HINTERGRUND
Eigentlich hätte Robin Gosens jeden Moment seines Lebens genießen müssen, als er im Sommer 2017 in Bergamo ankam. Mediterranes Wetter, eine neue Wohnung - und vor allem die Gewissheit, es nun wirklich geschafft zu haben. Er, der nie ein deutsches Leistungszentrum von innen gesehen und dazu noch ein Probetraining beim BVB vermasselt hatte, war nach zwei Jahren bei Heracles Almelo in der holländischen Eredivisie in der Serie A angekommen.
Atalanta Bergamo - der Verein, der in den Jahren zuvor mit deutlich geringerem Budget Juventus und den Mailänder Vereinen Paroli geboten hatte, hatte sich um Gosens bemüht und natürlich seine Zusage bekommen. Für den damals 23-Jährigen sollte nun der Weg beginnen, der ihn vier Jahre später zum EM-Shootingstar der DFB-Elf machen würde. Das wusste Gosens natürlich noch nicht, aber dennoch: Was könnte eine solche Aufbruchstimmung trüben?
Manchmal sind es gefühlte Selbstverständlichkeiten, die erst auffallen, wenn sie fehlen. Gosens fehlt es in seinen ersten Tagen in Italien in seiner neuen Behausung an etwas, ohne das er die hier aufgeschriebene Story nicht einmal lesen könnte: Internet. Eine missliche Lage, denn der Deutsche studiert nebenbei Psychologie und befindet sich mitten um Prüfungsstress. Eindringlich wendet er sich an einen Mitarbeiter seines neuen Vereins - und schlittert geradewegs in seinen ersten großen italienischen Kulturschock.
Gosens' erste Woche bei Atalanta: Internet-Probleme und Verständigungsschwierigkeiten
"Der konnte aber kein Englisch, ich konnte kein Italienisch - und dann haben wir uns mit Google-Übersetzer verständigt. Ich sagte ihm: 'Ich brauche unbedingt Internet!' Er dann: 'Ja ja, ich besorge dir einen, der setzt dir das Internet da ein", so beschrieb Gosens später Journalisten die Konversation. Und tatsächlich: Am nächsten Tag findet sich ein Techniker bei dem jungen Fußballprofi ein, der immer noch seine erste Woche in Bergamo erlebt.
Aus den Niederlanden ist Gosens eine mit Deutschland vergleichbare Pünktlichkeit und Disziplin gewohnt. Daher glaubt er dem Experten, als dieser sagt, er brauche "ein spezielles Teil, das er mir gerade nicht einbauen könne" - dies aber bereits am nächsten Tag zur selben Zeit tun würde.
Als Gosens am nächsten Tag vom Training kommt, ist niemand da: "Ich weiß es noch wie heute: 14 Uhr, 14.05 Uhr, 14.30 Uhr - kein Mensch in Sicht, und ich hab' schon wieder die Krawatte des Grauens bekommen, rufe ihn an und frage: 'Wo bist du denn?' Es war eine Mischung aus Englisch und Italienisch; die drei Sätze, die ich zu diesem Zeitpunkt konnte. 'Wie, wo ich bin?', antwortet er." Der Techniker sagt schlicht, er könne gerade nicht: "Ich komme morgen, gleiche Zeit', hat er mir dann versichert. Na klar ..."
Gosens: Nach Durchbruch in Bergamo nun fester Bestandteil der DFB-Elf
Man kann es sich denken: Auch am nächsten Tag wartet nach dem Training niemand auf Gosens. Stattdessen bekommt der spätere Nationalspieler eine ganze Woche später aus heiterem Himmel einen Anruf: '"Ich stehe vor deiner Haustür, wo bist du denn?" Blöd nur: Gosens ist nun auf dem Weg zum Training und kann dementsprechend erst in vier oder fünf Stunden wieder zuhause sein. Für den Techniker keine große Sache: "Kein Problem', schrie er dann fröhlich. 'Ich warte hier und trinke einen Kaffee'", erinnerte sich Gosens.
GettyTatsächlich findet der Deutsche bei seiner Ankunft um 18 Uhr einen entspannten Techniker vor: "So wie in den Telefonaten zuvor spricht er in sein Zweithandy und lässt seine Sätze auf Englisch übersetzen. 'Hat doch früh geklappt', lachte er." In Gosens reift die Erkenntnis: "Die Italiener ticken alle so!"
Ohne sich anzupassen, habe man keine Chance, sagte der offensiv ausgerichtete Flügelverteidiger später. Dass ihm dies wohl recht schnell gelungen ist, wird durch seinen kometenhaften Aufstieg belegt. Den jungen Mann, der 2017 zu Atalanta wechselte, kannte in der deutschen Heimat niemand. Spätestens seit seinem Gala-Auftritt im zweiten Gruppenspiel der EM 2021 gegen Portugal dürfte sich das geändert haben.
