Benjamin Henrichs von RB Leipzig im Interview: "Nach der Rechnung sah ich den Sprachlehrer nie wieder"

Benjamin Henrichs war einst die große Entdeckung bei Bayer Leverkusen und wurde mit 19 Jahren Nationalspieler. Sein Wechsel zur AS Monaco machte sich jedoch nicht bezahlt und als Henrichs zu RB Leipzig ging, war er "echt abgeschrieben" - bis dort Domenico Tedesco Trainer wurde.

Im Interview mit GOAL und SPOX spricht Henrichs vor dem Supercup gegen den FC Bayern München (Sa., 20.30 Uhr im LIVETICKER) über einen teuren Sprachlehrer, einen schreienden Polizisten, 50 Top-Models und die sportlichen Schwierigkeiten mit kuriosen Trainerwechseln in Monaco.

Zudem erklärt der Außenverteidiger die Probleme, die er unter Leipzigs Ex-Trainer Jesse Marsch hatte, wie er mit der damaligen Kritik an ihm umging und weshalb er keinen Fokus auf eine WM-Teilnahme legt.

Herr Henrichs, in Ihrer Freizeit spielen Sie Keyboard und haben sich die meisten Handgriffe mit Lehrvideos auf YouTube selbst beigebracht. Wie kam es denn ursprünglich dazu?

Benjamin Henrichs: Angefangen hat es mit dem Film "Ziemlich beste Freunde". Als ich den sah, wollte ich die Hauptmelodie spielen können. Ich habe mir dann zu meiner Zeit in Monaco einfach mal ein Keyboard gekauft. Ich wollte Lieder spielen können, die mir selbst gefallen und habe dann bei YouTube geguckt, ob es da etwas gibt, das mich weiterbringt.

Wie regelmäßig spielen Sie und was ist Ihr Paradestück?

Henrichs: Total regelmäßig nicht, aber schon hin und wieder. Ich würde gerne besser werden, aber die Konstanz fehlt ein wenig. Notenlesen kann ich nicht, ich lerne das alles immer auswendig. Was ich neben "Ziemlich beste Freunde" auch gut kann ist der Song "Aicha" von Khaled.

Das Thema Konstanz zieht sich auch etwas durch Ihre Karriere: Bald sind Sie seit sechs Jahren Nationalspieler, kommen aber erst auf sieben Länderspiele. Auch in Monaco erlebten Sie ständige Veränderungen gerade auf der Trainerbank, in Leipzig hatten Sie nun auch schon drei Trainer. Wie blicken Sie darauf?

Henrichs: Das A und O ist es, einen Trainer zu haben, der dir vertraut und auf dich baut. Ist das der Fall, ist es schlichtweg einfacher, Leistung zu bringen. Ich hatte solche Trainer bereits einige Male, einige andere Male aber auch nicht. Wenn du oft nur auf der Bank sitzt, hast du nur Kurzeinsätze, um zu zeigen, wie gut du bist - und das ist eben sehr schwer. Was ich durch die vielen Trainerwechsel, die ich erlebt habe und die mangelnde Konstanz, die damit für einen persönlich einhergeht, gelernt habe: Man muss im Training einfach dranbleiben und alles geben, gerade wenn man nicht spielt. Sonst hast du keine Chance, wenn die Karten nach einem Trainerwechsel neu gemischt werden.

Benjamin Henrichs Monaco 2018Getty Images

Sie waren von 2004 bis 2018 bei Bayer Leverkusen und gingen nach Monaco, weil Sie unter Heiko Herrlich anders als zuvor unter Roger Schmidt keine große Rolle mehr spielten. Mit 21 Jahren im Ausland - war das Ihr Wunsch oder waren Sie selbst ein wenig überrascht, als Sie die Bundesliga verlassen haben?

Henrichs: Im ersten Moment vielleicht schon, aber am Ende musst du gucken, welche Angebote auf dem Tisch liegen und welches davon das sinnvollste ist. Ich habe mir alle davon genau angehört. Monaco wurde Zweiter und hat mir Champions-League-Fußball geboten, das Niveau der Mannschaft war dem in Leverkusen nicht unähnlich. Dazu hat mir der Trainer in den Gesprächen signalisiert, dass er mit mir als Stammspieler plant. Das war ein Paket, das nur schwer zu überbieten war.

Stimmt es, dass es der Ihnen aus Leverkusen gut bekannte Michael Reschke zu seiner Zeit als Kaderplaner beim FC Bayern München auch versucht hat, Sie zu verpflichten?

