Die beiden tauschen Telefonnummern aus. Um seine Dankbarkeit zu zeigen, schenkt Quagliarella Piccolo einige von ihm unterschriebene Souvenirs. Kurz darauf ebben die anonymen Nachrichten ab.

Quagliarellas emotionale Rückkehr nach Neapel

Als Quagliarella zweieinhalb Jahre später für eine Ablösesumme in Höhe von 18 Millionen Euro von Udinese Calcio zu Napoli wechselt, ist die fußballverrückte Metropole außer sich. Der verlorene Sohn, der immer von einem Engagement bei den Partenopei geträumt, bislang aber nie für sie gespielt hatte, kommt unter Jubelarien der Fans nach Hause. "Wir waren so glücklich", sagt ein Camorra-Mitglied, das namentlich nicht genannt werden möchte, Bleacher Report und schiebt nach: "Wir waren sehr emotional, weil er ein Kind dieser Stadt ist, ein Kind neapolitanischen Bodens."

Quagliarellas Freund De Riso denkt gerne an den Tag der Verkündung des Transfers zurück: "Jeder hier hat davon geträumt und Fabio freute sich wie ein Kind. Er war so unglaublich glücklich."

Quagliarella lässt den Sommer 2009 so Revue passieren: "Ich wusste um die Bedeutung meines Wechsels. Die Napoli-Fans haben sich selbst in mir gesehen. Ich wusste, dass ich niemals alleine sein werde, wenn ich den Platz betrete. Ich hatte eine ganze Stadt im Rücken." Tatsächlich widmen die Tifosi ihrem neuen Helden sofort einen eigenen Song, die Zeitungen überschlagen sich, vergleichen ihn mit Masaniello, dem legendären Anführer des Volksaufstandes in Neapel im 17. Jahrhundert. Er zahlt den Hype zurück, küsst nach jedem Tor symbolträchtig das SSC-Logo.

Fabio Quagliarella Napoli

Fernab des Ruhms, neben dem Platz, fühlt sich Quagliarella schnell nicht mehr ganz so unbeschwert. Seit er in Neapel ist, wird er mit ganz ähnlichen anonymen Mails und Textnachrichten bombardiert, die ihn bereits zu seiner Zeit in Udine erreicht hatten - nur in deutlich höherer Schlagzahl.

De Riso gerät ebenfalls erneut ins Visier. "Wir bekamen kryptische Nachrichten, die lediglich aus Nummern und Buchstaben bestanden: ABC 37 12. ABCD 37 27 12. Sie sahen aus wie irgendwelche Codes", erklärt De Riso und ergänzt: "Piccolo hat gesagt, dass es sich dabei wahrscheinlich um Viren handelt, die unsere privaten Daten stehlen könnten. Also forderte er: 'Gebt mir eure Mobiltelefone und ich werde sie davon bereinigen.'" Piccolo versichert, dass er im Polizeirevier eine Anzeige schreiben wird. Aus Verbundenheit organisiert Quagliarella immer wieder Tickets, manchmal schenkt er Piccolo unterschriebene Trikots. Als Quagliarella seine Handynummer ändert, reißen die Nachrichten ab. Vorerst.

Quagliarellas Eltern erhalten Briefe mit schockierendem Inhalt

Statt Quagliarella mit virtuellen Mitteilungen zu belästigen, findet der Unbekannte schon bald einen noch perfideren Weg, die heile Welt des Napoli-Profis ins Wanken zu bringen. Einmal, manchmal zweimal pro Woche, erhalten seine Eltern Briefe von einem unbekannten Absender, die unfassbare Anschuldigungen beinhalten: "Die Briefe enthielten Nacktbilder von minderjährigen Mädchen, mit denen ich geschlafen haben soll. Der Absender teilte meinen Eltern mit, dass ich ein Pädophiler sei", sagt Quagliarella. "Es waren offensichtlich Fotos, die aus dem Internet heruntergeladen wurden. Das war nicht nur für mich das Schlimmste überhaupt. Auch meine Mutter hatte mit diesen Vorwürfen unglaublich zu kämpfen."

