Real Madrids unwahrscheinlichster Held: Andrij Lunins irrer Aufstieg vom Keeper Nummer drei zum Heilsbringer in der Champions League

Real Madrid stand im vergangenen Sommer mit dem Rücken zur Wand: Stamm-Keeper Thibaut Courtois schien mit Sicherheit einen Großteil der Saison zu verpassen - in der Saisonvorbereitung hatte er sich einen Kreuzbandriss zugezogen, später kam sogar noch eine Meniskusverletzung dazu.

Den Reserve-Keepern aus den eigenen Reihen, allen voran Andrij Lunin (25), schien Reals sportliche Leitung nicht zuzutrauen, eine ganze Spielzeit lang Courtois vertreten zu können, wenngleich Trainer Carlo Ancelotti noch betonte: "Wir haben vollstes Vertrauen in Lunin und in den nächsten Tagen werden wir sehen, ob wir noch einen weiteren Torhüter verpflichten werden."

Was man halt so sagt. Real holte schließlich den einst teuersten Keeper der Welt - Kepa Arrizabalaga. 80 Millionen Euro hatte sich Chelsea die Dienste des Spaniers einst kosten lassen - der richtige Durchbruch gelang ihm dort nie, nun wechselte er für eine Million Euro auf Leihbasis zu Real. Auch die Bayern hatten ihn verpflichten wollen, nachdem damals nicht abzusehen war, wann Manuel Neuer von seiner Verletzung zurückkommen würde.

Neuer ist längst wieder fit - und stark wie eh und je. Doch wenn Real Madrid am Dienstag im Halbfinalhinspiel der Champions League auf den FC Bayern trifft, wird Kepa das Tor aller Voraussicht nach nicht hüten.

  • Kepa Arrizabalaga Real Madrid 2023-24Getty

    Andrij Lunin nutzt Kepas Verletzung

    Als der 29-Jährige im Sommer kam, war er zunächst in 13 Spielen in Folge gesetzt, bis ihn schließlich eine Adduktorenverletzung ausbremste. Lunin war zur Stelle und ersetzte ihn in sechs Partien mehr als adäquat. Als Kepa in die Startelf zurückkehrte, konnte er nicht an seine vorherigen Leistungen anknüpfen und leistete sich im Gegensatz zum zuvor stabil spielenden Lunin zu viele Fehler.

    Also kehrte Lunin zurück ins Tor. Vom 27. Januar bis zum vergangenen Wochenende verpasste der 25-jährige Ukrainer keine Minute mehr. In der letzten Partie gegen Real Sociedad durfte Kepa nochmal ran. Zuvor machte Lunini 28 Spiele für Real in dieser Saison, zwölfmal spielte er zu Null.

    Nicht schlecht für einen, der es vor dem Sommer 2023 in fünf Jahren bei Real Madrid gerade mal auf 17 Einsätze für die Königlichen gebracht hatte.

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  • Parallelen zu Bayerns Manuel Neuer und Furore in der Champions League

    Wegen seiner beachtlichen Größe von 1,91 Meter wird Lunin manchmal mit Manuel Neuer verglichen - auch sein Spielstil ist ähnlich. Seine Stärken liegen in der technisch sauberen Ballverarbeitung und -verteilung, bei den Reflexen und im Abfangen von hohen Bällen. In der Saison  2023/24 kommt er in LaLiga auf eine Quote von 76,6% abgewehrter Torschüsse. Kein Torhüter mit mindestens fünfzehn Einsätzen in dieser Saison weist in Spanien einen besseren Wert auf.

    Auch in der Nationalmannschaft, für die er zuvor zwei Jahre lang nicht mehr berücksichtigt worden war, konnte er in den EM-Quali-Playoffs in der Startelf glänzen und war mit dafür verantwortlich, dass die Ukraine sich für die EM 2024 in Deutschland qualifizierte.

    In der Champions League liegt der Ukrainer in den Top 5 der Keeper mit den meisten Paraden: 31 Paraden in nur sechs Partien sind bärenstark! Die Rangliste führt Atlético Madrids Jan Oblak mit 40 Paraden an.

    Im Achtelfinal-Hinspiel gegen RB Leipzig, das Real 1:0 für sich entschied, verhinderte Lunin 2,19 erwartete Tore. Außerdem sorgte er mit neun Paraden im Spiel für einen Rekord: Seit 2003/04 gab es abgesehen von Thibaut Courtois - 2022 im Finale gegen Liverpool - keinen Real-Keeper, der in einem Spiel ohne Gegentor mindestens neun Paraden zeigen musste. Trainer Carlo Ancelotti zeigte sich begeistert: "Lunin war super, ausgezeichnet. Das war mit Sicherheit Lunins bestes Spiel, seit ich ihn kenne."

    Doch es ging noch besser: Das größte Spiel seiner bisherigen Karriere folgte einige Wochen später im Viertelfinal-Rückspiel der Champions League gegen Manchester City. Lunin sicherte seiner Mannschaft mit einem überragenden Auftritt und zwei Glanzparaden im entscheidenden Elfmeterschießen das Weiterkommen.

    Im TV konnte man erkennen, dass sich Kepa und Lunin zuvor intensiv über die Schützen austauschten. Bei einem Spieler sollte der Ukrainer stehen bleiben: "Wir haben uns für Bernardo Silva entschieden. Zum Glück hat das geklappt", sagte Lunin später. In der Tat hatte er Bernardo Silvas etwas unmotiviert in die Mitte geschossenen Elfmeter einfach pariert.

