"Wir haben im wahrsten Sinne des Wortes auf's Maul bekommen", sagte Leipzigs sichtlich enttäuschter neuer Kapitän David Raum im Anschluss an den 6:0-Kantersieg des FC Bayern München und traf den Nagel damit auf den Kopf. Der deutsche Rekordmeister zerlegte die chancenlosen Sachsen nach einer geschlossen guten Mannschaftsleistung in ihre Einzelteile. Insbesondere die spärlich aufgestellte Offensive überzeugte im Verbund und brachte einen heimlichen und zugleich überraschenden Matchwinner hervor.
IMAGO / Sven SimonNach einem "Schicksalsschlag" plötzlich gefragt wie lange nicht mehr: Beim FC Bayern gibt es einen großen Profiteur des dünnen Kaders
Die Rede ist von Serge Gnabry. Der Nationalspieler wirbelte hinter Dreierpacker Harry Kane und wich wie schon im Supercup situationsbedingt auf die rechte Seite aus, um mit dem ebenfalls überragenden Michael Olise die Positionen zu tauschen. Die Rolle des 30-Jährigen lässt sich am ehesten mit einem freien Radikal definieren, das die gegnerische Defensive aus jeglichen Lagen beschäftigen und Räume öffnen oder in diese selbst vorstoßen soll.
Gnabry muss ob der geringen Auswahl im Münchner Angriff gezwungenermaßen ein großer Faktor sein, obwohl er auch in diesem Sommer wieder zwischenzeitlich als Streichkandidat gehandelt worden war. Schließlich geht er in sein letztes Vertragsjahr. Doch genau das scheint ihm nun nochmal einen Extraschub zu verleihen, mit dem nicht unbedingt zu rechnen war - zumindest aus der Ferne betrachtet. Seine Kritiker strafte er mit einer bärenstarken Leistung jedenfalls Lügen. Endlich, ist man fast schon gewillt zu sagen. Innerhalb der Mannschaft und sportlichen Führung scheint es auch keine Zweifel daran gegeben zu haben, dass Gnabry die Bayern qualitativ auf ein höheres Level heben kann.
"Serge ist ein sehr unterschätzter Spieler. Es gibt die Meinung von Leuten von außen - und dann gibt es unsere Meinung im Verein sowie die seiner Mitspieler. Ich denke, er ist ein sehr unterschätzter Spieler und hat kaum Schwächen. In den wichtigen Spielen für den FC Bayern in der Vergangenheit war er sehr wichtig", sagte Trainer Vincent Kompany bei Sky voll des Lobes und stellte berechtigterweise klar, dass es gegen Leipzig "fast kein Highlight" ohne das Zutun Gnabrys gab. "Das überrascht mich nicht, denn das ist sein normales Niveau. Ich freue mich für ihn. Er hat diese zentrale Rolle sowohl für die Nationalmannschaft als auch für Bayern übernommen. Ich bin froh, dass wir diese Möglichkeit mit Serge haben", ergänzte der Belgier.
In der Mixed Zone schwärmte auch Sportvorstand Max Eberl in den höchsten Tönen von Gnabry. Er sei ebenfalls nicht überrascht von dessen Auftritt gewesen und enthüllte, dass Gnabry in der vergangenen Saison nach einem ebenso vielversprechenden Start neben körperlichen Beschwerden auch eine seelische Leidenszeit durchmachte. Eberl sprach von einem der Öffentlichkeit zuvor unbekannten "privaten Schicksalsschlag", ohne genauer darauf einzugehen. Der Angreifer hätte "also einiges zu tun" gehabt, was ihn wohl auch zwischenzeitlich ausbremste.
"Aber", betonte Eberl, "ich fand ihn schon letztes Jahr auf einem deutlich aufsteigenderen Ast als das Jahr davor. Jetzt ist er körperlich da, er ist bereit und es passt von der Kombination der Jungs her zusammen." Eine Aussage, die sich auch statistisch beweisen lässt. Die Vergangenheit zeigt aber auch, dass über Gnabrys Frühform ein dickes Fragezeichen schwebt.
Getty ImagesGnabrys Zeit beim FC Bayern gleicht einer Achterbahnfahrt - mit vielen Tiefpunkten
Es ist bei weitem nicht das erste Mal in seinen inzwischen sieben aktiven Jahren beim FC Bayern, dass Gnabry in vereinzelten Spielen seine Klasse als Offensiv-Allrounder aufblitzen ließ. Man erinnere an seinen historischen Viererpack in der Champions League gegen Tottenham Hotspur im Jahr 2019, woraufhin bereits wenige Wochen später noch kaum etwas für Gnabry zusammenlief. Seine bisherige Zeit in München gleicht einer Achterbahnfahrt mit vereinzelten Höhen und reichlich Tiefpunkten.
So auch in der Saison 2023/24, auf die Eberl anspielte. Gnabry kam aufgrund zahlreicher Verletzungen auf lediglich 20 Einsätze in allen Wettbewerben, in denen ihm immerhin noch sieben Torbeteiligungen gelangen. Das gesamte Jahr 2023 bezeichnete er später als ein "verlorenes". In der abgelaufenen Spielzeit stand er wieder in 42 Partien auf dem Platz und war an 15 Treffern direkt beteiligt, fiel im Vergleich zu seinen Offensiv-Kollegen aber dennoch ab. Es folgten enttäuschende Auftritte bei der Klub-WM und Nations League, weshalb die Forderungen nach einem Abgang - solange die Bayern noch eine Ablöse für ihn kassieren können - wieder lauter wurden. Ein Stimmungsbild, das Gnabry nunmehr seit Jahren begleitet.