Piccolo ist über die neuesten Entwicklungen im Bilde, hält die Opfer an, das Papier nicht mit bloßen Händen anzufassen, um etwaige Fingerabdrücke nicht zu verwischen. "Das war wie in einer CSI-Folge", sagt Quagliarella. Unterdessen verschickt der Stalker immer weiter Post mit furchtbaren Bezichtigungen. Quagliarella manipuliere Spiele, nehme an wilden Sex-Orgien teil. Einmal wird sein Vater Vittorio namentlich adressiert, erhält ein Foto, auf dem ein Sarg mit dem Konterfei seines Sohnes abgebildet ist: "Vittorios Sohn wird sterben", steht darunter.

Intensiviert wird der Terror durch SMS auf Vittorios Handy. "Ich weiß, dass dein Sohn diese Nacht in Neapel unterwegs ist. Wir werden ihm in die Beine schießen. Wir werden ihn totprügeln", lautet eine der schauderhaften Kurzmitteilungen.

Piccolo sicher: Ein Freund oder Bekannter der Familie ist der Täter

Mittlerweile ist auch Piccolo mit seinen Recherchen weitergekommen. Der Polizist ist sich sicher, dass es sich bei dem Nachsteller um einen Bekannten der Familie handeln muss. Ein Fremder könne niemals über die große Anzahl persönlicher Informationen verfügen. Quagliarella solle weder seinen Freunden noch seinen Teamkollegen trauen. Belastet durch die Geschichte, über die er nur mit wenigen Menschen reden kann, erlebt er bei Napoli einen rapiden Leistungsabfall.

"Ich war mit dem Kopf ganz woanders", gibt Quagliarella zu. "Ich konnte mich nicht auf meine Arbeit fokussieren, sondern habe mir immer Gedanken darum gemacht, dass ich in Gefahr bin. Ich hatte große Angst, fühlte mich auf Schritt und Tritt verfolgt, wenn ich mich draußen aufhielt. Es war eine Situation, die dich fertig macht."

Fabio Quagliarella NapoliGetty

Vor allem die Pädophilie-Vorwürfe setzen ihm enorm zu. Obwohl er selbst um seine Unschuld weiß, zerbricht er sich den Kopf. Wenn dahingehende Gerüchte im Internet kursieren, denken die Menschen doch, dies sei wahr. "Ich habe viel geweint", sagt Quagliarella. "Das ist mir überhaupt nicht peinlich. Ich konnte einfach nicht verstehen, wer mir und meiner Familie so etwas antut."

Zudem verdichten sich die Anzeichen, dass sein Arbeitgeber Wind von der Sache bekommen hat. Ein Indiz für Quagliarellas Annahme ist ein mysteriöser Anruf von Napoli-Boss Aurelio De Laurentiis, der ihm nahelegt, ins nähere Umfeld des Stadions zu ziehen. "Dort ist es ruhiger und du kannst dich besser auf den Fußball fokussieren", habe De Laurentiis begründet. Warum Quagliarella stutzig wird? Ihm zufolge hätten seine Mitspieler Luigi Vitale und Gennaro Iezzo gleich bei ihm um die Ecke gewohnt und seien nicht mit einem ähnlichen Vorschlag seitens des Chefs konfrontiert worden.

In seinem Verdacht, der Verein könnte informiert worden sein, bestärkt wird Quagliarella aufgrund eines Briefes, der bei seinem Freund De Riso eingeht. Auf dem Umschlag ist zwar dessen Adresse angegeben, der Inhalt ist allerdings an De Laurentiis adressiert. Es wird geschildert, dass De Riso Treffen zwischen Quagliarella und der Camorra organisiert habe, die angeblich ihre schützende Hand über Quagliarella halten würden. Auf Anfrage von Bleacher Report, ob damals auch bei Napoli eine Kopie des Schriftstückes eingegangen ist, möchte sich der Klub nicht äußern.

Ein Wechsel zu Juventus mit Folgen

In der Hoffnung, dass der Horror ein Ende findet, wenn er seiner Heimat den Rücken kehrt, entscheidet sich Quagliarella für einen folgenschweren Wechsel – ausgerechnet zum verhassten Rekordmeister Juventus. Zunächst verpflichtet die Alte Dame ihn auf Leihbasis, ein Jahr darauf, im Sommer 2011, ziehen die Bianconeri die Kaufoption, die sich auf 10,5 Millionen Euro beläuft. "Für die Napoli-Fans wurde ich vom Idol zum Verräter. Die Leute dort haben mich nicht länger geliebt", sagt er.

