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"Unsere Köpfe und Herzen heilen": Warum Georgien bei der EM für Furore sorgen kann

Jede EM oder WM braucht einen Underdog, der alle schon mit seiner Teilnahme überrascht. Bei der EM 2024 in Deutschland ist das sicherlich Georgien. Das osteuropäische Land will nach der erstmaligen Qualifikation für ein großes Turnier voller Hochs und Tiefs auch bei der Endrunde selbst überraschen.

Auf der Trainerbank sitzt ein bekannter Name und auf dem Feld steht ein Superstar, der die Träume des kleinen Landes wahr werden lassen soll. Willy Sagnol, einstiger Rechtsverteidiger des FC Bayern München, wird in dem ihm bestens bekannten Land wieder die besten Taktiken ausklügeln. Eine zentrale Rolle im georgischen Kader wird natürlich Khvicha Kvaratskhelia von der SSC Neapel spielen.

"Jetzt, wo sie [die Spieler] sich qualifiziert haben, wollen sie versuchen, in der Gruppe weiterzukommen und vielleicht das Achtelfinale oder Viertelfinale zu erreichen", sagte er im Interview mit dem Portal The Athletic. "Wir werden mit diesem Ehrgeiz antreten. Wir wissen, dass es sehr, sehr, sehr schwierig werden wird. Aber sie haben so lange davon geträumt, an einem großen Wettbewerb teilzunehmen, dass es schade wäre, dorthin zu gehen und nicht alles zu tun, was wir können." Am Dienstag ab 18 Uhr wartet zunächst die Türkei in Dortmund, danach geht es noch gegen Tschechien und Portugal.

Aber wie hat Georgien seine historische erste Teilnahme an einem großen Turnier erreicht und wer sind die Schlüsselfiguren hinter diesem Erfolg? GOAL analysiert die Details.

  • Scott McTominay Scotland Georgia 2023Getty

    Georgien: In der EM-Quali-Gruppe nur Vierter

    Georgien hat sich nicht auf die gleiche Art und Weise wie die meisten anderen EM-Teilnehmer für das Turnier qualifiziert - als einer der ersten beiden in den Qualifikationsgruppen.

    Die Kaukasen belegten in ihrer EM-Qualifikationsgruppe A nicht einmal den dritten, sondern nur den vierten Platz hinter Spanien, Schottland und Norwegen. Nur acht Punkte aus acht Spielen sammelte Georgien und verlor unter anderem 1:7 gegen Spanien - alles andere als EM-tauglich also.

    Doch in der Nations League C, Gruppe 4, zeigte die Nation dafür, was sie drauf hat. Gegen Bulgarien, Nordmazedonien und Gibraltar holte sie in sechs Partien 16 von 18 möglichen Punkten. Gegen die Kleinen lief es.

    Damit erwarb Georgien ein Ticket für die EM-Play-offs. Im Pfad C warteten Luxemburg, Kasachstan und Griechenland. Im Halbfinale wurde Georgien Luxemburg zugelost - der 87. der FIFA-Weltrangliste.

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  • Georgia fan UEFA EURO 2024 qualifying Getty

    55.000 Georgier in Tiflis beim entscheidenden Spiel gegen Griechenland

    Georgien gewann gegen Luxemburg ohne seinen gesperrten Talisman Kvaratskhelia mit 2:0. Budu Zivzivadze vom Karlsruher SC wurde dafür mit einem Doppelpack zum Helden des Abends und schoss sein Land ins Finale.

    Sagnols Männer trafen dort dann auf Griechenland, das zuvor Bulgarien ausgeschaltet hatte. Die Favoritenrolle lag klar bei den Griechen, die die EM vor 20 Jahren gewonnen hatten. Das einzige Hindernis: 55.000 lautstarke Georgier in der Hauptstadt Tiflis.

