HINTERGRUND
Es verwundert wenig, wenn ein Trainer beim Stand von 0:2 in einem Halbfinale der Champions League ins Risiko geht und neue Offensivkräfte aufs Feld schickt, um doch noch eine Chance auf den Einzug ins Endspiel zu haben.
Wenn der eingewechselte Spieler allerdings ein No-Name auf der Königsklassenbühne ist, der zwei Tage zuvor gerade seinen 17. Geburtstag gefeiert hatte, dann kommt das doch recht ungewöhnlich daher. Passiert ist es beim Champions-League-Finalturnier 2019/20 im Spiel des FC Bayern gegen Olympique Lyon, als OL-Trainer Rudi Garcia sein Nachwuchstalent Rayan Cherki in der 73. Minute für Abwehrspieler Marcal brachte.
Bis zu Cherkis erster Duftmarke dauerte es nicht lange: Nach einem Einwurf auf Höhe der Mittellinie landete die Kugel bei dem Teenager. Kingsley Coman und Alphonso Davies stellten ihn, auch Thomas Müller und Leon Goretzka waren in unmittelbarer Nähe. Das kümmerte den Youngster allerdings herzlich wenig. Cherki nahm die Kugel an, zog sie viermal mit der Sohle hin und her, drehte sich um Davies, der wenige Tage zuvor noch Lionel Messi kaltgestellt hatte, und machte sich auf den Weg nach vorne.
Lyon-Talent Rayan Cherki verpasst Champions-League-Rekord nur knapp
Es war eine kurze Sequenz, die jedoch sehr gut zeigte, über welch technische Fähigkeiten der junge Franzose verfügt – großen Einfluss auf den Ausgang der Begegnung hatte sie allerdings nicht, die Bayern zogen ins Finale ein und holten später den Pokal. Den Abend in Lissabon dürfte Cherki dennoch so schnell nicht vergessen, schließlich lief er in einem Champions-League-Halbfinale auf, während die meisten 17-Jährigen nur auf der Spielekonsole dem Henkelpott hinterherjagen können.
Dabei war das nicht einmal sein erster Einsatz auf der ganz großen Bühne. Schon im November 2019 kam er zu seinem Debüt und wurde zum zweitjüngsten Spieler in der Champions-League-Geschichte. Kleine Randnotiz: Bereits drei Wochen vorher saß er bei einer Partie auf der Bank und wäre bei einer Einwechslung sogar zum Rekordhalter geworden.
Nächstes Spiel
In der aktuellen Saison geriet seine Entwicklung jedoch etwas ins Stocken. In zwölf Ligue-1-Spielen stand Cherki nur dreimal in der Startformation, fünfmal kam er von der Bank. "Der Hype war zu Beginn riesig, aber seitdem ihn Garcia nicht mehr regelmäßig spielen lässt, ist es ruhiger um ihn geworden", schätzt Goals Lyon-Experte Gilles Campos die Lage ein. "Sollten ihm demnächst aber ein paar Tore gelingen, stünde er sofort wieder im Fokus."
Getty ImagesBild: Getty Images
Wenn man Cherki spielen sieht, stechen sofort seine technischen Fähigkeiten heraus. Die Ballbehandlung des 1,76 Meter großen Rechtsfuß ist eine Augenweide. Dieser verdankt er übrigens auch seinen Wechsel in die Jugendakademie von OL, denn der Ort seiner Entdeckung war kein gewöhnlicher.
"Es war auf einem Parkplatz", erzählte er jüngst bei Telefoot. "Ich war wie immer mit meinem Ball unterwegs. Ich jonglierte ein bisschen und hatte das Glück, dass ein Trainer von Lyon zufällig vorbeikam und vorschlug, dass ich mal ein Probetraining absolviere."
So verschlug es ihn schon im Alter von sieben Jahren zu OL, das seit jeher große Spieler hervorbrachte. Karim Benzema, Anthony Martial, Hatem Ben Arfa oder nun Houssem Aouar sind nur ein paar Beispiele.
In Lyon werden die Talente erstklassig ausgebildet, Cherki beschreibt seine Stärken wie folgt: "Ich gehe gerne ins Eins-gegen-Eins, spiele immer nach vorne. Und ich bin beidfüßig. Seit ich vier Jahre alt bin, trainiere ich meinen schwächeren Fuß. Das gibt dir als Spieler einen großen Vorteil."
Real und Manchester United klopften bereits wegen Cherki an
Technisch können ihm nur wenige das Wasser reichen, sein großes Problem ist derzeit, dass die richtige Position für ihn noch nicht gefunden wurde. Garcia setzt ihn regelmäßig auf dem Flügel ein, im Zentrum fühlt er sich allerdings deutlich wohler. "Wenn ich ihn mit ehemaligen Lyon-Spielern vergleichen müsste, würde ich mich für eine Mischung aus Ben Arfa und Benzema entscheiden", erklärt Campos. Letztgenannter wechselte bekanntlich von OL zu Real Madrid. Der Klub, von dem Cherki träumt und der sogar bereits einen ersten Abwerbeversuch unternahm.
"Die zwei Vereine, die an ihm interessiert waren, als wir sein Vertrauen gewonnen hatten, waren Real Madrid und Manchester United", verriet Lyon-Präsident Jean-Michel Aulas im Sommer bei Telefoot. Cherki verlängerte dennoch bis 2023 und will seine Entwicklung erst einmal in Frankreich vorantreiben. Laut Aulas wird der französische Juniorennationalspieler mit algerischer Abstammung "zweifelsohne das höchste Level erreichen".
In einer Kategorie hat er "das höchste Level" mittlerweile erreicht. Gemeinsam mit Jude Bellingham vom BVB steht Cherki an der Spitze der wertvollsten Spieler des Jahrgangs 2003. Während Bellingham zuletzt schon sein Debüt für die englische Nationalmannschaft feiern durfte, muss sich Cherki in Frankreich erst noch gegen die große Auswahl an Hochbegabten durchsetzen. "In drei bis vier Jahren dürfte auch er für die A-Nationalmannschaft auflaufen", ist sich Campos jedoch sicher. "Sein Potenzial ist einfach riesig."