Mit dem Blick durch die Deutschland-Brille lässt sich durchaus feststellen, dass der größte Erfolg der deutschen Nationalmannschaft in diesem Jahrtausend gleichzeitig den Beginn einer doch recht fundamentalen Krise markierte. Zumindest kann man das mit dem Wissen von heute ziemlich einfach sagen.
Als Miroslav Klose nämlich 2014 beim 7:1 gegen Brasilien im denkwürdigen Halbfinale von Belo Horizonte sein 16. Tor bei einer Weltmeisterschaft erzielte und damit zum bis heute unerreichten Rekord-Torjäger der Turnier-Geschichte aufstieg, vollendete er nicht nur seine persönliche DFB-Karriere, die er nach dem Gewinn des WM-Titels beendete. Der heutige Trainer des 1. FC Nürnberg setzte damit auch den Schlusspunkt hinter die Ära des sogenannten klassischen deutschen Mittelstürmers, unter denen Uwe Seeler, Gerd Müller, Klaus Fischer, Horst Hrubesch, Rudi Völler, Jürgen Klinsmann oder Oliver Bierhoff nur die klingendsten Namen sind.
Über 13 Jahre - oder 137 Länderspiele und 71 Treffer - galt Klose als Inbegriff gnadenloser Effizienz und des instinktiven Torjägers. Klose, dessen Stern international mit seinen fünf Toren bei der WM 2002 aufging, war Deutschlands letzter Weltklasse-Stürmer. Sein Ende in der Nationalelf nach der triumphalen WM 2014 bedeutete den Verlust einer klaren Identität in der vordersten Linie. Die Rolle der deutschen Nummer neun war fortan meist vakant, ersetzt durch viele taktische Experimente und die Suche nach einem adäquaten Nachfolger.
Klose-Nachfolger: Gomez und die Nationalelf fanden nie zusammen
Mario Gomez, der lange Zeit im Schatten von Klose stand, hätte einer werden können. Er agierte ebenso als Zielspieler, der einen guten Torinstinkt und Torabschluss mitbrachte, zugleich sich in Sachen physischer Präsenz und Kopfballstärke nicht allzu sehr von Klose unterschied. Doch Gomez und die Nationalelf fanden nie wirklich zusammen.
Der langjährige Angreifer des VfB Stuttgart und FC Bayern München hatte stets mit einer schlechten Chancenverwertung im Nationaltrikot zu kämpfen, zwischenzeitlich blieb er in Pflichtspielen fast drei Jahre lang torlos. Als er es während der Gruppenphase der EM 2008 irgendwie schaffte, im Spiel gegen Österreich aus kürzester Distanz nicht das Tor zu treffen, sondern den Ball über die Latte zu schießen, hatte er lange mit dem Spott auch der deutschen Fans zu kämpfen. Diese Szene hing dem Goalgetter Gomez lange nach.
Deutschland versuchte ohne Klose eine gewisse Zeit lang mit sogenannten falschen Neunern zum Erfolg zu kommen. Man funktionierte Zehner um und spielte mit Flügelspielern im Zentrum. Mario Götze, Thomas Müller, Serge Gnabry und Kai Havertz waren nur einige, die sich als falsche Neun probieren mussten. Es waren allesamt Versuche, Kloses Wucht durch Finesse im Kombinationsspiel zu ersetzen. Drei desolate Turniere - die WM 2018, die EM 2021 und die WM 2022 - später wusste man, dass dieses Tauschgeschäft nicht aufgegangen war.
Seitdem und gerade mit Blick auf die WM 2026 im kommenden Jahr drängt sich somit die Frage auf, die seit Jahren über den Köpfen der verschiedenen DFB-Verantwortlichen schwebt: Wo ist die gewissermaßen historische DNA des deutschen Torjägers geblieben?