Henrichs: Vielleicht. (lacht)

Im ersten Jahr in Monaco kamen Sie zwar in der Königsklasse zum Einsatz, der Verein rutschte aber in den Abstiegskampf. Zudem wurde der langjährige Trainer Leonardo Jardim, der Sie geholt hatte, von Thierry Henry ersetzt, nur um drei Monate später wieder dessen Nachfolger zu werden. Wie sehr fühlten Sie sich da wie im falschen Film?

Henrichs: Ich habe tatsächlich über den Instagram-Kanal von 433 erfahren, dass Henry gefeuert wird. Da war ich schon ein kleines bisschen geschockt. Ich habe dann Youri Tielemans kontaktiert, der Henry von der belgischen Nationalelf gut kannte. Der meinte, das würde stimmen und dass Jardim wohl zurückkommen würde. Im ersten Moment konnte ich das nicht glauben - und am nächsten Tag stand tatsächlich Jardim wieder da. Das war sehr überraschend. In Deutschland wäre eine solche Rückholaktion wohl nicht darstellbar gewesen, aber in Frankreich war es möglich.

War dann das Verhältnis von Jardim zur Mannschaft ein anderes?

Henrichs: Nicht unbedingt, aber es war schon eine sehr komische Situation. Sportlich lief es gar nicht, wir haben gefühlt jedes Spiel verloren und auf einmal kommt der Trainer wieder, mit dem wir kurz zuvor auch schon nicht erfolgreich waren.

Wie war es mit einem ehemaligen Weltklassefußballer wie Henry?

Henrichs: Er war ein richtig guter Trainer. Würde er heute eine echte Top-Mannschaft übernehmen, das würde funktionieren. Man merkte, dass er dermaßen viel Wissen von der Materie hat. Das war echt beeindruckend. Sein Training war sehr fordernd. Und er ist halt einfach Thierry Henry, eine echte Legende.

Gab es in oder nach dieser ersten Saison einen Moment - gerade in der Rückrunde saßen Sie häufig auf der Bank -, in dem Sie am liebsten wieder gegangen wären?

Henrichs: Nein. Bereut habe ich den Wechsel auf gar keinen Fall. Dafür habe ich mich in dieser Zeit auch als Mensch zu sehr weiterentwickelt. Natürlich haben sich meine Hoffnungen dort nicht erfüllt. Wir hatten extrem viele junge Spieler und es stellte sich heraus, dass das Niveau damals in Leverkusen doch höher war. Als ich dann in der zweiten Amtszeit von Jardim auf einmal weniger gespielt habe, dachte ich mir schon: Was habe ich gemacht, was passiert hier gerade? Anschließend kam wieder ein neuer Trainer. Generell kann ich sagen, dass ich im Fußball mittlerweile viele unterschiedliche Situationen erlebt und dabei gelernt habe, dass oft einfach Geduld gefragt ist. Auch wenn es sehr schwer ist, sie in diesen Situationen dann auch zu haben.

Was heißt denn als Mensch weiterentwickelt genau, können Sie das konkretisieren?

Henrichs: Ich habe in relativ kurzer Zeit Französisch gelernt. Das hilft mir jetzt generell, aber gerade in Leipzig im Umgang mit den französischsprachigen Spielern. Ich lebte mit 21 Jahren allein im Ausland und habe mich um viele organisatorische Dinge kümmern müssen. Ich hatte in Leverkusen zwar auch schon eine eigene Wohnung, aber die war nur fünf Minuten von meinem Elternhaus entfernt. In Frankreich konnte ich nicht schnell mal rüber zu meinen Eltern, sondern war auf mich allein gestellt und musste das Zeug erledigen, wenn etwas anstand. Das waren einige Schritte, die ich zuvor auf diese Weise noch nicht gemacht hatte.

Sie haben einmal erzählt, dass es im Verein keinen Dolmetscher gab, Sie aber kurze Zeit einen Sprachlehrer hatten, den der Klub jedoch aus Kostengründen abbestellt hat. Was hatte es damit auf sich?

Henrichs: Der Lehrer verbrachte rund vier Stunden täglich mit mir. Er war beim Einkauf im Supermarkt dabei, am Strand, er kam überall mit. Mit ihm habe ich Englisch-Französisch gelernt, nicht Deutsch-Französisch. Ich kann es daher nun zwar sprechen, aber fast nicht lesen und schreiben. Nach den ersten zwei Wochen stellte er eine Rechnung an den Verein und die schien wohl etwas zu höher gewesen zu sein, denn ich sah ihn danach nie wieder. (lacht)

Und anschließend waren Sie diesbezüglich auf sich allein gestellt?

