EXKLUSIV
Was haben Sead Kolasinac, Julian Draxler, Mesut Özil, Manuel Neuer, Joel Matip und Leroy Sane gemeinsam? Richtig, alle lernten das Fußballspielen in der Knappenschmiede und wurden beim FC Schalke 04 zu Profis. Nicht zuletzt dank der Vielzahl an Top-Spielern, die die Jugendabteilung von Königsblau in den vergangenen Jahren hervorgebracht hat, wird die Knappenschmiede auch international geschätzt.
So schielt die Konkurrenz schon seit Jahren neidisch nach Gelsenkirchen und hofft, es den Schalkern in puncto Jugendarbeit nachzumachen – ohne Erfolg. Obwohl in Leipzig oder Hoffenheim Millionen investiert werden, gilt die Knappenschmiede nach wie vor als die angesehenste Adresse im deutschen Nachwuchsbereich.
Doch was macht die Arbeit auf Schalke so besonders? Zum Auftakt der Goal-Jugend-Dokumentation über S04 gewährte Oliver Ruhnert, Direktor der Knappenschmiede, exklusive Einblicke in die erfolgreichste Nachwuchsakademie Deutschlands.
Das Europa-League-Spiel zwischen Ajax Amsterdam und Schalke war auch ein Duell zweier Top-Talentschmieden Europas. Gerade bei Ajax standen in den letzten Wochen extrem viele hochtalentierte Spieler auf dem Platz, die zum Teil sogar noch in der U19 spielen könnten. Ist man bei einer solchen Flut an Talenten selbst als Schalker ein bisschen neidisch?
Oliver Ruhnert: Bereits vor einem Jahr haben wir in der Youth League schmerzhafte Erfahrungen mit Ajax gemacht. Es war ein sehr interessanter Vergleich, da wir wussten, dass Ajax ebenfalls zu den führenden Akademien gehört, allerdings mit einem etwas anderen Geschäftsmodell. Natürlich haben sie mit Spielern wie Kluivert auch Top-Talente aus den eigenen Reihen, trotzdem sieht ihr Modell vor, dass sie richtig gute Spieler aus anderen europäischen Ligen holen. Ein gutes Beispiel dafür ist Kasper Dolberg, der für eine stolze Ablösesumme nach Amsterdam gewechselt ist.
Welches Modell verfolgt man im Gegenzug auf Schalke?
Ruhnert: Wir versuchen es zu vermeiden, überdurchschnittlich hohe Summen in Spieler aus dem Jugendbereich zu investieren. Jeder Verein geht in dieser Hinsicht seinen eigenen Weg. Im Gegensatz zum niederländischen Fußball, dessen Jugendarbeit stagniert, ist Ajax so etwas wie das Gegenmodell. Sie betreiben ihre Arbeit mit großem Erfolg, davor kann man nur den Hut ziehen.
Ajax hat, was das Spielsystem angeht, ein spezielles Konzept im Jugendbereich. So spielen alle Jugendmannschaften schon konsequent im 4-3-3, wie auch die Profis. Ist eine solche Ausrichtung auch auf Schalke denkbar?
Ruhnert: Nein, überhaupt nicht. Das 4-3-3 ist ein Modell, auf dem bei den Niederländern von der F- bis zur A-Jugend ein Schwerpunkt liegt, sodass die Spieler möglicherweise weniger variabel sind. Darauf hat sich irgendwann jeder Gegner eingestellt. Das mag gut zu Ajax passen, da der Verein es gut und erfolgreich praktiziert, doch die Frage ist, was es dem Verein international bringt. Da haben wir auf Schalke einen anderen Ansatz. Das 4-3-3 ist ein Modell, das wir auch auf Schalke trainieren, in dieser Regelmäßigkeit allerdings nicht praktizieren. Es ist nur eines von vielen, denn wir wollen vielseitig ausbilden.
Auch ohne ein solch festes Modell ist die Knappenschmiede durch die Ausbildung zahlreicher Top-Spieler zur Marke geworden. Wo sehen Sie Schalke im Vergleich zu Europas Fußballgrößen?
Ruhnert: Mit den Spielern, die wir herausgebracht haben, müssen wir uns nicht verstecken. Es ist bezeichnend, dass 2014 vier Spieler, die in der Knappenschmiede ausgebildet wurden, mit Deutschland Weltmeister geworden sind. Auch aktuell löst Leroy Sane dank seiner hervorragenden Entwicklung einen regelrechten Hype in England aus. Ich glaube, dass viele Spieler auf Schalke sehr gute Fortschritte gemacht haben. Gleichzeitig haben wir aber auch aktuell einige Spieler in den eigenen Reihen, die zukünftig sehr interessant werden. Ich bin mir sicher, dass es einige Jungs in der Knappenschmiede gibt, die in die Fußstapfen von Sane und Co. treten können. Deshalb sind wir im internationalen Vergleich mit Sicherheit nicht schlechter als andere, ganz im Gegenteil. Wir glauben, dass wir nach wie vor eine der renommiertesten Jugendakademien sind, die gleichzeitig die meisten Profis hervorbringt.