    Nach 90 wie auch nach 120 Minuten gelang keiner Mannschaft ein Tor. Kvaratskhelia spielte nach seiner Verletzung 109 Minuten lang mit, einen Elfmeter schoss der 23-Jährige jedoch nicht mehr. Doch auch ohne ihn entschied Georgien den Shootout sensationell für sich.

    Torhüter Giorgi Mamardashvili parierte den ersten Elfmeter Griechenlands. Später verschoss zudem der gegnerische Stürmer Giorgos Giakoumakis, so dass der eingewechselte Nika Kvekveskiri mit dem vierten Treffer zum Helden avancierte.

    Nach seinem verwandelten Elfmeter kam es zu tumultartigen Szenen, als die heimischen Fans auf das Spielfeld strömten, um die erstmalige Qualifikation für ein großes Turnier zu feiern. Georgien war bei der Europameisterschaft dabei.

  • Khvicha Kvaratskhelia Georgia 2023Getty Images

    Georgiens Superstar Khvicha Kvaratskhelia in den Playoffs unauffällig

    Obwohl er in den entscheidenden Playoff-Spielen keinen entscheidenden Beitrag leisten konnte, ist Kvaratskhelia das Aushängeschild dieser geschichtsträchtigen georgischen Mannschaft. Aus der relativen Bedeutungslosigkeit heraus hat sich der trickreiche 23-Jährige in der Serie A zu einem der besten Flügelspieler der Welt entwickelt - auch wenn er für sein Land nicht nur auf die linke Seite gebunden ist.

    Seine Saison 2022/23 mit Neapels Titelgewinn war sicherlich seine bisher beste. Doch auch im georgischen Trikot überzeugte er. Ohne ihn wäre das Land sicher nicht über die Nations League in die Playoffs gekommen.

    "Kvaradona", in Anlehnung an Diego Maradona (einst bei der SSC Neapel) traf zwischen Juni und September 2022 in sechs Spielen der Nations League fünf Mal und legte drei weitere Tore für seine Mannschaftskameraden auf - gegen Bulgarien, Nordmazedonien und Gibraltar.

    In der EM-Quali stieg seine Form hingegen erst gegen Ende, als er in den letzten vier Spielen als Mittelstürmer drei Tore erzielte.

    "Einige haben nicht an uns geglaubt, aber jetzt werden sie es glauben", sagte Kvaratskhelia nach der geschafften Quali zu 1TV Sport. "Wir sind glücklich. Ich habe noch nie in meinem Leben ein solches Gefühl gehabt."

    Kurz vor dem Turnier meldeten sich jedoch sein Vater und Berater zu Wort - und erklärten, dass Kvaratskhelia die SSC Neapel verlassen wolle. Georgiens Trainer Sagnol passte das jedoch überhaupt nicht in den Kram und rüffelte den Offensivspieler.

  • Giorgi MAMARDASHVILI-georgia-20240326-euro 2024 po(C)Getty Images

    Auch Torhüter Mamardashvili und Mikautadze auf Top-Niveau

    Es dreht sich aber nicht alles nur um "Kvaradona". Wenngleich die georgische Abwehr nicht über Spieler von höchstem Niveau verfügt, ist die Fünferkette perfekt eingespielt. Neben Kvaratskhelia gibt es noch weitere Spieler von gutem Niveau im Team.

    Torhüter Mamardashvili vom FC Valencia ist erst 23 Jahre alt, gilt als potenzielles Weltklasse-Talent und wurde auch schon mit dem FC Bayern München in Verbindung gebracht. Kapitän Guram Kashia ist ein erfahrener Anführer in der Innenverteidigung, und dann gibt es noch den bereits erwähnten Kvaratskhelia und den in Frankreich geborenen Stürmer Georges Mikautadze vom FC Metz, der bald zur AS Monaco wechseln könnte.

