STEFAN KUNTZ TURKEYGetty Images

Jung, modern, wertvoll: Wie Stefan Kuntz den türkischen Fußball verändern soll


KOLUMNE

In welchem Klimagebiet er gelandet ist, erfuhr Stefan Kuntz am Montag bei der ersten Journalistenfrage. Der türkische Fußballverband in Person von Präsident Nihat Özdemir und Nationalmannschaftschef Hamit Altintop stellten den 58 Jahre alten Fußball-Lehrer gerade feierlich als neuen Nationaltrainer der Türkei vor. Nach den äußerst warmen Worten der TFF-Bosse übergab der Pressesprecher den Journalisten das Wort. Zum Einstand fragte ein Reporter einer Nachrichtenagentur den Präsidenten: "Wie hoch ist die Abfindung des neuen Trainers?"

Kuntz hatte noch nicht mal unterschrieben, da wollte man schon wissen, wie hoch die Summe für den Fall einer Vertragsauflösung ist. Wenig später echauffierte sich ein bekannter Journalist live im TV, warum Kuntz keinen Anzug während der Veranstaltung trug. Auch wenn die beiden Berichterstatter sicherlich nicht repräsentativ für die Stimmung bei allen Fußball-Fans in der Türkei sind, spiegeln sie eine Strömung wider, die es derzeit im Umfeld der türkischen Nationalmannschaft gibt.

Da gibt es die Fraktion, die sich auf Kuntz sehr freut und dank des zweimaligen U21-Europameisters an eine rosige Zukunft glaubt. Und da gibt es die Fraktion, die gerne einen türkischen Trainer hätte und es als Beleidigung für die türkische Trainer-Zunft ansieht, keinen Landsmann des entlassenen Senol Günes als Nachfolger zu verpflichten. "Kuntz ist keine schlechte Wahl, aber ich hätte es gewollt, wenn es ein türkischer Trainer geworden wäre. Zum Beispiel Okan Buruk, er wäre eine gute Wahl gewesen", sagt Hamza Hamzaoglu. Der 51 Jahre alte war einst Co-Trainer der Nationalmannschaft unter Fatih Terim und ist jetzt Coach beim Erstligisten Yeni Malatyaspor.

Verband will keine Diskussionen um Kuntz

Doch von diesem Gerede will Verbandspräsident Özdemir nichts hören: "Zieht bitte Stefan Kuntz nicht in diese Diskussion, ob inländisch oder ausländisch. Er ist nicht der erste ausländische Nationaltrainer der Geschichte. Er ist genauso wertvoll wie seine Vorgänger auch. Wir vertrauen ihm und wollen viele Jahre mit ihm arbeiten." Wie man hört, gab es in der Verbandspitze tatsächlich überhaupt keine Vorbehalte gegen Kuntz, als Hamit Altintop mit der Idee um die Ecke kam, den Deutschen als 62. Nationaltrainer der türkischen Verbandsgeschichte zu verpflichten.

Altintop wurde nach dem desaströsen 1:6 in der WM-Qualifikation in den Niederlanden als Chef der Nationalmannschaft installiert. Die erste Amtshandlung des gebürtigen Gelsenkircheners war die Suche nach einem Trainer. Altintop, der in Deutschland bestens vernetzt ist, blieb es nicht verborgen, dass Kuntz nicht den Zuschlag für den Job des Bundestrainers beim DFB bekam und deswegen nicht allzu glücklich war. Also griff er zum Hörer und fragte Kuntz direkt: "Willst du türkischer Nationaltrainer werden?" Kuntz reiste kurzfristig in die Türkei, verhandelte mit dem Verband und wie Kuntz am Montag bekanntgab, war für ihn eigentlich sofort klar, dass er das Angebot annehmen will.

Doch warum gerade Kuntz? Altintop sagt: "Nach fünf Jahren als U21-Trainer verdient er die Beförderung zum Nationaltrainer. Wir geben ihm gerne die Chance." Der ehemalige Bundesliga-Spieler skizziert sehr deutlich, wie die Erwartungen aussehen: "Wir wollen mit Stefan eine junge, moderne Mannschaft, die taktisch auf dem höchsten Niveau agiert.“ Jung ist die türkische Nationalmannschaft schon. Bei der EURO 2020 war sie sogar die jüngste, aber modern und taktisch hochwertig war sie schon lange nicht mehr. Spieler, die auf Klubebene auffällig gute Leistungen zeigten, waren in der Nationalmannschaft wie eine schlechte Kopie ihrerselbst.

"Unsere fünf letzten Länderspiele sind unerklärlich", so Altintop. "Wir waren noch nie so hilf- und leblos." In der Tat ist die Entwicklung der Nationalmannschaft an einem bedenklichen Punkt angelangt. Dem Abstieg aus der Nations League folgten erste Kratzer bei der WM-Qualifikation. Gegen Fußballzwerg Lettland wurde ein 3:1 aus der Hand gegeben. Es folgte die EM, bei der die Türkei mit Abstand die schwächste aller Mannschaften war. Schon damals wurde über eine Ablösung von Günes diskutiert. Dass der 71 Jahre alte Trainer-Guru keine zufriedenstellenden Analysen aufzeigen konnte, warum die Mannschaft dermaßen versagt hatte, kostete ihn fast den Job, doch Günes blieb und vergeigte dann aber auch die WM-Quali-Spiele. Gegen Montenegro gab die Türkei ein 2:0 aus der Hand, in Amsterdam klatschte es dann sechsmal.

Kuntz soll auch bei Jugend-Förderung mithelfen

Kuntz soll der Mannschaft neues Leben einhauchen, ihr ein taktisches Gesicht verpassen und idealerweise auch die jungen Spieler weiterentwickeln. So wie er es die letzten Jahre als U21-Trainer machte. Ridle Baku und Co. lassen grüßen. Erstmal soll Kuntz ausschließlich seiner Funktion als Nationaltrainer nachgehen. Idealerweise doch noch die WM-Quali packen, aber gemessen wird Kuntz daran nicht. Klappt die Reise nach Katar nicht, muss Kuntz nicht um seinen Job bangen.

"Wenn wir es nicht schaffen, setzen wir uns zusammen und ziehen unsere Lehren daraus", sagt Verbandschef Özdemir. Die Zusammenarbeit ist langfristig angesetzt und Altintop ließ durchblicken, dass mittelfristig auch Kuntz‘ Expertise bei der Fußball-Entwicklung im Verband gefragt ist. "Wir haben Defizite in der Ausbildung", sagt Altintop unverblümt. Schon in seiner Funktion als Nachwuchschef im Verband setzte er daran an. In seiner neuen Rolle ist er aber mit mehr Macht ausgestattet und kann entscheidender einwirken.

Einen großangelegten Angriff auf deutsch-türkische Talente in der DFB-Ausbildung darf man durch die Ankunft von Kuntz aber nicht erwarten. Zum einen hat die Türkei nicht mehr den dringenden Bedarf. Zum anderen ist man längst zur Einsicht gekommen, dass eine eigene Nachwuchsförderung mit eigenen Ideen und zugeschnitten auf die eigenen Bedürfnisse deutlich sinnvoller ist. Hier könnte Kuntz wertvolle Tipps geben. Gelingt ihm das, könnte auch sein Wunsch beschleunigt werden, "der deutscheste Türke oder der türkischste Deutsche" zu sein, wie er am Montag sagte. Gelingt ihm das nicht, könnte die Antwort auf die erste Journalistenfrage bei seiner Vorstellung interessant werden.

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