Wenn man eine Philosophie formulieren würde: Wofür will Schalke 04 im Jugendbereich stehen?
Ruhnert: Wir stehen für agierende Mannschaften. Wir wollen das Spiel aktiv mit Ball gestalten – das ist unser Ausbildungskonzept. Gleichzeitig stehen wir aber auch für Empathie und Motivation. Das soll bedeuten, dass die Akademie und unsere Jungs die Tradition und die Werte des Vereins wahren. Schalke 04 als Produkt muss für die Jungs auch heute noch erkennbar sein, auch wenn sie mit der Vergangenheit des Klubs nicht groß geworden sind. Die Mentalität heißt, sich alles zu erarbeiten und alles Nötige zu tun, um das Ziel zu erreichen. Wir wissen, dass Fußball ein großes Geschäft ist, nichtsdestotrotz ist es unser Anspruch, das Markenmodell Knappenschmiede mit all der Tradition und totaler Mannschaftsmentalität auf jeden einzelnen zu übertragen.
Also ist es neben dem Sportlichen genauso wichtig, dass die Spieler die Kultur des Ruhrgebiets rund um den Bergbau und die Tradition des Vereins annehmen und nach außen verkörpern?
Ruhnert: Genau, wir versuchen klarzumachen, dass es nicht immer einfach nach vorn geht. Es ist wichtig, dass wir mit Typen wie Norbert Elgert im U19-Bereich noch Leute haben, die persönlich für die Werte unserer Region stehen, da sie alles selbst miterlebt haben. Viel Wert legen wir auch auf eine sorgfältige Auswahl unserer Betreuer, die teilweise über 80 Jahre alt sind und den Verein schon ewig leben. Unser Claim "Wir leben dich" trifft es ziemlich genau. Dieser Zusammenhalt ist vielleicht unsere größte Stärke im Jugendbereich. Es ist enorm wichtig, dass sich die Jungs in ihrer Zeit auf Schalke voll mit dem Verein identifizieren – was nicht bedeuten muss, dass sie 100 Jahre hier spielen.
Sowohl in U17 als auch in U19 sind Ihre Teams hervorragend platziert. Teams wie RB Leipzig oder Hoffenheim haben in den letzten Jahren allerdings Millionen in die Jugendarbeit gesteckt. Muss man als Schalker zukünftig fürchten, abgehängt zu werden?
Ruhnert: Abgehängt sind wir überhaupt nicht – ganz im Gegenteil. Nimmt man nur die letzten vier Jahre als Indikator und schaut auf die Platzierungen im U17- und U19-Bereich, sind wir neben Wolfsburg der erfolgreichste Verein in Deutschland. Für das, was wir hier leisten, ist es eine riesige Bestätigung, denn wir gehören nicht zu den Klubs, die in diesem Bereich schon mit exorbitanten Gehältern um sich werfen – was wir auch in Zukunft nicht vorhaben. Natürlich machen wir uns aber Gedanken, wie wir weiterhin Top-Talente für Schalke gewinnen können, was in den nächsten Jahren nicht leichter wird, da die Konkurrenz stetig wächst. Trotzdem versuchen wir unsere Nische zu finden, im vollen Bewusstsein in den nächsten Jahren sehr aufmerksam sein müssen, um nicht abgehängt zu werden.
Doch auch auf Schalke bleibt man nicht stehen. Seit Christian Heidel im Amt ist, hat er umfangreiche Baumaßnahmen eingeleitet. Wie profitiert die Knappenschmiede davon?
Ruhnert: Wir bauen ein Nachwuchsstadion, das in erster Linie von U23, U19 und U17 genutzt werden soll. Christian Heidel hat zurecht auf die infrastrukturellen Dinge aufmerksam gemacht. Zuletzt hatte ich ausländische Journalisten hier, die gefragt haben, wo denn nun Spieler wie Leroy Sane oder Benedikt Höwedes als Jugendspieler ausgebildet worden sind. Man glaubt immer es wäre eine riesige Akademie mit unendlichen Möglichkeiten, doch das haben wir hier nicht. Momentan bauen wir tatsächlich um, damit alles an einem Ort ist. Das ist für Schalke, für die Fans und für den Klub gut.