Der Versuch einer Antwort führt in die Philosophie der Nachwuchsförderung der letzten eineinhalb Jahrzehnte - verbunden mit der Hoffnung, durch die Übernahme internationaler Trends zu einer guten Lösung zu kommen. Die Nachwuchsakademien der deutschen Profiklubs züchteten in aller Regel den polyvalenten Offensivspieler, der kombinieren, Räume deuten und sich am Pressing beteiligen sollte. Spieler wie Mario Götze eben. Der Deutschland zwar 2014 den WM-Sieg brachte und der für Dortmund und den FC Bayern München spielte, aber dessen Karriere dennoch leicht unvollendet blieb.
Der Stoßstürmer als vermeintlich taktische Bremse
Die Schulung des reinen, robusten Abschlussspielers wurde dagegen eher als Relikt vergangener Zeiten angesehen und nicht mehr wirklich explizit verfolgt. Die unbezahlbare Fähigkeit, einen echten Torinstinkt in sich zu haben oder ihn noch gezielter zu entwickeln, um sich auch mal gegen zwei Verteidiger durchsetzen zu können, den Bruchteil einer Sekunde eher am Ball zu sein und in Gerd-Müller-Manier mit dem gesamten Körper ein Tor zu erzwingen - diese Wucht wurde zugunsten der technischen Flexibilität geopfert.
Die Konsequenz dieser ideologischen Verirrung war eine systematische Verarmung auf einer der wichtigsten Positionen des Spiels. Wo einst Gerd Müller, Rudi Völler, Jürgen Klinsmann und später eben Klose standen und mit ihrer bloßen Präsenz Abwehrketten banden oder Gegenspieler zermürbten, herrschte plötzlich weitestgehend Leere. Die Nachfolger-Riege aus Spielern wie Müller, Götze, Timo Werner, Havertz oder Gnabry war zwar in der Lage, taktisch anspruchsvoll in die Räume zu laufen. Sie ließ im Moment der entscheidenden Konfrontation im Sechzehner aber oft die letzte Konsequenz vermissen.
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Hannes Wolf: "Wir waren von den Top-Nationen die schlechteste"
Der fundamentale Fehler der Ausbildung lag in der Annahme, man könne sich die physische Härte und den Killerinstinkt eines "echten" Neuners noch später anlernen, während man in jungen Jahren die kognitiven und technischen Fähigkeiten eines Zehners oder Flügelspielers priorisierte. Doch Kloses Erfolg beruhte neben seiner kontinuierlichen Präsenz und den ständigen Duellen mit seinen Gegenspielern auf seinem totalen Fokus auf das Tor. Das ist schlicht Können, keine Frage. Doch es ist auch eine mentale Haltung, die man über Jahre hinweg schulen kann und die gefestigt werden muss. Sonst kann ein Stürmer in Theorie wie Praxis nicht der erfolgreiche Endpunkt eines Angriffs einer Mannschaft sein.
In Deutschland wurden junge, körperlich starke Stürmertalente allerdings oft dazu angehalten, sich fallen zu lassen, sich anspielbar zu machen und Pass-Optionen zu generieren, anstatt ihre physischen Vorteile in der gefährlichsten Zone des Feldes auszuspielen. Die Ausbildung wurde von der Angst vor dem Ballverlust und der Liebe zur perfekten Struktur dominiert.
Der Zufall, die Improvisation, vielleicht auch die sozusagen rohe Gewalt im Strafraum - alles Dinge, die Teile des Stürmer-Gens eines klassischen Neuners sind - gerieten in den Hintergrund. Diesen taktischen Fehler in der Struktur der Nachwuchsleistungszentren erkannte Hannes Wolf, seit Sommer 2023 Direktor Entwicklung beim DFB, schnell. Er formulierte erst kürzlich wieder schonungslos in der Frankfurter Rundschau: "Wir haben schlechter ausgebildet, da brauchen wir uns nichts vorzumachen. Wir waren in der Spielerentwicklung von den Top-Nationen die schlechteste."
