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Der Talente-Krieg: Wie die Top-Klubs erbittert um minderjährige Spieler kämpfen


HINTERGRUND

Es ist kalt an diesem Abend in Breda. Von der Nordsee weht ein rauer Wind ins Landesinnere, der auch vor dem Rat Verlegh Stadion nicht Halt macht, in das immerhin 18.563 Zuschauer gekommen sind. Der Tabellen-15. der niederländischen Beletage, der ortsansässige NAC Breda, empfängt den Zehnten, den FC Groningen. Ein Spiel auf überschaubarem Niveau, niederländischer No-Name-Fußball. Zwölf Minuten sind im zweiten Durchgang gespielt, als der Linksverteidiger der Heimmannschaft in der eigenen Hälfte den Ball erobert. Er zieht flink los, schlägt einen Haken, überbrückt weitere Meter und spielt schließlich einen traumhaften Pass auf die Nummer zehn, die den Ball humorlos zur Führung in die Maschen drischt. Im Anschluss normale Jubelszenen, der Vorbereiter klatscht mit der Nummer neun ab.

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So weit alles normal. Erst, wenn man einen Blick auf die Namen von Assist-Geber und Gratulant wirft und die Vita der beiden checkt, wird der Blick freigegeben auf zwei Opfer des modernen Handels mit minderjährigen Talenten, der längst rund um den Globus wie ein Krieg ausgetragen wird. Der Vorbereiter heißt Angelino, ist 20 Jahre alt und Spanier. Der Angreifer mit der 9 heißt Thierry Ambrose, ist ebenfalls 20 und Franzose. Ersterer wechselte mit 16 für die Wahnsinnssumme von 4,5 Millionen Euro zu Manchester City, sein Teamkollege im gleichen Alter und Sommer zum gleichen Klub. Für 400.000 Euro.

Angriff ohne Engländer bei ManCitys U18

Beide sind derzeit in die Eredivisie verliehen. Mit 20 ist die Chance bereits verschwindend gering, dass sie je auch nur eine Minute für City in der Premier League spielen werden. Sie stehen für das Ringen um immer jünger werdende Talente mit immer mehr Geld, das im Wechsel des 16-jährigen Vinicius Junior zu Real Madrid für sage und schreibe 45 Millionen Euro zu Real Madrid seinen vorläufigen Höhepunkt fand und zuvor im vielbeachteten Transfer von Martin Ödegaard eine neue Dimension erreicht hatte.

Lorenzo Gonzalez und Nishan Burkart: Zwei Schweizer in Manchester

Bei City sind längst jüngere gekaufte Talente in den Fokus gerückt, von Angelino und Ambrose spricht niemand mehr. In der U23 etwa, dem Farmteam von Cheftrainer Pep Guardiola, spielen im Angriff ein 17-jähriger Schweizer, ein 17-jähriger Argentinier und ein 18-jähriger Spanier (Lorenzo Gonzalez, Benjamin Garre und Brahim Diaz). Dort, wo früher Englisch gesprochen wurde, wird sich heute auf Spanisch verständigt. Jahr für Jahr wechseln minderjährige Ausländer zu den Top-Klubs dieser Welt, die immensen Summen, die auf Konten in Amsterdam, Marseille oder Valencia landen, bleiben oft im Verborgenen. Die Handgelder und Extraleistungen für die Familien und Berater der Umworbenen erst recht.

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Überall taucht der neue Kroos auf

Taucht man ein in die Welt des Feilschens, in der jeder Verein hofft, einen kommenden Großen jung zu verpflichten, und in der Scoutingnetze inzwischen keine Ecke der Welt mehr auslassen, landet man schnell bei Spielern wie Angelino. Spieler, die, noch minderjährig, für Millionensummen verpflichtet werden. Spieler wie Jeff Reine Adelaide, für den Arsenal 2,5 Millionen Euro bezahlte. Oder Yassin Fortune, für den die Gunners 2,3 Millionen ausgaben. Liverpool zahlte für Pedro Chirivella 2,3 Millionen. Borussia Dortmund für Alexander Isak gar 8,6. Und sie allen waren zum Zeitpunkt des Wechsels 16 oder 17 Jahre alt. Kinder.