GoalGoal-Reporter Robin Haack (r.) traf Oliver Ruhnert zum Gespräch in Gelsenkirchen
Sind Mannschaften wie Leipzig oder Hoffenheim in diesem Punkt schon ein Stück voraus?
Ruhnert: Auf jeden Fall. In Leipzig wurde kürzlich eine Akademie gebaut, die ist unglaublich. Doch ich weiß nicht, ob so etwas zu Schalke passen würde. Mir persönlich ist es in Leipzig zu steril. Wenn es den einen perfekten Weg im Jugendbereich gäbe, der zum Erfolg führt, würde ihn jeder gehen – es gibt ihn aber nicht. Vielmehr muss man regional unterscheiden und schauen, welche Spielertypen man haben möchte. Wir würden hier wahrscheinlich eine andere Auswahl treffen, als es Hoffenheim tut – jeder setzt andere Prioritäten. Obwohl es in Hoffenheim oder auch Leipzig super moderne Trainingsmöglichkeiten gibt, sehe ich die Knappenschmiede kein Stück uninteressanter.
Die Ausbildung im Nachwuchsbereich besteht inzwischen aus deutlich mehr als nur Fußballspielen. Viel mehr kommt es auch auf schulische Leistungen oder eine Berufsausbildung an. Wie hilft Schalke den Heranwachsenden diesen Spagat aus Leistungssport und Schule zu meistern?
Ruhnert: Es ist ein sehr komplexes Thema. In den letzten Jahren gab es einige Situationen, denen wir uns stellen mussten, beispielsweise der G8-Reform (Abitur nach 12 statt 13 Jahren, Anm. d. Red). So sind viele der Spieler schon viel früher fertig mit der Schule, teilweise sogar schon nach der B-Jugend. Früher war es optimal, als die Schule in der Regel nach der U19 beendet war. Anschließend konnte man in den Seniorenbereich gehen, studieren oder andere Dinge machen. Heute gibt es aber tatsächlich Schüler, die zu Beginn ihrer U19-Zeit die Schule beendet haben. Über einen Pädagogen der auf Schalke arbeitet und über Sozialarbeiter an der Schule bieten wir den Jungs verschiedene Optionen an. Mal sind es Praktika, mal schließen sie an ihr Abitur unmittelbar ein Studium an, manchmal können wir ihnen sogar eine Ausbildungsstelle vermitteln. Obwohl es wirklich komplex ist, gewährleisten wir jedem einzelnen die volle Unterstützung für den bestmöglichen Schulabschluss – das ist unser Primärziel.
Mit Fußball und gleichzeitig Schule beziehungsweise Studium haben die Spieler viel um die Ohren. Finden Sie, dass der Druck auf die Jugendlichen teilweise zu hoch ist?
Ruhnert: Der Druck ist sehr hoch, das kann man nicht kleinreden – allein schon durch die Erwartungshaltung des Umfeldes. Natürlich gibt es aber auch internen Druck. Wir haben eine Zielsetzung und wollen gewisse Parameter umgesetzt sehen. Schließlich wollen wir nicht letzter in der Tabelle werden – das ist klar. Als Verein definieren wir uns darüber, erfolgreiche Mannschaften zu stellen. Genauso hoch ist allerdings der externe Druck. Heute haben fast alle Jungs einen Berater und einen großen Traum, der auch von der Familie mitgelebt wird. Deswegen ist es nicht von der Hand zu weisen, dass Druck und Erwartungshaltung sehr groß sind, weswegen wir mit Tobias Hesselmann und Theresa Holst zwei Sportpsychologen angestellt haben, die zusammen mit den Jungs versucht, ein bisschen von dem Druck herauszunehmen. Wenn wir die Jugendlichen immer nur mit Druck bearbeiten, gehen sie uns irgendwann verloren. Irgendwann ist es zu viel. Sie brauchen auch Situationen, in denen sie Zuspruch bekommen und in denen sie einfach mal in den Arm genommen werden müssen. Auch ich, in meiner Position, versuche zu erkennen, welche Spieler etwas mehr Zuspruch benötigen und wer vielleicht mal einen zwischen die Hörner bekommen muss. Denn auch ein Leroy Sane oder ein Julian Draxler haben nicht immer nur sonnige Tage erlebt. Ein wichtiger Teil unseres Erfolges ist, dass man diese Zeiten gemeinsam gemeistert hat.
Sie haben angesprochen, dass alle Spieler die es bis in die U17 oder U19 geschafft haben, den großen Traum haben, Fußballprofi zu werden. Wie schwer ist es, einzelnen Spielern beizubringen, dass es wohl nicht für die große Karriere reicht?