Die Anhänger gehen davon aus, dass Quagliarella aus Geldgier handelt, beschimpfen nicht nur ihn übel bei Facebook, sondern auch seine Mutter, die sich anhören muss, dass sie eine Hure sei. Da Piccolo mit seinen Ermittlungen immer noch nicht am Ziel ist, kann Quagliarella die Öffentlichkeit nicht über die wahren Gründe seiner "Flucht" in Kenntnis setzen. "Ich bin gegangen, aber die Leute wussten nicht, warum. Es herrschte völliges Chaos in Neapel, nachdem ich weg war."

Quagliarellas Glaube, der Stalker könne möglicherweise das Interesse verlieren, sobald er nicht mehr in Napoli ist, zerschlägt sich bald. Stattdessen torpediert der Unbekannte ihn weiter mit Nachrichten. Ein Jahr ist bereits ins Land gegangen, seit Piccolo den Fall übernommen hat, ohne einen Verdächtigen zu präsentieren. "Er sagte mir, dass das Ende dieses Albtraums nah sei, dass er den Täter bald dingfest machen würde", sagt Quagliarella und verrät: "Die Hoffnung, herauszufinden, wer hinter all dem steckt, war größer als das Bestreben, aufzugeben."

Fabio Quagliarella JuventusGetty

Aufgrund der großen Distanz stehen er und Piccolo allerdings lediglich in losem Mailkontakt, telefonieren ab und zu. Quagliarella stellt trotzdem fest, dass Piccolo immer häufiger nach Eintrittskarten oder unterschriebenen Trikots fragt. "Er hat mir immerhin bei meinem Problem geholfen, deshalb kam ich seinen Wünschen nach." Vittorio, Quagliarellas Vater, trifft sich allerdings regelmäßig mit dem Polizisten. Piccolo gesteht ihm eines Tages, dass nun auch er ins Fadenkreuz des Stalkers geraten sei. Vermutlich, weil er der Familie helfe. Auch er erhalte mittlerweile anonyme SMS. Ein Zeichen dafür, dass er ganz nah dran sei. Als Vittorio die Nachrichten sehen will, schwört Piccolo, er habe sie gelöscht.

Quagliarellas Vater äußert Verdacht

Vittorio wird misstrauisch. Welcher seriöse Polizist beseitigt denn offensichtliches Beweismaterial? "Mein Vater rief mich an und sagte: 'Ich denke, es ist Piccolo'", erinnert sich Quagliarella im Gespräch mit Mediaset. "Ich habe ihm gesagt, dass er runterkommen soll, dass wir alle aufgrund dieser höllischen Situation gestresst sind und dass er von allen Leuten nicht ausgerechnet Piccolo verdächtigen soll."

Im Sommer 2010 bringt ein schicksalhaftes Treffen endlich Licht ins Dunkel. Giovanni Barile, ein Rechtsanwalt aus Quagliarellas Heimatstadt Castellmare di Stabia und ehemaliges Mitglied der Napoli-Ultras, kennt Quagliarella über De Riso und ist über die Jahre zu einem guten Freund geworden – trotz dessen aufsehenerregenden Wechsels zu Juventus. Die drei Kumpel beschließen, die sonnige Jahreszeit in Bariles Sommerhaus an der Küste Kampaniens einzuläuten. Quagliarella packt seine damalige Freundin und seine Eltern ein und fährt mit seiner neuen Yacht den Golf von Neapel in Richtung Süden, um De Riso, dessen Frau und Kinder sowie Familie Barile zu besuchen.

