HINTERGRUND
Es liefen die letzten Sekunden im imposanten Moskauer Luzhniki-Stadion, als die russische Abendsonne sich urplötzlich ihren Weg in den Innenraum bahnte und den Block der frenetisch feiernden mexikanischen Fans in warmes, helles Licht tauchte, während die Gegenseite, die ein Gros des deutschen Anhangs beheimatete, leise grübelnd im Dunkeln lag. Eine Szenerie, die symbolkräftiger nicht hätte sein können, quasi fotografisch einfing, was sich zuvor auf dem Rasen abgespielt hatte.
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Mexiko hatte der deutschen Nationalmannschaft, dem mitfavorisierten Weltmeister, eindrucksvoll seine Grenzen aufgezeigt, mit simpelsten Mitteln entschlüsselt: Teamgeist, organisierte Arbeit gegen den Ball und schnelles Umschalten, sobald ebenjener erobert wurde. Immer wieder sah sich das DFB-Team blitzartig vorgetragenen Kontern ausgesetzt, die in der Folge nicht selten in hochkarätige Chancen umgemünzt wurden. Einer dieser flinken Gegenstöße führte letztlich auch zum einzigen Tor des Abends durch Hirving Lozano, der im Anschluss verdientermaßen zum Man of the match gekürt wurde.
Deutschland, seit 36 Jahren bei WM-Auftaktspielen unbezwungen, hatte also gegen El Tri gepatzt. Eine Tatsache, die in der Bundesrepublik kollektive Schnappatmung auslöste, vor Ort allerdings etwas nüchterner und sachlicher eingeordnet wurde. Insbesondere von den Protagonisten, die sich zurecht selbstkritisch zeigten.
Fehlende Absicherung, immer wieder große Lücken
Vor allem die fehlende Absicherung bei Ballverlusten wurde nach der Begegnung in der Mixed-Zone thematisiert. "Wir müssen stabiler sein. Gerade bei Turnieren kommt es darauf an, dass man eine gute Defensive hat", befand Manuel Neuer, der seine Mannschaft noch vor Schlimmerem bewahrt hatte.
Getty ImagesMats Hummels fand Minuten zuvor deutlichere Worte für die Darbietung. "Unsere Absicherung ist nicht gut, das muss man ganz klar sagen. Jerome Boateng und ich stehen da oft alleine. Wenn wir wieder so auftreten, mache ich mir Sorgen", erklärte der Innenverteidiger im ZDF und ergänzte: "Wenn sieben oder acht offensiv spielen, ist klar, dass die offensive Wucht größer ist als die defensive Stabilität." Ein ernüchterndes Fazit des Bayern-Stars.
Neben der spielerischen, taktischen Komponente, stand eine weitere essentielle Eigenschaft im Fokus: Die viel zitierte Einstellung. Dieses geflügelte Wort, das herhalten muss, wenn man sonst kaum Erklärungen für eine sportliche Talfahrt findet. "Die Einstellung müssen wir nicht ändern. Es liegt ja nicht daran, dass wir nicht wollen, sondern, dass wir manchmal die falschen Dinge zur falschen Zeit machen“, sagte Thomas Müller den anwesenden Journalisten diesbezüglich. Boateng resümierte: "Wir wussten von Anfang an, dass jede Mannschaft Vollgas gibt und das haben wir heute nicht angenommen. Ich glaube nicht, dass jemand nicht wollte, aber das sah in der ersten Halbzeit schon sehr behäbig aus." Äußerungen, die aus dem Mund des stets gefassten Defensivmannes wie ein Gefühlsausbruch anmuteten.
Jerome Boateng: "Jetzt kann man sehen, wer Charakter hat"
Und so stellte sie sich quasi ganz von selbst, die häufig bemühte Charakterfrage. Zu einem sehr frühen Zeitpunkt des Turniers. "Wir müssen jetzt beide Spiele gewinnen und stehen extrem unter Druck. Und wenn wir das positiv gestalten wollen, dann brauchen wir Charakter", prophezeite beispielsweise Müller, Boateng stimmte ein: "Jetzt kann man sehen, wer Charakter hat und welchen Charakter die Mannschaft hat."
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Diese Art von Auseinandersetzung mit einer solchen Niederlage ist richtig und wichtig zugleich, sofern sie denn von den Betroffenen eingestanden wird. Ebenso selbstverständlich und angebracht ist die mediale Kritik, die auf das Team einprasselte. Nach einem Rückschlag aber schon den Vorrundenaus-Teufel an die Wand zu malen, wäre vermessen. Das erste Spiel bei einer WM zu verlieren, sei "eine ungewohnte Situation, die wir annehmen müssen", wie Bundestrainer Joachim Löw auf der Pressekonferenz herausstellte und beteuerte: "Alle sind jetzt geknickt und sehr enttäuscht, ab morgen geht der Blick nach vorne und wir werden auch wieder aufstehen. Wir müssen das nächste Spiel gewinnen."
Das vorhandene Spielerpotenzial ist dazu in der Lage, das hat es immer wieder bewiesen. "Wir glauben trotzdem an uns. 2010 haben wir auch gegen Serbien verloren, hatten dann ein Gruppen-Endspiel gegen Ghana", sagte Neuer zum Abschluss. Dass die Mannschaft danach England mit 4:1 und Argentinien mit 4:0 vom Platz fegte, sollte durchaus noch in den Köpfen Fußball-Deutschlands verankert sein.
Fest steht: Eine erhebliche Leistungssteigerung muss her. Das dürfte jetzt auch wirklich dem Allerletzten bewusst sein. Und wer weiß, vielleicht strahlt die sengende Sonne von Sotschi am kommenden Samstag ja die DFB-Fans an, die ihre Truppe frenetisch feiern.
