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Luis Suarez ist dieser Tage entspannt wie nie zuvor in seiner Karriere. Er ist 31 Jahre alt, Vater und privat deutlich ruhiger als früher. Er hat in seiner Karriere viel erlebt, fast alles gesehen. Er hat in vier verschiedenen Ländern gelebt, Sprachen und andere Kulturen kennengelernt. Er hat diverse Skandale durchgestanden, wurde Torschützenkönig in drei eurpäischen Ligen. Ja, Suarez ist angekommen.
Zwei Dinge aber haben sich nach all den Jahren nicht verändert. Erstens: Wenn Suarez den Platz betritt, wird er wieder der heißblütige Matador, der sich einst in Giorgio Chiellini verbiss. Und zweitens: Damals wie heute kann er seinen Job nur machen, wenn er in seinem Rücken Zulieferer hat, denen er vertraut. Und die hatte er in seiner Laufbahn reichlich.
Da war Steven Gerrard, mit dem er sich "blind verstand", wie er einmal sagte. Da waren feine Pässe wie die von Philippe Coutinho oder Lionel Messi. Da war die Ruhe am Ball eines Andres Iniesta oder die kühle Überlegtheit des Strategen Sergio Busquets. Kurz: Luis Suarez hatte viele internationale Top-Spieler als Einleiter oder Vorbereiter seiner Tore und einige Weltklasse-Spieler.
Luis Suarez adelt Bentancur: "Habe Vertrauen zu ihm"
Umso bemerkenswerter ist, dass er den folgenden Ritterschlag keinesfalls einem seiner hochbegabten Weggefährten gab, sondern einem 20-jährigen Landsmann, mit dem er erst fünfmal bei einem Pflichtspiel auf dem Platz stand, insgesamt nur 355 Minuten, während es beispielsweise bei Messi über 15.000 sind. "Ich habe großes Vertrauen zu ihm, er hat besondere Fähigkeiten und kann das Spiel kontrollieren." Der Adressat des Lobes: Rodrigo Bentancur von Juventus Turin.

Bentancur ist 20 Jahre alt. Er steht für die neue Generation der Celeste. Er soll die Fußstapfen füllen, die Suarez und sein kongenialer Sturmpartner Edinson Cavani hinterlassen werden. Er soll nach den großen Angreifern, zu denen auch Diego Forlan gehörte, endlich wieder ein Uru werden, der den Herzschlag einer Mannschaft bestimmt und nicht nur einer, der vor dem Tor überragend agiert.
Mehr gewonnene Zweikämpfe als alle anderen Juve-Spieler
Das Potenzial dafür, so viel ist schon jetzt klar, hat er. Schließlich hat er sich bei der Alten Dame ins Team gebissen, ordentliche 27 Pflichtspiele seit seinem Wechsel im Jahr 2017 gesammelt. Und dabei immer wieder aufblitzen lassen, warum er mit nur 18 Jahren schon das Tempo beim Traditionsklub Boca Juniors diktierte und warum Juve 10,5 Millionen Euro vom vereinseigenen Konto für seine Dienste abzwackte.
In der Champions League kam er auf eine Passquote von 91 Prozent. Zudem gewann er in der italienischen Beletage im Schnitt acht Zweikämpfe, mehr als jeder andere Juve-Spieler. Seine bisher beste Leistung zeigte er gegen Olympiakos Piräus, als er vier Ballgewinne, drei erfolgreiche Zweikämpfe verzeichnete und 93 Prozent seiner Pässe einen Mitspieler fanden.
Ja, Bentancur hat die Belastungsprobe Europa, an der so viele Südamerikaner scheitern, bestanden. Er ist jetzt bereit, noch mehr Verantwortung zu übernehmen. Und das trotz der Ankunft des deutschen Nationalspielers Emre Can. "Ich will den nächsten Schritt machen", sagte er. Und Trainer Allegri passend dazu: "Er kann den nächsten Schritt machen."
GettyDoch was heißt das? Auf jeden Fall verbessern muss Bentancur seine Torgefahr. So sicher er am Ball ist, so dynamisch er nach Balleroberungen Raumgewinn generiert, so punktgenau seine Pässe sind, das Erzielen von Toren gehört bisher nur in Ausnahmefällen zum Repertoire. Für Juve ist er in 947 gespielten Minuten noch ganz ohne eigenen Treffer, im himmelblauen Dress der Nationalmannschaft ebenso.
Und das, obwohl er eine feine Schusstechnik hat und mit 1,87 Meter auch in der Luft Vorteile hätte. Ein einziges mickriges Tor hat er in seiner zugegeben noch kurzen Profilaufbahn bisher erzielt: Im Februar 2016 traf er in La Bombonera für Boca gegen die Newell's Old Boys. "Ich bin noch jung und muss viel lernen", sagt er selbst. "Dafür will ich jeden Tag hart arbeiten und von all den guten Mitspielern lernen."
Und die hatte Bentancur, der als Elfjähriger aus dem süd-uruguayischen Nueva Helvecia nach Buenos Aires zog, um für die Boca Juniors zu spielen, auch schon in Argentinien. Carlos Tevez etwa, der ihn als "großes Talent" bezeichnete. Und Fernando Gago. Der 32-Jährige, der einst gemeinsam mit Lionel Messi die U20-WM gewann, spielte fünf Jahre lang bei Real Madrid.
Ex-Real-Star Gago als Mentor für Bentancur
Obwohl seine Karriere gemessen an seinen Fähigkeiten nie die ganz große wurde, war der 63-fache argentinische Nationalspieler ein wichtiger Mentor für Bentancur. Denn Gago hat diese Ruhe am Ball, die vielen jungen Spielern abgeht. Er hat die Nerven, wie ein Quarterback abzuwarten, bis der richtige Moment für den Pass gekommen ist.
"Er ist ein echtes Vorbild und spricht viel mit mir", sagte Bentancur, als er noch das Boca-Trikot trug. Dabei ist er heute längst selbst Vorbild für viele. Er ist spätesens durch seinen Wechsel zu Juve der berühmteste Sohn seiner Heimatstadt Nueva Helvecia und bei der WM in Russland werden Tausende gebannt jeder seiner Aktionen folgen.
Und natürlich denen von Luis Suarez. Umso besser, dass der Veteran und Weltstar dem elf Jahre jüngeren Lehrling in seinem Rücken vertraut. Denn Suarez wird trotz all seiner Erfahrung bei der WM darauf angewiesen sein, dass er erneut einen Zulieferer im Rücken hat, der nicht nur pünktlich liefert, sondern auch qualitativ hochwertige Ware.