Im Rahmen des Urlaubs verbringen De Riso, Barile und Quagliarella einen sonnigen Tag auf Quagliarellas Boot. Die Kumpanen tanzen, singen, sind sorglos. So unbefangen, dass sie die Zeit vergessen und erst um 19.30 Uhr zu Bariles Haus zurückkehren, wo ein zorniger Vittorio auf die Jungs wartet. Die Drei hatten verschwitzt, dass ein gemeinsames Abendessen ausgemacht war, das bereits eine Stunde vorher stattfinden sollte. "Fabios Vater ist ein schroffer Mann – aber auf eine sympathische Art. Er legt sehr viel Wert auf Pünktlichkeit", erzählt Barile. "Er war sehr wütend. Ich duschte kurz und Fabios Vater fragte: 'Warum kommt ihr erst so spät?' Fabio beichtete, dass wir einfach nur abgehangen, Musik gehört und getanzt haben."

Eine Antwort, die Vittorio offenbar noch ärgerlicher stimmt als die Verspätung. "Dann musst du dich nun wirklich nicht beschweren, dass du anonyme Briefe bekommst. Vielleicht stand irgendjemand oben auf einem Haus und musste nur nach unten schauen, um dich tanzen zu sehen. Dann muss derjenige nur ein Foto machen, das dich beim Tanzen zeigt", wird Quagliarellas Vater von Barile zitiert.

Der Nebel lichtet sich

Barile wird sofort hellhörig. "Welche Art von Briefen bekommst du?", fragt er Quagliarella. Der fasst den Entschluss, Piccolos Anweisungen zu missachten und bricht sein Schweigen. Er weiht Barile vollumfänglich ein, erzählt von den ihm vorgeworfenen Verbindungen zur Mafia. 

Barile unterbricht: "Wie sieht es aus mit Pädophilie-Anschuldigungen und angeblichem Drogenmissbrauch?" Auch De Riso steigt nun ins Gespräch ein, erzählt Barile, dass er mit ähnlichen Briefen und Nachrichten belästigt wurde. Barile klärt die Anwesenden darüber auf, dass er schon fünf Jahre zuvor selbst von einem Unbekannten mit der gleichen Masche zermürbt wurde. Der Terror habe aber plötzlich, nämlich im Frühling 2010, ein abruptes Ende gefunden. "Wir haben uns über die Ähnlichkeiten der Briefe ausgetauscht", sagt Barile, der die Bombe plötzlich platzen lässt: "Ich habe eine Idee, wer dahinterstecken könnte."

Fabio Quagliarella Instagram

Das undurchsichtige Netz entwirrt sich, als er von seiner Verbindung zu Piccolo erzählt, den er bereits aus seiner Schulzeit kennt. "Er war eine schüchterne Person, hatte keine Freunde, war ein sehr stiller Junge. Im Gegensatz zu den anderen Kindern hatte er kein soziales Leben", führt Barile bei Bleacher Report aus. Nach dem Abitur verliert er seinen einstigen Schulkameraden aus den Augen. Bis zum Jahr 2005, jenem Jahr, in dem die mysteriösen Nachrichten sein Leben verändern sollten.

Barile arbeitete zu diesem Zeitpunkt in einer Kanzlei bei einer Rechtsanwältin namens Simona de Simone. Sie ist mit Piccolo verheiratet, das Paar hat zwei gemeinsame Kinder. Irgendwann bekommen die Mitarbeiter der Kanzlei merkwürdige Briefe. Demnach sollen die Angestellten untereinander wilde, außereheliche Beziehungen gepflegt haben. Barile sagt, dass ihn zahlreiche dieser Botschaften im Büro und zuhause erreichten. De Simone, Piccolos Frau, wurde als separates Ziel ausgemacht. In der Lobby prangte eines Tages in riesigen, mit Graffiti gesprühten Lettern: "SIMONA DE SIMONE IST EINE HURE!"

Bariles Ehe geht in die Brüche

Laut Barile befanden sich Piccolo und dessen Frau damals in einer handfesten Ehekrise. Piccolo sei eifersüchtig gewesen, habe sich immer wieder misstrauisch gezeigt, den Verdacht geäußert, Simona betrüge ihn mit einem Arbeitskollegen. Der Streit schaukelte sich offenbar so hoch, dass sie ihren Mann verließ und zwischenzeitlich bei ihrer Mutter einzog.