Ruhnert: Es ist sehr schwer, da man in diesen Gesprächen ab und an Träume zerstören muss. Trotzdem müssen wir die Jungs damit konfrontieren und ihnen klarmachen, dass wir auf Schalke nicht die Chance auf eine große Karriere sehen – es ist immer sehr unangenehm, aber wir möchten ehrlich mit unseren Spielern umgehen. Teilweise sind es auch Jungs, die wir ein paar Jahre zuvor verpflichtet haben, bei denen man später allerdings feststellen musste, dass es aus unserer Sicht nicht reicht. Ziel ist, dass wir den Jugendlichen suggerieren, dass es nicht nur Fußball gibt und dass es wichtig ist, auch in anderen Lebensbereichen am Ball zu bleiben. Denn spätestens wenn die Spieler selbst erkennen, dass es nicht mehr reicht und die Vereine plötzlich nicht mehr Schlange stehen, würden sie in ein Loch fallen. Deswegen sind gerade diese unangenehmen Gespräche enorm wichtig.

Gibt es spezielle Zwischenbewertungen, ähnlich wie Schulzeugnisse mit Noten für den fußballerischen Entwicklungsstand, um die Spieler frühzeitig über ihre Einschätzungen zu informieren?
Ruhnert: Es gibt regelmäßige Bewertungsgespräche mit den Trainern und mindestens einmal pro Halbjahr auch ein Gespräch mit mir, allerdings ohne Noten. Bei minderjährigen Spielern werden da auch die Eltern mit ins Boot geholt. Es ist vergleichbar mit einem Elternsprechtag in der Schule. Neben diesen Gesprächen mit den Trainern bekommen die Jungs auch Bewertungen in Form von Übernahmen in die nächsthöhere Jugendmannschaft. Gerade im U15- und U16-Bereich ist es für die Jungs ungeheuer stressig. Es ist eine sehr sensible Angelegenheit.
Der VfL Wolfsburg beispielsweise verteilt auch im fußballerischen Bereich Schulnoten für einzelne Bereiche. Warum handhabt man das auf Schalke anders?
Ruhnert: Das machen wir nicht. Es gibt wie bereits erwähnt schon genug Situationen, in denen die Jungs internen und externen Druck erfahren. Wenn ich im Bereich Technik jedem eine Eins geben würde, würde die Note keinen Sinn ergeben, da jeder sagen würde, sie sei unbedeutend. Würde ich allerdings unterscheiden, würde ich einzelne mit einer schlechten Bewertung weiter demotivieren – das wollen wir nicht.
Egal welchen seiner Ex-Spieler man fragt, wirklich jeder schwärmt von der Arbeit von U19-Trainer Norbert Elgert. Was macht ihn so besonders?
Ruhnert: Norbert Elgert stellt immer den Menschen in den Vordergrund. Das ist bei ihm sehr speziell, weil er sich ein sehr intensives Bild von seinen Jungs macht. Dadurch entwickelt er eine persönliche Ebene zu den Jungs, die weit über die sportlich fundierte, fachliche Ebene hinausgeht. Deshalb haben einzelne Spieler bis heute einen sehr engen Kontakt zu ihm. Man darf nicht glauben, dass er sich nur für Supertalente wie Mesut Özil oder Julian Draxler stark macht und interessiert. Es gibt auch Spieler, die seit Jahren keinen Fußball mehr spielen, aber trotzdem noch heute engen Kontakt zu ihm pflegen.
Schaut man auf die aktuelle Tabellensituation bei den Profis, ist es wahrscheinlich, dass Schalke in der nächsten Saison nicht europäisch spielt. Inwieweit ist die Knappenschmiede, aufgrund von Spielerverkäufen in einer solch schwierigen finanziellen Situation, so etwas wie die Lebensversicherung des Vereins?
Ruhnert: Wir in der Knappenschmiede können nur versuchen unseren Job zu machen und die Spieler bestmöglich auszubilden, um sie für die Profiabteilung interessant zu machen, sodass sie einen Marktwert entwickeln. Wie die Planung um die Ausstattung der Knappenschmiede aussieht, kann jedoch nur der Vorstand entscheiden. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass sich für uns etwas ändert, selbst, wenn wir nicht international spielen. Der Verein ist sehr froh über die Leistungen und Erfolge unserer Abteilung, denn wir stehen für eine qualitativ hochwertige Ausbildung, die deutschlandweit eine riesige Beachtung findet. Die Knappenschmiede ist zu einer Marke geworden, durch die wir Schalke auch über die Grenzen von Deutschland hinaus sehr gut verkaufen. Deshalb wird sie auch in den kommenden Jahren eine wichtige Abteilung des Vereins bleiben, denn es gibt einfach keine günstigere Möglichkeit, Werte zu schaffen.


