HINTERGRUND
Wer an Thierry Henry denkt, denkt vor allem an Geschwindigkeit, ausgefeilte Technik und Tore. An ein breites Grinsen, an Frankreichs goldene Teams von 1998 und 2000 - und natürlich an den FC Arsenal. Dass man seinen Namen künftig auch gleich mit Belgien assoziiert, hat sich der 40-Jährige für die kommenden knapp sechs Wochen ganz dick auf die Fahne geschrieben.
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Überraschend, weil irgendwie willkürlich, kam die Meldung im August 2016 daher: Henry wird Co-Trainer der belgischen Nationalmannschaft, Assistent des damals gerade neu installierten spanischen Coaches Roberto Martinez. Mit mehr als der reinen Tatsache, dass einer der besten Stürmer aller Zeiten nun mit Eden Hazard, Romelu Lukaku und Co. arbeitet, hat sich hierzulande seither kaum jemand auseinandergesetzt.
Henry weiß, wie man eine WM gewinnt
Dabei ist Henrys Rolle bei Belgien wohl eine der spannendsten Konstellationen bei der anstehenden WM in Russland. "Thierry spielt eine enorm große Rolle", sagte sein Chef Martinez im Oktober letzten Jahres bei FIFA.com. Alleine die Vita des Franzosen macht ihn für Belgien zum Faustpfand: "Er hat die Erfahrung eines Weltmeistertitels. Das ist unbezahlbar für uns, die mentale Barrieren überwinden müssen, um dorthin zu kommen", führte Martinez aus.
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Henry weiß genau, worauf es ankommt, hat schon als blutjunger Spieler miterlebt, wie es ein zuvor seit Jahren mit viel Talent gesegnetes, aber letztlich stets erfolgloses französisches Team bei der Heim-WM 1998 endlich schaffte, auch im Kopf dafür bereit zu sein, um den Titel zu spielen.
Die Belgier erlebten in den letzten Jahren ähnliche Situationen wie Frankreich vor 1998, als sich Les Bleus trotz hochkarätiger Akteure wie Laurent Blanc, Marcel Desailly, Didier Deschamps, Youri Djorkaeff oder Eric Cantona nicht für die WM 1994 qualifizierten oder später trotz neuer Stars wie Zinedine Zidane, Lilian Thuram oder Bixente Lizarazu bei der EM 1996 im Halbfinale an Tschechien scheiterten.
Belgien galt vor der WM 2014 und der EM 2016 als Geheimfavorit, schied allerdings jeweils im Viertelfinale aus. Trotz enormer individueller Qualität fehlte zuweilen der Teamspirit, der Zusammenhalt in letzter Konsequenz.
Henry, 1998 erst 20, konnte früh aufsaugen, wie wichtig gerade das Agieren als eingeschworener Haufen bei großen Turnieren ist. Und er war 2000 bei Frankreichs EM-Triumph ein sogar noch wichtigerer Faktor, verinnerlichte eine Siegermentalität, die Martinez endlich auch bei den Belgiern implementieren will.
Potenzial ist ja zur Genüge vorhanden. Im Tor steht mit Chelseas Thibaut Courtois einer der besten Keeper der Welt, vor ihm verteidigen mit Vincent Kompany, Jan Vertonghen und Toby Alderweireld drei der Besten ihrer Zunft aus der Premier League. Und im Spiel nach vorne sind die Roten Teufel mit Kevin De Bruyne, Mousa Dembele, Axel Witsel, den Hazard-Brüdern, Dries Mertens oder Lukaku ohnehin furchteinflößend gut besetzt.
Belgien: Henry hören alle zu
In Russland soll es nun weiter hinausgehen als bis ins Viertelfinale - mit der Hilfe Henrys. Der frühere Weltklasse-Angreifer ist für die Spieler, die ja selbst Stars sind, ein Vorbild. Sie schauen zu ihm auf, vertrauen seinen Ratschlägen und Anweisungen blind. "Ich bin nicht sicher, ob ich meinen Eltern jemals so zugehört habe", schrieb etwa Michy Batshuayi bei Twitter unter ein Foto mit Henry bei dessen erster Trainingseinheit mit Belgien vor knapp zwei Jahren.
GettyHenry arbeitet viel im Detail, seziert mit den Offensivspielern Eins-gegen-Eins-Situationen. Er analysiert haarklein, wann der Moment für ein Abspiel kommt, wann man es lieber alleine probiert, wie man auf Handlungen des Gegenspielers reagiert. Oder feilt an Abschlüssen aus vollem Lauf, die er einst so traumwandlerisch sicher im Kasten unterbrachte. "Thierry hat mir beim Nationalteam gesagt, dass ich vielleicht nicht oft genug schieße, wenn ich nach innen ziehe", verriet Hazard im Februar, nachdem er für Chelsea gegen Watford auf eben jene Weise getroffen hatte.
Henry gibt Tipps, diskutiert auch mal kontrovers. Sprachbarrieren gibt es keine, da alle Spieler im Kader Französisch entweder selbst fließend sprechen oder es zumindest verstehen und Henry zudem gut Englisch spricht. "Für einen Stürmer beispielsweise ist es ein großer Vorteil, wenn er mit Thierry über seine Bewegungen im Strafraum sprechen kann", erklärte Martinez. "Er hat mir viel beigebracht. Er ist sehr direkt und sagt mir, wenn ich etwas falsch mache. Er hilft den Stürmern sehr", sagte Lukaku nach einem 4:0 gegen Bosnien in der WM-Quali.
Henry weiß, dass Hazard und Co. ihren Freigeist ausleben müssen
Henry vereint seinen immensen Erfahrungsschatz und seine Vorbildfunktion mit fachlicher Qualität, kommt so bei den Spielern an. Er vertritt seine Meinung klar und spricht Verbesserungsmöglichkeiten für das Spiel jedes Einzelnen an, weiß aber gleichzeitig, dass er Jungs wie Hazard, De Bruyne oder Mertens auch mal ihrem Instinkt überlassen muss.
"Ich denke, diese Mannschaft kann Geschichte schreiben. Es geht nur darum, auch daran zu glauben", erklärte Henry bei seinem Amtsantritt. "Eines der Dinge, an denen wir arbeiten müssen, ist, dass das Team sein Potenzial ausschöpft und auch eine großartige Einheit wird."
Henry ist bei diesem Vorhaben Gold wert. Nicht nur wegen seiner Erfahrung von vier WM-Teilnahmen und dem Titelgewinn 1998. Er hat eine vereinende Wirkung, schweißt das Team aus Ausnahmekönnern automatisch zusammen, weil ihn alle so schätzen und respektieren. Und bewegt sich trotzdem immer noch auf der Ebene der Spieler, zockte vor einigen Tagen im Trainingscamp mit Lukaku, Eden und Thorgan Hazard oder Batshuayi Basketball, Lacher an Lacher reihte sich aneinander.Henry hat sichtlich Spaß an seiner Aufgabe, die ihn wahrscheinlich ein bisschen an alte Zeiten erinnert. Als er selbst Spieler war, sich an der Seite von Zidane und Co. erst zum Welt- und dann zum Europameister krönte. Holt er als Belgiens Co-Trainer Mitte Juli in Moskau den WM-Titel, wird man Henry künftig aber auch mit Belgien assoziieren. So viel ist sicher.