Hinter dem anonymen Quälgeist vermutet sie jedoch nicht ihren Ehemann. Ganz im Gegenteil: Sie zieht ihren Gatten, den Experten, was diese Art von Delikte angeht, als Vertrauten heran. "Wir haben ihm vertraut, ihm alles offengelegt", sagt Barile. "Piccolo rief mich an und erklärte mir: 'Pass auf, ich ermittle gerade in eurem Fall. Ich wollte dich nur warnen, weil hier im Polizeipräsidium belastendes Material gegen dich eingegangen ist, das vermuten lässt, dass du ein Drogenjunkie bist und deine Frau betrügst.'"

Damit nicht genug: "Ganz besonders erinnere ich mich an einen Abend. Ich kam nach Hause und meine Frau war völlig außer sich. Sie hatte einen Brief auf den Tisch gelegt, der ein Foto beinhaltete, auf dem mein Sohn und ein Freund von ihm zu sehen waren. Nichts, das man mit Pädophilie in Verbindung bringen würde. Aber auf dem beigelegten Zettel war ein Screenshot von eMule (ein damals beliebter Filesharing-Client, Anm. d. Red.), der eine angebliche Datei mit dem Namen 'Anständiger Anwalt vergnügt sich mit kleinen Jungs', zeigte."

Weil Bariles Frau darüber hinaus auch Briefe an ihren Arbeitsplatz gesendet bekommt, in denen ihr Mann als drogenaffiner Zuhälter dargestellt wird, geht die Ehe in die Brüche. Dass Piccolo ein falsches Spiel spielt, fällt ihm erst Jahre darauf, kurz vor besagtem Sommerurlaub mit De Riso und Quagliarella, auf. "Ich war früher politisch in Castellamare aktiv. Piccolo rief mich an und sagte, der Bürgermeister habe eine persönliche E-Mail erhalten und an ihn weitergeleitet. Sie beinhalte schlimme Verdächtigungen, ich sei mit der Camorra verbandelt und würde als Geldwäscher für die D'Alessandro-Familie (einem Mafia-Clan, Anm. d. Red.) fungieren. Daraufhin habe ich den Bürgermeister angerufen und ihn gefragt, ob Piccolos Aussagen der Wahrheit entsprechen. Er sagte mir: 'Ich habe eine E-Mail bekommen und sie an die Polizei weitergeleitet. Aber du wurdest mit keinem Wort erwähnt. Wer hat dir davon erzählt?' Da wusste ich, dass Piccolo mich anlügt."

Piccolos Kartenhaus aus Lügen zerfällt

Barile möchte sich selbst vergewissern, fährt zum Büro des Bürgermeisters, der ihm die Mail zeigt. Er wird tatsächlich mit keinem Wort genannt. Mit dem Beweis, dass Piccolo offenkundig Unwahrheiten an ihn herangetragen hatte, bestellt Barile seinen ehemaligen Schulkameraden ins Büro.

"Ich habe ihn beschimpft. Ich wollte ihn schlagen, machte ihm sehr aggressiv deutlich: 'Ab morgen hast du meinen Namen vergessen. Selbst wenn ich einen Brief bekomme, der nicht von dir geschrieben wurde, werde ich dich dafür verantwortlich machen." Piccolo sei nervös geworden, habe Augenkontakt zu ihm vermieden, die Vorwürfe aber abgestritten. "Von diesem Tag an bekam ich keinen einzigen Brief mehr."

Folglich denkt Barile darüber nach, rechtliche Schritte gegen den Polizisten einzuleiten. Zwei seiner Anwaltskollegen raten ihm aber von einem juristischen Vorgehen ab. Dazu habe er schlicht zu wenige Beweise. Außerdem warte Piccolo doch mit großer Reputation auf, sei sehr angesehen in der Stadt. Barile hält sich an die Empfehlung und verbannt die rachsüchtigen Gedanken aus seinem Kopf. Bis er von Quagliarellas Geschichte hört.

