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Rekrutieren und ausbilden: Wie es Marokko mit ausgeklügeltem Scoutingsystem zur WM 2018 schaffte


HINTERGRUND

Die Euphorie war riesig, die Enttäuschung ist es nun ebenso. Bei der ersten WM -Teilnahme nach 20 Jahren ist Marokko schon vor dem abschließenden Gruppenspiel gegen Spanien ( 20 Uhr im LIVE-TICKER ) ausgeschieden. Zwei unglückliche 0:1-Niederlagen trotz ordentlicher Leistungen gegen den Iran und Portugal sorgen für Frust bei Trainer Herve Renard . Er bekannte: "Für uns fühlt es sich ungerecht an, dass wir keine Chance mehr haben. Aber wir müssen die Realität akzeptieren und für die Ehre spielen. Das ist uns geblieben."

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"Wir sind enttäuscht, weil wir nicht nach Russland gekommen sind, um in der Vorrunde auszuscheiden", ergänzte der Coach. Er hatte noch den großen Jubel vor Augen, den er und seine Schützlinge im vergangenen Herbst nach einer starken Qualifikation in der Heimat geschürt hatten. Die Teilnahme an der WM war der vorläufige Höhepunkt einer sportlichen Entwicklung, die klug geplant wurde und die wohl auch noch nicht zu Ende ist.

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Rückblende: Der 11. November 2017 war ein Tag, den in Marokko so schnell niemand vergessen wird. In der Hauptstadt Rabat und allen anderen größeren Städten des nordafrikanischen Landes stiegen um etwa 20.20 Uhr Ortszeit spontane Partys. Menschen lagen sich in den Armen, Autokorsos wurden gestartet und überall die rote Flagge mit dem grünen Pentagramm geschwenkt. Eine zwei Dekaden lange Durststrecke hatte soeben ihr Ende gefunden: Marokko hatte das Ticket nach Russland gelöst. Ekstase machte sich breit, überall im Land.

Möglich gemacht hatte den Triumph ein Auswärtssieg im letzten Qualifikationsspiel gegen die Elfenbeinküste . In Abidjan gewannen die Marokkaner mit 2:0, unter den Torschützen war Ex-Bayern-Star Medhi Benatia. Nach dem Spiel gab es kein Halten mehr. Tausende Fans, die mit Unterstützung des Verbands und der staatlich-königlichen Fluggesellschaft zum Spielort gereist waren, starteten noch im Stade Felix Houphouet-Boigny eine wilde Siegesfeier. Der Empfang für die Spieler in ihrer Heimat hätte kaum triumphaler ausfallen können, wäre die Mannschaft als Weltmeister heimgekehrt.

Aziz Bouhaddouz: "Das Land ist komplett ausgeflippt"

St. Paulis Stürmer Aziz Bouhaddouz, erst seit dem vergangenen Herbst Nationalspieler, schwärmte im Hamburger Abendblatt anschließend: "Als der Schiedsrichter abpfiff, gab es kein Halten mehr, jeder ist sofort auf das Spielfeld gerannt. Das war ein großer Moment für das ganze Land. Nach dem Spiel ging es direkt mit dem Flieger nach Marokko, wo wir um halb zwei ankamen. Zigtausende Fans haben uns empfangen. Das Land ist komplett ausgeflippt. Das war ein einmaliger Augenblick, den ich nie vergessen werde."

Marokko war also vorerst am Ziel seiner Träume angelangt. Zum fünften Mal nimmt das 36-Millionen-Einwohner-Land an einer Weltmeisterschaft teil, erstmals seit 1998 wurde die Qualifikation geschafft. Marokkos Verband erntet die Früchte eines ausgeklügelten Scoutingsystems, das darauf setzt, gut ausgebildete Spieler marokkanischer Herkunft in Europa zu rekrutieren.

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Selten wurde die Strategie so deutlich wie bei jenem wichtigen Erfolg über die Ivorer am 11. November: Von den elf Spielern, die Trainer Herve Renard in seine Startelf beordert hatte, wurde kein einziger in Marokko ausgebildet. Sie alle bekamen ihren fußballerischen Feinschliff in den Akademien europäischer Vereine. Vier von ihnen, darunter Benatia oder der Ex-Schalker Younes Belhanda, wurden in Frankreich groß. Vier andere standen oder stehen in den Niederlanden unter Vertrag, zwei in Spanien und einer in Belgien.

Zufall ist das natürlich nicht. Der Verband, die Federation Royale Marocaine de Football (FRMF), hat sich in Europa in den vergangenen Jahren ein Scoutingnetzwerk aufgebaut, das talentierte marokkanische Auswanderer unter die Lupe nimmt und sie für die Auswahlmannschaften ihres Heimatlandes gewinnt. Verbandschef Fouzi Lekjaa, seit drei Jahren im Amt, hat diese Ausrichtung gemeinsam mit seinem Technischen Leiter Nasser Larguet intensiviert.

Boujaida scoutet seit 2017 für Marokko in Deutschland

Der Grund ist pragmatisch: Marokko ist ein Auswandererland, viele Menschen zog es in den letzten Jahrzehnten von hier nach Europa. Die Kinder und Kindeskinder der Auswanderer haben nach wie vor einen Bezug zu Marokko und die fußballerische Ausbildung ist im Vergleich zu der in Marokko deutlich besser.

Der FRMF beschäftigt aktuell Spielerbeobachter in den Niederlanden, in Belgien, Frankreich und mittlerweile auch in Deutschland. Meist sind es ehemalige Spieler oder Trainer, die bereits über gute Kontakte verfügen und sich ein gewisses Netzwerk aufgebaut haben.