Sein fulminanter Saisonstart ist also mit Vorsicht zu genießen. Die guten Leistung im Supercup gegen den VfB Stuttgart und seine Gala-Vorstellung im Eröffnungsspiel schüren gleichzeitig jedoch neue Hoffnungen auf eine verspätete Erfolgsgeschichte, die bei einem konstanten Abrufen seiner Qualität womöglich sogar in einem Verbleib enden. Die Chancen darauf stehen jedenfalls besser denn je.
Sonderlob zur Halbzeit: Alle schwärmen von Gnabry
Gnabry scheint sich in der aktuellen Situation mit einer deutlich geringeren Konkurrenz sichtlich wohlzufühlen. Nachdem er zunächst vorrangig als Backup für Kane gesehen wurde, ist er ob der neuerlichen Abgänge von Kingsley Coman und Paul Wanner sowie der Verletzung Jamal Musialas kurzerhand zum - salopp ausgedrückt - "Mädchen für alles" aufgestiegen. Schließlich kann Gnabry auf sämtlichen Offensivpositionen eingesetzt werden - und ist daher im Moment auch nicht aus der Startelf wegzudenken. Die Vielseitigkeit in seiner Spielweise kam ihm auch gegen Leipzig zugute. Das 1:0 und 4:0 leitete er jeweils mit einer tollen Bewegung ein, das 2:0 legte er per Hacke für Luis Diaz auf und vor seinem zweiten Assist zum 3:0 ließ er gleich mehrere Gegenspieler wie Slalomstangen stehen. Schon zur Pause gab es deshalb ein Sonderlob von Joshua Kimmich.
"Als wir zur Halbzeit in die Kabine gekommen sind, hab ich zu ihm gesagt, dass er ein außergewöhnliches Spiel macht", sagte der Führungsspieler und führte aus: "Er hat sehr gut trainiert. Seine Abschlussstärke wird er nie verlieren, aber er hat heute sehr gute Entscheidungen getroffen."
Auch der Rest der Mannschaft überzeugte neben einer guten Defensivarbeit im Spiel nach vorne. Eberl lobte anschließend die große Bereitschaft im flexiblen Offensivspiel der Bayern. "Die Mannschaft strahlt eine unglaubliche Lust aus, als Gruppe aufzutreten. Es sieht zwar so aus, dass alles klappt. Aber es klappt nicht alles und trotzdem sind sie als Mannschaft zusammen. (...) Keine Ahnung, wie viele Ballkontakte wir auf engstem Raum im Strafraum hatten. Das ist fußballerisch schon außergewöhnlich."
Insbesondere der Treffer zum 2:0, dem bis zu Gnabrys Hacken-Ablage zahlreiche Passstationen vorausgegangen war, begeisterte. Das unterstrich Kimmich bereits auf dem Platz mit einem hörbaren Jubelschrei. "Ich hatte zwar nicht so viel mit Tor am Hut, aber es war irgendwie eine besondere Energie. Das Tor war extrem. Die Art und Weise, wie wir das herausgespielt haben von hinten - mit welcher Ruhe. Wir waren mit vielen Spielern beteiligt. Das ist die Art und Weise, wie wir Fußball spielen wollen. Dass wir auf dem Platz eine Verbindung haben", sagte er hinterher. Es sei "ein großer Unterschied zu vielen Saisons davor", lautete sein Fazit zu den ersten Wochen seit der kurzen Sommerpause bei Sky. "Diesmal hat man das Gefühl, dass wir mit einer gewissen Basis in die Saison starten. Die Saisons davor war es immer unruhig. Wir hatten viele Trainerwechsel und sind oft wieder von null gestartet."
Getty ImagesSchnellschuss per Leihe: Ist ein Transfer überhaupt vonnöten?
Der Hochrisiko-Plan der Bayern geht also vorerst voll auf, woran Gnabry bislang einen Bärenanteil hat. Dennoch könnte auf dem Transfermarkt zeitnah noch etwas passieren, was Eberl trotz des Kantersiegs erneut offen kommunizierte. Nach der viel diskutierten Ansage von ganz oben ist klar, dass es sich dabei aber ausschließlich um ein Leihgeschäft handeln würde. Womöglich auch ohne Kaufoption, wie Eberl verriet. Gleichzeitig sei aber auch klar: "Jetzt die eierlegende Wollmilchsau zu finden, die wir gerne hätten, die noch zu verleihen ist und nichts kostet, das ist zu viel des Wünschens."
Doch ist ein derartiger Schnellschuss überhaupt vonnöten? Eine Woche vor der Schließung des Transferfensters am 1. September ist die Verpflichtung eines weiteren Angreifers womöglich schädlich für das funktionierende Mannschaftsgefüge, wovon gerade Gnabry und die jeweils eingewechselten Talente Lennart Karl sowie Jonah Kusi-Asare offensichtlich profitieren.
Auf der anderen Seite darf sich aber auch keiner des aktuell gesetzten Offensiv-Quartetts verletzen, was angesichts der Fülle des Spielplans jederzeit passieren kann und berücksichtigt werden muss. Zumal Gnabry erst noch beweisen muss, wie konstant er an der Säbener Straße für Begeisterung sorgen kann.
FC Bayern München: Die kommenden Termine des FCB
Datum Uhrzeit Begegnung 23. August 15 Uhr Red Eagles Austria - FC Bayern 27. August 20.45 Uhr Wehen Wiesbaden - FC Bayern (DFB-Pokal, 1. Runde) 30. August 18.30 Uhr FC Augsburg vs. FC Bayern (Bundesliga, 2. Spieltag)