De Riso, der bis zuletzt nicht glauben kann, dass Piccolo sich hinter dem grausamen Stalker verbirgt, wird nur wenige Tage nach Beendigung des Urlaubs eines Besseren belehrt. Mitarbeiter des Direzione Investigativa Antimafia, kurz DDA (nationales Kriminalamt zur Bekämpfung der Mafia, Anm. d. Red.), werden in seinem Handyladen vorstellig. Sie machen ihm unmissverständlich deutlich, dass er sie aufs Revier begleiten müsse. Als er dort ankommt, erkennt er den neapolitanischen Polizeichef Alberto Berrino. "Ich habe ihm zugelächelt", sagt De Riso. "Ich wusste überhaupt nicht, warum ich da war, bis Berrino mir sagte, dass das DDA seit drei Monaten gegen mich ermittelt."

Anschuldigungen gegen De Riso: Mafia-Kooperation und Prostitutionsnetzwerk

Womit die Ermittler De Riso konfrontieren, ist entsetzlich. Sie klären ihn auf über Briefe, die angeblich belegen, dass er mit der Mafia kooperiere, zusätzlich ein Prostitutionsnetzwerk aus dem Hinterzimmer seines Shops anführe. Beweise finden sie dabei nicht. Aus diesem Grund teilt Berrino De Riso mit, dass er nicht länger als Verdächtiger gelte. Von den Neuigkeiten übermannt und entgegen Piccolos Rat, niemandem von der Sache zu erzählen, unterrichtet er die Beamten über die zahlreichen Briefe und SMS, die ihn und Quagliarella seit geraumer Zeit erreichen, und dass Piccolo in diesem Fall doch ermittele und das Ganze sicherlich in Form von Berichten dokumentiert habe.

"Sie gingen, um die Berichte zu suchen", sagt De Riso. "Kurze Zeit später kamen sie zurück und versicherten: 'Da sind keine Berichte.' Erneute Nachforschungen durch Berrino fördern dasselbe Ergebnis zutage: Keine Berichte. Die Frage nach dem Motiv kommt auf. Was sollte einen derart zuverlässigen, sachlichen Polizisten wie Piccolo zu einer solch schwerwiegenden Tat verleiten? "Hast du seine Frau gefickt?" soll Berrino ihn scherzhaft gefragt haben. "Ich habe seine Frau zweimal in meinem Leben gesehen. Ich kenne sie nicht gut genug, um sie zu ficken."

Berrino und sein Team nehmen sich der Sache an, suchen nach Auffälligkeiten in den Briefen und Nachrichten, die mutmaßlich von ihrem langjährigen Kollegen Piccolo stammen. Es dauert nicht lange, bis sie dank Piccolos Facebook-Profil fündig werden. "Berrino zitierte mich zu sich: 'Achte darauf, wie er schreibt. Er macht nie ein Leerzeichen hinter seinen Kommata.'" Eine kleine orthografische Schwäche, die Piccolo zum Verhängnis wird: In den Briefen und Nachrichten, die De Riso erhalten hatte, findet sich nämlich der gleiche immer wiederkehrende Fehler.

De Riso: "Wir haben ihm komplett vertraut"

Jetzt ist auch De Riso überzeugt, dass sein vermeintlicher Freund und Helfer der Drahtzieher hinter dieser teuflischen Tat ist. "Wir haben ihm komplett vertraut. Er war überzeugend, gab einem plausibel zu verstehen, dass er der richtige Mann für die Ermittlungen ist", sagt er. Quagliarella bestätigt die Schilderungen seines Freundes: "Er bekam es hin, dass ich plötzlich jedem in meinem Umfeld misstraute. Er hat uns angeleitet, uns immer wieder gesagt, was wir tun sollen. Dabei war er derjenige, der dieses Spiel die ganze Zeit kontrollierte - und ich hatte keine Ahnung."

Fabio Quagliarella Napoli

Dass Piccolo der Täter ist, steht mittlerweile für alle Beteiligten fest. Doch wie überführt man einen Mann, der es über einen Zeitraum von mehreren Jahren geschafft hat, ein derart perfides Spiel zu inszenieren? Vittorio Quagliarella soll den Spion mimen.

Mit dem Aufnahmegerät in der Unterhose

Zur Erinnerung: Er war der Erste, der Piccolo als möglichen Stalker ausgemacht hatte und derjenige, der konstanten Kontakt zu dem Polizisten pflegte. Vittorio wird von den Fahndern instruiert, einen Termin zu fixieren, unter dem Vorwand, sich über die neuesten Entwicklungen im Fall seines Sohnes zu informieren.