    Vor allem Marmadashvili und Mikautadze sind in der Lage, ihr Potenzial bei der EM zu zeigen. Marmadashvili hat sich in Valencia in LaLiga als starker Torwart bewährt. Er wird besonders im Fokus stehen, wenn Georgien in der Defensive zu kämpfen hat. In der Saison 2023/24 lag seine Bilanz von erwarteten abgewehrten Torschüssen (xG minus Gegentore), bei bemerkenswerten +10,2 - damit war er besser als 97 Prozent aller Keeper in Europa.

    Mikautadze kommt zudem in blendender Form zum Turnier, nachdem er in der Ligue 1 in nur sieben Spielen in der Rückrunde acht Mal getroffen hat. Nach einer hervorragenden Saison 2022/23 in der Ligue 2 wurde er im Sommer von Metz an Ajax Amsterdam verkauft. Im Januar 2024 kam er per Leihe jedoch schon wieder zurück nach Metz, nachdem er sich in Amsterdam schwer getan hatte.

  • Willy Sagnol GreeceGetty Images

    Ex-FC-Bayern-Star Willy Sagnol schafft professionelle Strukturen in Georgien

    Mit Bayerns fünffachem Meister Willy Sagnol hat Georgien einen bekannten Namen auf der Trainerbank. Obwohl er bisher nur über begrenzte Erfahrung als Coach verfügt, wurde er 2021 mitten in der Covid-19-Pandemie mit der Aufgabe betraut - kurz nach der verpassten EM-Quali 2021 gegen Nordmazedonien.

    "Wir mussten wieder anfangen, uns aufzubauen und unsere Köpfe und Herzen zu heilen, weil es [die verpasste Qualifikation für die EM 2021] eine große Enttäuschung war", sagte Sagnol der UEFA vor dem Turnier. "Es war, als ob ein Traum zu Ende gegangen wäre. Es hat Zeit gebraucht."

    Dem Franzosen, der bei seinen Spielern sehr beliebt ist, gelang es aber auch nicht, Georgien zur WM 2022 nach Katar zu bringen. Doch dann klappte das kleine Wunder.

    "Wir haben die Perspektive der Spieler und aller Beteiligten auf den Fußball entwickelt. Wir mussten die Dinge ein wenig umstellen, um alles ein wenig mehr an die Anforderungen des Spitzensports anzupassen. Die Spieler haben in dieser Hinsicht fantastisch gearbeitet. Sie arbeiten nun schon seit zwei oder drei Jahren daran, viele Dinge zu ändern. Einige von ihnen haben sogar ihre gesamte Herangehensweise an den Fußball geändert. Das ist auch eine Belohnung für die Jungs, denn sie haben schon lange an dieses Ziel geglaubt."

  • georgia-play off-20240326(C)Getty Images

    EM 2024: Georgiens Chancen auf das Weiterkommen sind gering - aber vorhanden

    Die Chancen Georgiens, bei der Endrunde in Gruppe F weiterzukommen, sind sehr gering. Schon vor den Playoffs wussten die Kaukasier, dass sie auf der großen Bühne auf Portugal, die Türkei und Tschechien treffen würden. Mit einem Sieg wären die Chancen auf das Achtelfinale jedoch gut - und das ist schließlich das ausgegebene Ziel des Trainers.

    Aber Sagnol weiß, dass dieser Sommer nicht als Endpunkt der Entwicklung angesehen werden sollte; nicht als Georgiens einzige Chance, bei einem großen Turnier aufzutreten und etwas zu erreichen, sondern eher als ein Sprungbrett auf dem Weg zu beständigerem Erfolg.

    "Ich hoffe, dass die Teilnahme an der Europameisterschaft sowohl dem Verband als auch der georgischen Nation eine Erfahrung bringt, die uns in der Zukunft zu neuen Höchstleistungen anspornen wird", sagte der Trainer gegenüber der UEFA. "Das Ziel ist, dass alle - die Spieler, der Stab und der Verband - bei diesem wunderbaren Turnier Erfahrungen sammeln können."