"Wenn es um ein absolutes Top-Talent wie Toni Kroos damals geht, kommen wir natürlich in die Gänge und versuchen, den Spieler zu uns zu holen", beschreibt Peter Wenninger, sportlicher Leiter für die U9 bis U15 bei Bayern München, im Goal-Interview das Dilemma, dem sich die Top-Klubs ausgesetzt sehen. Denn in Zeiten, in denen durch Videos und Datenbanken schon D-Jugend-Spieler genauestens durchleuchtet werden können, tauchen sie überall auf, die Top-Talente wie Toni Kroos. In belgischen Kleinstädten, in französischen Vororten, in spanischen Zweitligaklubs oder im kolumbianischen Nirgendwo.

Angst und psychischer Druck

Und dann geht es los. Die Klubs machen den Jungs schöne Augen, lassen sie im Privatjet einfliegen, schreiben auf die Schecks, die man Eltern, Beratern und Vereinen vor die Nase hält, Zahlen, bei denen sogar Bundesligisten wie Freiburg oder Augsburg schwummrig wird. Zu Tausenden wechseln Minderjährige ins Ausland, wähnen sich im siebten Himmel und landen dann hart. Denn kaum einer schafft es. Der Lionel-Messi-Effekt, auf den sie alle hoffen, ist selten. Zu viele Faktoren spielen eine Rolle.

"Bei einem Wechsel ins Ausland wird man mit vielen Dingen konfrontiert", sagt Werner Mickler, renommierter Sportpsychologe, gegenüber Goal. "Zum einen ist da natürlich die sprachliche Barriere, die am Anfang sehr einsam machen kann. Zum anderen ist das die neue Kultur. Nichts ist so, wie man es kennt. Das kann Angst machen. Zusätzlich belastet natürlich der psychische Druck. Denn von einem, der so gut ist, dass er jung vom Verein verpflichtet wird, wird natürlich auch erwartet, das zu rechtfertigen."

Mickler beschreibt die Situation, die die vermeintlichen Stars von morgen vorfinden, wenn sie zum neuen Klub stoßen, gut – und es sind viele. Jahr für Jahr. Beispiele nur aus diesem Transfersommer zeigen das volle Ausmaß. Manchester Uniteds U18-Team wurde mit einem Spanier, einem Belgier, einem Franzosen und einem Niederländer verstärkt. Chelsea schnappte sich einen Franzosen, einen Niederländer und einen Kroaten, City einen Serben und einen Spanier. Letzteren übrigens für 1,7 Millionen Euro. Liverpool einen Finnen, einen Bosnier und einen Norweger. Die englischen Klubs betreiben das Fremdfischen besonders aggressiv, Real und Barcelona aktuell nur deshalb nicht, weil die FIFA beide mit einem Transferverbot abstrafte, weil man gegen die Transfer-Regularien verstieß.

Artikel 19 als regulierendes Element mit Schlupflöchern

Diese besagen: "Laut Artikel 19 des 'Reglements bezüglich Status und Transfer von Spielern' darf ein Spieler nur international transferiert werden, wenn er mindestens 18 Jahre alt ist. Doch es gibt Ausnahmen: Spieler ab 16 Jahren dürfen zwischen EU-Mitgliedsländern wechseln. Internationale Transfers sind innerhalb eines Radius von 50 Kilometern auf beiden Seiten der Grenze eines Landes erlaubt. Und Transfers sind ebenfalls zulässig, wenn die Eltern eines Minderjährigen aus Gründen, die nichts mit Fußball zu tun haben, sowieso in ein anderes Land ziehen."

Barcelona und Real hatten die verpflichteten Kids teilweise nicht einmal regulär angemeldet, die Vereine wurden bestraft und die Spieler selbst auch. So durften die Barca-Talente Theo Chendri (Frankreich), Bobby Adekanye (Niederlande), Seung Woo Lee, Paik Seung-Ho, Jang Gyeolhee (alle Südkorea), Patrice Sousia, Giancarlo Poveda, Andrei Onana, Maxi Rolon (alle Kamerun) sowie Antonio Sanabria (Paraguay) allesamt nicht spielen, weil sie zum Zeitpunkt des Wechsels minderjährig waren. Eine harte Strafe, die allen in einer Zeit, in der jeder Monat zählt, empfindlich geschadet hat.