Piccolo beißt an, lädt Vittorio zu sich nach Hause ein. Er, den alle Beteiligten als schüchternen, einfachen Mann beschreiben, dem nichts ferner läge, als die Rolle des verdeckten Ermittlers einzunehmen, soll das Gespräch mit einem Diktiergerät aufzeichnen. De Riso zufolge habe Vittorio den Apparat in der Unterhose versteckt. Alles läuft nach Plan, Piccolo merkt nicht, dass jedes Wort von ihm mitgeschnitten wird.

Er versucht, die Quagliarellas gegen De Riso auszuspielen, weist sie an, den Freund der Familie zu meiden. Weil das DDA immerhin gegen diesen ermittele, das könne seinen Sohn ebenfalls in Verbindung mit der Mafia und somit in die Bredouille bringen. "Er sagte: 'Nehme dich vor De Riso in Acht, er ist kein guter Mensch', erinnert sich De Riso. "Stelle sicher, dass Fabio über Giulio Bescheid weiß."

Piccolo sitzt in der Falle

Noch reichen die Indizien nicht aus, um einen richterlichen Durchsuchungsbefehl zu erhalten. Berrino benötigt mehr Belastungsmaterial. Der Polizeichef heckt einen neuen Plan aus, um Piccolo endlich hochgehen zu lassen. "Die Ermittler gaben uns exakte Anleitungen, wie wir weiter verfahren sollten. Im Falle einer erneuten anonymen SMS, sollte ich sie auf der Stelle informieren. Im Anschluss war mein Auftrag, Piccolo auf seinem Handy anzurufen, damit sie ihn orten konnten. Sie fanden heraus, dass sich sein Mobiltelefon direkt bei der Telefonzelle befand, von der die SMS an mich gesendet wurde", gibt De Riso zu Protokoll.

Im November 2010 klingelt Berrino an Piccolos Tür. In der Hand hält er den lang ersehnten Durchsuchungsbefehl. Was die Kriminalisten, die mehrere Computer sicherstellen, finden, sprengt jegliche Vorstellungskraft. Piccolo hatte im Laufe der Jahre nicht nur Barile, De Riso und Quagliarella das Leben zur Hölle gemacht, sondern Menschen aus allen Gesellschaftsschichten mit der gleichen Verfahrensweise gepeinigt. Einen Arzt, einen Restaurantbesitzer, den Inhaber eines Elektrogeschäftes, um nur ein paar Beispiele herauszugreifen.

Fabio Quagliarella Torino Sampdoria Serie AGetty Images

"Ich war nur die Spitze des Eisberges", sagt Quagliarella. "Mich hat er ausgenutzt, um an Tickets und Trikots zu kommen, hat vor seinen Freunden damit geprahlt, wie einfach es für ihn sei, weil er einen Fußballstar kenne. Einen anderen Mann, der ein Unternehmen auf Capri besitzt, hat er für seine Zwecke missbraucht, um ständig Urlaub dort zu machen, ohne dafür bezahlen zu müssen. Und meinen Kumpel Giulio hat er benutzt, um kostenlos an Handys oder Ladegeräte zu gelangen."

Erst im Februar 2017 ist das Verfahren gegen Piccolo abgeschlossen. Das Gericht spricht eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und acht Monaten gegen den Mann aus, der das Leben so vieler Menschen mutmaßlich in einen Dauer-Albtraum verwandelt hatte, genau wusste, dass niemand, der sich den ungeheuerlichen Vorwürfen wie Pädophilie, Drogenmissbrauch oder Mafia-Verbindungen ausgesetzt sah, gerne damit hausieren gehen würde. Aus Scham, aus Angst, von den Menschen an den Pranger gestellt zu werden.

Quagliarella bricht in Tränen aus

Im Anschluss an Piccolos Schuldspruch bricht Quagliarella in einem Interview mit Sky Sport Italia in Tränen aus, darf der Welt schließlich die wahren Beweggründe für seinen Wechsel zu Juventus sieben Jahre zuvor verraten. "Alle urteilen über dich, aber du musst wegen der laufenden Ermittlungen schweigen. Ich bin ja nicht eines Tages aufgewacht und wollte weg aus Neapel", schwört er. "Ich war nach zwölf Jahren endlich wieder daheim, fühlte mich pudelwohl. Es war ein vier, fünf Jahre andauernder Albtraum. Ich konnte abseits des Fußballs nicht mehr unbeschwert leben. Mir und meiner Familie ging es schlecht, wir konnten unser Haus nicht mehr verlassen."