Henrichs: Gewissermaßen. Ich hatte zum Glück Diego Benaglio im Team, der gefühlt jede Sprache der Welt spricht. In den zwei Wochen mit dem Lehrer habe ich schon wirklich viel gelernt, danach hatte ich keinen Unterricht mehr. Den Rest habe ich in der Kabine aufgenommen.

Fremdes Land, andere Sprache, mondäne Stadt - wie groß war der Kontrast zu all dem, das Sie aus Deutschland kannten?

Henrichs: Riesig. Es war alles sehr ungewohnt. Vor allem die Preise waren exorbitant, ob bei der Miete oder wenn du eine kleine Cola getrunken hast. Monaco ist relativ klein, alles ist eng beieinander und es fühlt sich wie eine eigene Welt an. Ich habe versucht, mich so gut es geht anzupassen. Auf der anderen Seite machst du dort das Fenster auf, guckst aufs Meer, siehst den Palast von Prinz Albert und hast enorm viele Freizeitmöglichkeiten. Langweilig wird einem dort gewiss nicht. Und wenn man alles gesehen hat, fährt man eben nach Nizza, Cannes oder St. Tropez.

Ist Ihnen einmal irgendeine Panne im Alltag unterlaufen?

Henrichs: Ich wurde einmal bei einer Verkehrskontrolle von einem Polizisten angehalten und habe dann versucht, mit meinem bescheidenen Französisch weiterzukommen. Dabei muss ich ihn dann wohl geduzt haben, weil ich das mit dem Siezen noch nicht drauf hatte. Da hat er mich dann angeschrien, ich habe die Welt nicht mehr verstanden. Dabei konnte er eigentlich ganz gutes Englisch und war damit sozusagen eine Ausnahme. Doch er hat sich erst einmal quergestellt.

Wie viel Bling-Bling und Oberflächlichkeit erlebt man dort?

Henrichs: Das erlebt man an jeder Ecke. Man braucht schon einen klaren Verstand, um der Versuchung zu widerstehen, sich der dortigen Lebensart hinzugeben. Mir fiel das ehrlich gesagt nicht so schwer, denn ich war da, um mich auf den Fußball zu konzentrieren. Ich weiß noch, da war ich bereits in Gesprächen mit Leipzig, wie meine Schwester zu Besuch kam und wir in einem Restaurant saßen. An dem Abend wurde irgendeine Show geboten, da liefen bestimmt 50 Top-Models herum. Ich habe dann zu meiner Schwester gesagt: Ich habe jetzt echt den Punkt erreicht, ich will hier nicht mehr sein. Ich will lieber schlafen gehen und morgen um 10 Uhr zum Training auf den Platz stehen.

Nachdem Jardim Ende 2019 erneut entlassen wurde, kam mit dem Spanier Robert Moreno der nächste neue Coach. Moreno blieb nur ein halbes Jahr, dann folgte Niko Kovac - Sie waren aber fünf Tage vor dessen Verpflichtung bereits an RB Leipzig verliehen worden.

Henrichs: Ich hatte keine Ahnung, dass Kovac kommen würde und zu ihm daher auch keinen Kontakt. In Monaco war es nach zwei wenig zufriedenstellenden Spielzeiten und der Corona-Pause, in der ich mich lange in Deutschland aufhielt, für mich vorbei. Ich wollte eine neue Herausforderung haben.

Julian Nagelsmann war derjenige, der Sie unbedingt nach Leipzig holen wollte. Welchen Eindruck hat er auf Sie gemacht, als Sie ihn kennenlernten?

Henrichs: Es waren vor allem sehr offene Gespräche. Auch Markus Krösche war dabei, den ich noch aus Leverkusen kannte. Sie haben mir keine großen Versprechungen gemacht, die Kommunikation fand ich sehr klar und angenehm. Ich musste mich einem offenen Konkurrenzkampf stellen, aber war der Meinung, dass ich mit meinem Spielstil gut in diese Mannschaft passen würde.

Wirklich aufwärts ist es dann in Leipzig nicht gerade gegangen: Erst warfen Sie Patellasehnenprobleme aus der Bahn, dann ging Nagelsmann, Sie kamen mit einer Knieverletzung von Olympia 2021 zurück und unter Jesse Marsch spielten Sie kaum. Wie erging es Ihnen in dieser Zeit?