Dass es diverse Möglichkeiten gibt, Artikel 19 zu umgehen, liegt auf der Hand. Die beliebteste: Die Familie des Spielers kommt mit ins neue Land. Dort lässt es sich mit dem Geld des Klubs gut leben und schon ist es kein Problem mehr, dass der Filius beim ortsansässigen Verein kickt. Passbeantragungen sind eine weitere: So konnte Christian Pulisic nur zum BVB wechseln, weil sein Großvater Kroate ist und er so als EU-Bürger gelistet wurde – und minderjährig wechseln konnte. Real Madrid nutzt ein weiteres Schlupfloch: Man parkt die Spieler bei Farmteams, die Trainer aus dem eigenen Hause haben. Die Talente werden dann nicht als Spieler von Real Madrid geführt, aber dennoch vom Verein ausgebildet.

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Rummenigge: "Kodex kann nicht mehr Bestand haben"

Auch wenn hierzulande das Ausmaß des Talente-Kriegs lange nicht so immens ist wie auf der Insel oder in Spanien, hat das aggressive Vorgehen allenthalben spürbare Konsequenzen. Bis 2007 gab es einen Kodex unter allen 36 Profi-Vereinen, dass Spieler aus den Leistungszentren nicht verpflichtet werden. Diese moralische Säule ist längst unter dem Druck von außen zusammengebrochen.

"Dieser Kodex hat nicht mehr Bestand, weil er nicht Bestand haben kann. Ich stelle regelmäßig fest, dass bei unseren U-19-Spielen Scouts aus England, Spanien und Italien vor Ort sind. Sollen wir uns die Spieler von denen wegschnappen lassen und selbst keine Spieler aus Hamburg, Augsburg oder Bochum holen dürfen?", beschreibt Bayern-Boss Karl-Heinz-Rummenigge in der Sport Bild die Problematik. "Wir bilden aus, und die Engländer wedeln mit den Scheinen. Da werden junge Spieler schnell mal schwach", schlägt Michael Zorc in die gleiche Kerbe.

Erst Kinderarbeiter, dann moderner Odysseus

So oder so, es geht keineswegs um das Wohl der Kinder, sondern um Profit. "Ein Kind zu bezahlen, damit es gegen einen Ball tritt, unterscheidet sich kaum davon, ein Kind zu bezahlen, am Fließband zu arbeiten. In beiden Fällen handelt es sich um die Ausbeutung von Minderjährigen", findet der ehemalige UEFA-Präsident Michel Platini klare Worte. Hat man genug, werden die früheren Hoffnungsträger verliehen und irgendwann verkauft. Als No Names kicken sie dann irgendwo in Europa.

Golden Boy: Die größten Talente 2017

Etwa in Breda, wo im gelben Trikot Angelino und Ambrose um ihre Zukunft spielen. Mit 20 sind sie inzwischen fast zu alt, um den Sprung zum Top-Spieler noch zu packen. Freilich, beide wurden gut ausgebildet, werden ihren Weg gehen. Nur zu oft aber enden Spieler wie sie als Odysseus der Moderne. Sie irren einsam umher, auf der Suche nach einer Heimat, stets begleitet vom Stempel "Mega-Talent".

In England wurde 2016 übrigens Jamie Vardy Fußballer des Jahres. Der war bereits 25, als er sich den Foxes 2012 anschloss, und kostete Leicester 1,24 Millionen Euro, bevor er zum Superstar wurde. Angelino kostete über dreimal so viel. Ihm kann man das selbstredend nicht zum Vorwurf machen. Denn er ist lediglich ein Produkt einer Branche, in der unter der Oberfläche auf und neben Fußballplätzen rund um die Welt ein erbarmungsloser Krieg tobt. Der Talente-Krieg, in dem Berater und Scouts Soldaten und die Vereine die Generäle sind. Die Spieler aber sind nur Ware, Rohstoffe, grobes Gestein, von dem man in London, Paris oder Barcelona hofft, es möge eines Tages zu leuchtenden Diamanten werden.  

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