Dass sein mutmaßlicher Stalker nun endlich, zehn Jahre nachdem er Quagliarella erstmals belästigt hatte, hinter Gitter gebracht wurde und die Familie nie mehr behelligen kann, beruhigt den ehemaligen Nationalspieler, der mit 39 noch immer bei Sampdoria unter Vertrag steht. "Es fällt eine riesige Last von meinen Schultern. Wenn sie einem Polizisten vier Jahre und acht Monate geben, bedeutet das schon etwas."

Piccolo auf freiem Fuß - Stand jetzt

Tut es das? Die Wahrheit ist, Piccolo sitzt mitnichten im Gefängnis. Nicht nur das, er arbeitet weiterhin als Polizist, wurde lediglich an eine andere Dienststelle versetzt. Das ergeben Recherchen von Bleacher Report im Zuge der Quagliarella-Story. Die Reporter machen den mutmaßlichen Stalker an seinem neuen Arbeitsplatz in Cava de Tirreni, einem beliebten Küstenort in Kampanien, ausfindig, stellen ihn zur Rede. Er beharrt auf seiner Unschuld, hofft, dass alles bald ans Licht kommt, wie er sagt.

"Sie (die Polizei, Anm. d. Redaktion) haben mir eine andere Position gegeben", ruft er dem Journalisten zu. "Ich erledige nur Papierkram. Sobald der Fall aufgeklärt ist, kann ich endlich in meinen alten Job, in mein altes Leben." Er habe den Menschen immer nur helfen wollen, schwört er weiter.

Dass Piccolo trotz des Schuldspruchs in erster Instanz seiner Arbeit nachgehen kann, hängt mit dem Rechtssystem zusammen. Zweimal hat man die Möglichkeit hat, ein gesprochenes Urteil anzufechten, um seine Unschuld zu beweisen. Heißt: In diesem Falle würde ein Verfahren über maximal drei Instanzen laufen, bis der Schuldspruch de facto vollzogen wird. Nach der Verurteilung im Februar 2017 legte Piccolo Berufung ein, zog vor den Appellationsgerichtshof (italienisch: Corte d'appello, Anm. d. Red.), der das Verdikt erst vor rund vier Monaten bestätigte. Dem vermeintlichen Quagliarella-Stalker bleibt nunmehr noch die Chance, die Richter vor dem Corte di Cassazione in Rom, dem höchsten Gericht des Landes, zu überzeugen. 

Quagliarella celeb Sampdoriagetty images

Und Quagliarella? Der steht heute endlich wieder auf der Sonnenseite des Lebens. Im Stadio Diego Armando Maradona wegen seines Wechsels zu den unliebsamen Bianconeri löste seine unglaubliche Geschichte doch gleichermaßen große Betroffenheit und Reue für die einstigen Schmähungen bei einem Großteil der Neapel-Anhänger aus. "Wir haben ihn so sehr gehasst", sagt ein Camorristi. "Wir haben schlimme Lieder gegen ihn gesungen: 'Du bist ein Haufen Müll, ein Arschloch, Du hast Dich verkauft!' Aber als wir die Wahrheit erfahren haben, war klar, dass wir das begraben müssen. Es ist unsere Pflicht, uns dafür zu entschuldigen. Wir würden uns wünschen, dass er irgendwann zurückkommt. Wir tragen ihn im Herzen."

Und so wurde kurz nach Bekanntwerden des Ganzen eigens für ihn ein Banner der Napoli-Fans präsentiert, das die Aussöhnung schöner nicht hätte skizzieren können: "Du hast die Hölle mit enormer Würde durchlebt. Wir werden dich wieder in die Arme schließen, Fabio, Sohn dieser Stadt."

Balsam für eine geschundene, jahrelang gegeißelte Seele.

Werbung