So wie Adil Boujaida und Rabiie Tekassa, der für den Verband bereits in Spanien arbeitete. Die beiden kümmern sich um das Scouting in Deutschland. Boujaida, studierter Sportwissenschaftler aus Frankfurt, ist quasi ein Quereinsteiger. Er erzählt bei Goal , wie es zu seinem Engagement beim FRMF im März 2017 kam: "Einen offiziellen Scout, der nur für Deutschland zuständig war, gab es bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Herr Takassa kontaktierte mich im vergangenen Jahr und bot mir in Absprache mit dem marokkanischen Verband eine Kooperation an, welche ich mit Freude angenommen habe. Für mich ist es natürlich eine tolle Herausforderung und Ehre für den marokkanischen Fußballverband tätig zu sein."

Boujaida hat dabei nahezu perfekte Voraussetzungen, um Talente früh zu entdecken. Seit neun Jahre arbeitet der Inhaber der DFB-Elite-Jugend-Lizenz mittlerweile auch als Fußballtrainer und aktuell betreut er die U17 von Rot-Weiß Frankfurt.

Adil Boujaida Rabiie TekassaAdil Boujaida
Rabiie Tekassa (l.) und Adil Boujaida (r.) mit Frankfurt-Talent Elias Kurt

Praktisch sehen seine Aufgaben so aus: "Die Beobachtung der Spieler, Kommunikation mit ihnen, den Eltern und den Vereinen sowie die Beobachtung der weiteren Entwicklung. Vom marokkanischen Nationalverband werden regelmäßig Lehrgänge für die jeweiligen Jahrgänge angeboten. Ich gebe hierzu meine Empfehlungen ab, die Rabiie Takassa an den marokkanischen Verband weiterleitet, sodass die Spieler eingeladen werden."

Eine Menge Arbeit also für Boujaida. Immer mit dem Ziel, dass keine Talente mehr durch die Lappen gehen. So wie einst Karim Bellarabi. Der Star von Bayer Leverkusen wurde in Berlin geboren, besitzt aber neben der deutschen auch die marokkanische Staatsbürgerschaft. Ihn für die Idee zu gewinnen, für Marokko zu spielen, gelang nicht. Im Oktober 2014 debütierte der Angreifer schließlich für die DFB-Elf und bestritt seitdem elf Länderspiele (ein Tor).

Boujaida führt aus, dass er in allen Altersklassen scoutet. Eine Herausforderung seien aber vor allem die Gespräche, die mit den Spielern und deren Umfeld geführt werden müssten: "Oftmals können die Spieler für mehrere Nationalmannschaften auflaufen, daher benötigt es viel Überzeugungsarbeit."

Überzeugungsarbeit, die noch schwierig ist. Denn im Gegensatz zu einigen Nachbarländern gab es hier eben bis zum vergangenen Frühjahr noch keinen festen Ansprechpartner. "Es gab früher keinen Scout gab, der sich in Deutschland um die Spieler mit marokkanischen Wurzeln kümmern konnte", so Boujaida: "Das erweckte vielleicht bei einigen Spielern das Gefühl, dass sie vergessen wurden, oder nicht interessant für den Verband waren. Mit diesem Schritt will der Verband den Spielern in Deutschland vermitteln, dass dieser Eindruck täuscht."

Harit entschied sich gegen Frankreich und für Marokko

Während Boujaida und Tekassa in Deutschland also noch relativ weit am Anfang stehen, klappt es für die Marokkaner seit einigen Jahren in den Nachbarländern schon gut: Schalkes Ausnahmetalent Amine Harit zum Beispiel durchlief seit der U18 alle französischen Auswahlteams, debütierte aber im Oktober 2018 für Marokkos A-Nationalelf. "Eine Entscheidung des Herzens", nannte es der begabte Angreifer . Auch die Juwele Ashraf Hakimi (Real Madrid) und Hakim Ziyech (Ajax) wären für Spanien und die Niederlande spielberechtigt, entschieden sich aber für für Marokko.

 

Al Hamdoulilah 🙏🏼🇲🇦❤️

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Es steht allerdings nicht nur das Rekrutieren im Fokus. In Marokko wird längst auch wert auf eine Verbesserung der Ausbildung im eigenen Land gelegt. Der FRMF investiert aktuell stark in die Infrastruktur. Der Fußball genießt allgemein im Land einen hohen Stellenwert, die Bewerbung für die Ausrichtung der WM 2026, die am Ende allerdings nicht erfolgreich war, unterstreicht das.

"Es ist dem Verband sehr wichtig, dass die einheimischen Trainer eine gute fußballerische Ausbildung genießen und sich für die Entwicklung des marokkanischen Fußballs besser qualifizieren. Dementsprechend wird in Rabat die neue Akademie gebaut", sagt Adil Boujaida.

Er ergänzt: "Es wurden in den letzten Jahren Stützpunkte errichtet und zukünftig soll ein großes Leistungszentrum für die Jugendnationalmannschaften entstehen. Eingeladenen Spielern, sowohl aus Marokko, als auch aus dem Ausland, sollen hier beste Trainings- und Wettkampfbedingungen erhalten können. Das Zentrum ist ebenfalls in Bauphase. Das alles zeigt bereits, dass die kürzlich erreichten Erfolge wie der Gewinn der Afrikanischen Nationenmeisterschaft (CHAN), der Champions-League-Sieg von Wydad Casablanca und die WM-Teilnahme keine Zufälle waren."

Es wächst in Marokko also aktuell etwas heran. Unter anderem eine schlagfertige Nationalmannschaft. Diese steht in Russland zwar noch ohne Punkte da, hat aber gezeigt, dass sie auf höchstem Niveau mithalten kann. Angesichts der Arbeit, die in Marokko aktuell geleistet wird, wäre es überraschend, sollte es bis zur nächsten WM-Teilnahme wieder 20 Jahre lang dauern.

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