Henrichs: Ich habe mich in der ersten Saison schon schwer getan. Die Mannschaft hat funktioniert, war eingespielt und hat fast jedes Spiel gewonnen. Ich dagegen konnte wegen Corona über Monate nur im Kraftraum in meiner Heimat trainieren und kam dazu noch aus einer Verletzung nach Leipzig. Ich bin dort dann direkt ins Training eingestiegen und bekam durch die Überbelastung Probleme. Julian hat aber immer offen mit mir kommuniziert. Ihm war klar, dass es schwer für mich ist. Er hat aber gesagt, ich trainiere gut und soll weiter Gas geben, weil irgendwann die Chance kommen würde.

Das war dann unter Marsch ganz anders.

Henrichs: Jesse stand eher weniger auf mich. Auch er meinte immer, ich würde gut trainieren, aber eine Chance bekam ich nicht wirklich.

Henrichs MarschImago Images

In dieser Zeit hatte auch die Wahrnehmung Ihrer Person gelitten, Sie standen öffentlich in der Kritik.

Henrichs: Es war die schwerste Zeit meiner Karriere, weil ich echt abgeschrieben war. Ich ging zum Training und gefühlt wusste ich, ganz egal wie ich trainiere, ich werde am Wochenende nicht spielen. Wenn das dann so weit geht, dass positionsfremde Spieler vor dir auf deiner angestammten Position eingesetzt werden, dann hinterfragt man schon einiges. Auch wenn man es nicht will, bekommt man die negativen Schwingungen und die Kritik zum Beispiel über die sozialen Medien natürlich mit, selbst wenn man sich bei Instagram eigentlich nur ein paar Bilder anschauen wollte. Doch am Ende muss man sich als Fußballer einfach damit abfinden, es bleibt einem kaum etwas anders übrig.

Sie sind bereits mit 19 Nationalspieler geworden, Ihre Entwicklung ging rasant nach oben. Inwiefern hatten Sie denn Probleme damit, dass Sie recht schnell nicht mehr als Talent galten, sondern als Nationalspieler, an den fortan ein anderer Maßstab angelegt wurde?

Henrichs: Das war definitiv der Fall. Als ich Nationalspieler wurde, hatte ich 18 Bundesligaspiele und nicht alle davon gingen über 90 Minuten. Kaum war ich von der Nationalmannschaft zurück, waren meine Noten im Kicker längst nicht mehr so gut wie zuvor. Man guckt sich so etwas als junger Spieler natürlich genau an und liest sich alles durch, das ist ja klar. Ich habe das auch gerne gemacht. Mit der Zeit habe ich jedoch davon Abstand genommen. Heute bekomme ich so etwas nur von meinen Kumpels mit, wenn die sagen: Ey, du hast bei Kickbase wieder keine Punkte gemacht, jetzt verkaufe ich dich! (lacht) Es kommt aber öfter vor, dass man sich denkt, man hat eigentlich eine ganz gute Partie abgeliefert, die öffentliche Bewertung das dann aber etwas anders sieht.

Wie brutal schnell es im Fußball auch wieder aufwärts gehen kann, zeigte sich bei Ihnen in der vergangenen Rückrunde: Unter Domenico Tedesco wurden Sie Stammspieler und Pokalsieger, dazu kam nach knapp eineinhalbjähriger Pause wieder die Einladung zur Nationalmannschaft. Lässt sich ein solcher Umschwung wirklich nur mit dem Vertrauen des Trainers erklären?

Henrichs: Ich glaube, das ist bei jedem Spieler anders. Es gehört auch schlicht Glück dazu. Domenico baut auf mich, das war zuvor anders. Ich war dann aber auch bereit, als meine Chance kam und habe abgeliefert. In den ersten elf Spielen unter ihm war ich an sechs Toren beteiligt, eine solche Quote hatte ich noch nie. Das spricht dafür, dass ich vom Kopf her verstanden habe, wie ich mit den schweren Phasen, in denen dich viele abschreiben und die Öffentlichkeit sagt, man sei zu schlecht, umzugehen habe.

Sie wurden jetzt im Jahr der WM in Katar für beide Lehrgänge des DFB-Teams nominiert, kamen 68 Minuten und in vier der sechs Partien gar nicht zum Einsatz. Wäre es eine große Enttäuschung, wenn Sie die WM so kurz vor dem Ziel verpassen würden?

Henrichs: Ich lege darauf keinen Fokus, sondern muss schauen, dass ich meine zuletzt gebrachten Leistungen auch weiter bringe - Stichwort Konstanz. Genau das benötige ich jetzt. So bin ich auch wieder in die Nationalelf gekommen und nicht dadurch, dass ich das in Interviews gesagt habe und Hansi Flick anschließend meinte, er habe das gelesen und mich daher nominiert. (lacht) Wenn ich nach wie vor konstant gute Leistungen zeige, glaube ich auch, dass ich am Ende bei der WM dabei sein werde.

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