  • GERMANY ONLY  Andrij Lunin Ukraine 2019imago images

    Lunin wäre fast bei Ajax Amsterdam gelandet

    Dabei wäre Lunin im Sommer beinahe schon weg gewesen von Real. Ein vom Spieler forcierter Wechsel zu Ajax Amsterdam stand wohl kurz vor dem Abschluss, doch die Königlichen wollten ihn nicht ziehen lassen. Seine Frau Anastasia Lunin schrieb im November des letzten Jahres in einer Instagram-Story: "Wenn es einen Klub gibt, in dem er spielt, dann glaube ich, dass wir gehen werden."

    Verständlich: Bei seiner Verpflichtung 2018 noch als riesiges Torwart-Talent gehandelt - 8,5 Millionen Euro überwiesen die Madrilenen an den ukrainischen Klub Zorya Luhansk - war er fünf Jahre später noch immer zum Bankdrücken verdammt.

    Also kein Wunder, dass er wegwollte: Bis zum Sommer 2023 hatte es Lunin bei Real auf gerade mal 17 Pflichtspieleinsätze gebracht und wurde in der Zeit dreimal verliehen. Für den damals 19-Jährigen ging es von CD Leganés über Real Valladolid zum Zweitligisten Real Oviedo, bei dem er mit 20 Einsätzen zum Klassenerhalt beitrug. 

    2019 gewann Lunin mit der Ukraine die U20-WM, wurde als bester Torhüter des Turniers ausgezeichnet und als Golden Boy nominiert. Sein Idol Iker Casillas bekam den "Golden Glove" ebenfalls schon verliehen - jedoch bei der WM der A-Nationalmannschaften 2010 - wie auch Courtois acht Jahre später in Russland.

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  • Andriy Lunin Real Madrid 2023-24Getty Images

    Andrij Lunin: Der bescheidene Held der Königlichen

    Im Anschluss an den Elfer-Krimi gegen Manchester City stellte die AS fest: “Die Chance, die Frage zu beantworten, die sich so viele gestellt hatten: Ist Lunin der Torhüter für ein großes Spiel? Ja, absolut ja. Lunins Spiel in Manchester war großartig, heldenhaft und vor allem überlebenswichtig.”

    Lunin hingegen zeigte sich bescheiden: "Ich habe nichts zu sagen! Ich bin nicht der Held oder die Hauptperson hier, die Mannschaft ist voller Helden. Alle haben einen großartigen Job gemacht und 120 Minuten lang gekämpft, ich laufe nicht einmal fünf Minuten während eines Spiels. Ich habe sehr hart gearbeitet, ohne viel zu reden, und versucht, meine Chancen zu nutzen, und am Ende des Tages zahlt sich harte Arbeit aus."

    Auch was medial geschieht, liegt weniger in seinem Interesse: "Ich fokussiere mich nur auf den Fußball und auf meine Arbeit." Die Rolle des stillen Helden scheint ihm gut zu Gesicht zu stehen und hat ihm bei den Madridistas in dieser Saison schon Sprechchöre eingebracht. Im Bernabéu aufzulaufen, sei "etwas Unglaubliches. Es ist wie aus einer anderen Welt", schwärmte der Torhüter nach Reals 4:0-Machtdemonstration gegen Girona.

  • Thibaut-Courtois(C)GettyImages

    Wenn Thibaut Courtois zurückkehrt, könnte die Luft bei Lunin dünner werden

    Wenn Courtois wieder einsatzbereit ist, sieht die Welt dagegen vermutlich wieder anders aus. Erst im März dieses Jahres kehrte der Belgier zurück ins Training, aber es folgte der nächste Schock: Der 31-Jährige erlitt erneut eine Knieverletzung - diesmal einen Riss im Innenmeniskus - und wurde sogleich operiert. Auf der Pressekonferenz nach dem 1:0-Sieg gegen Real Sociedad vergangenen Freitag sorgte Carlo Ancelotti nun jüngst jedoch für eine Überraschung: Courtois soll am 4. Mai gegen den FC Cádiz auf den Platz zurückkehren.

    Mindestens das Hinspiel gegen den FC Bayern im Champions-League-Halbfinale wird Lunin aber noch bestreiten. Was dann aus dem Ukrainer wird, bleibt im Gegensatz zu Kepas Zukunft - der Spanier kehrt zu Chelsea zurück - offen.

    Wird Lunin für eine herausragende Saison belohnt und trotz der Rückkehr des Belgiers für die verbleibenden wichtigen Spiele eingesetzt? Oder wird Courtois sofort wieder den Vorzug bekommen?

    Der Vertrag des 25-Jährigen endet im Sommer 2025 - die Vereinsverantwortlichen streben aber wohl eine Verlängerung an. Dass er den Vertrag erfüllen wolle, machte Lunin in der spanischen Fußball-Talksendung El Chiringuito deutlich: "Natürlich" wolle er bleiben, "aber was passieren könnte, weiß nicht mal ich."

    Die Königlichen werden ihn als Nummer zwei behalten wollen, auch wenn er das Potenzial hätte, sich anderswo zu einem Stammspieler auf europäischem Top-Niveau zu entwickeln.

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