Füllkrugs Berufung als Bekenntnis zur Pragmatik
Eine knallharte Ohrfeige für die gesamte Ausbildungsphilosophie. Wolf hat sich nichts Geringeres vorgenommen, als diese zu revolutionieren. Mit Blick auf die Ausbildung von echten Angreifern sagte er bereits: "Wenn wir ein Elf-gegen-Elf nehmen, hat der Stürmer in 90 Minuten 30 Ballkontakte. Wenn der eine halbe Stunde trainiert, dann hat er, wenn du es ausrechnest, zehn Ballkontakte. Wie sollst du über reines Elf-gegen-Elf, über eine große Spielform, Stürmer entwickeln? Das funktioniert nicht. Das hat früher funktioniert, aber die sind ja nicht beim Training groß geworden. Die sind auf dem Bolzplatz groß geworden."
Die Folge der Verarmung des deutschen Stürmer-Reservoirs ist, dass auch aktuell noch nach einer pragmatischen Lösung im DFB-Kader auf dem Weg zur WM 2026 gesucht wird. Ein deutscher Harry Kane oder ein Talent, das einmal mit großer Gewissheit Weltklasse verkörpern könnte, war und ist schlicht nicht da. Die späte Entdeckung und erstmalige Berufung im November 2022 von Niclas Füllkrug markierte am deutlichsten das Ende der Ideologie des falschen Neuners. Als der damalige Bremer erstmals im DFB-Dress auflief, war er mit 29 Jahren und 280 Tagen der älteste Debütant als Feldspieler seit Martin Max im Jahr 2002.
Füllkrug brachte, obgleich nicht auf Weltklasse-Niveau, exakt jene Qualitäten mit, die Klose im Prinzip perfektioniert hatte: physische Präsenz, Kopfball- und Abschlussstärke. Seine Berufung war ein Bekenntnis zur Pragmatik. Diese notwendig gewordene Abkehr vom vermeintlichen Schöngeist wurde auch von der Führungsebene mitgetragen.
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Rudi Völler: "Wir haben nicht extrem viele Topstürmer"
DFB-Sportdirektor Rudi Völler, selbst ehemalige Stürmer-Legende, weiß nur zu gut, dass man gerade auch bei Turnieren einen Mann für die teils einfachen, aber wuchtigen Tore braucht. "Ich habe immer wieder betont, dass wir diesen Typ Stürmer brauchen, der Tore garantiert und auch mal eine Drecksarbeit macht", sagte Völler und machte später noch deutlicher klar: "Natürlich ist es uns lieber, wir hätten einen Mittelstürmer von internationaler Top-Klasse, aber den haben wir im Moment nicht. Das wissen wir alle, dass wir nicht extrem viele Topstürmer haben. Wir haben nicht so viele und die müssen wir hegen und pflegen. Wir müssen das Beste daraus herausholen."
Die Nominierung von Tim Kleindienst von Borussia Mönchengladbach, den Bundestrainer Julian Nagelsmann erstmals im Oktober 2024 als Ersatz für den verletzten Füllkrug im Alter von 29 Jahren und 41 Tagen berief und der ebenfalls durch seine körperliche Wucht überzeugt, diente dann als weiterer Beleg für die Rückbesinnung. Möglicherweise auch dafür, dass die taktische Wende in Deutschland nicht funktioniert hat.
Nun versuchte man sich wieder mit Typen wie Füllkrug und Kleindienst, die der Mannschaft eine echte vertikale Option boten, teilweise das Mittelfeld entlasteten und die Außenbahnspieler mit einem klaren Zielspieler versorgten. Durch sie kam auch eine notwendige Härte zurück. Schließlich sind weder Füllkrug noch Kleindienst filigrane Zauberer. Doch sie beherrschen den ersten Kontakt im Sechzehner, können einen langen Ball mit dem Rücken zum Tor sichern und haben die Entschlossenheit, den Fuß in Situationen hinzuhalten, bei denen andere zögern. Allerdings: Weltklasse verkörpern Füllkrug und Kleindienst eben bei weitem nicht.
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Nick Woltemade: Der Stürmer der DFB-Zukunft?
Der DFB musste mit den Jahren einsehen, dass man den klassischen Stürmertypus nicht ersetzen kann, sondern ihn neu beleben muss. Die große Aufgabe liegt jetzt darin, die neuen Talente nicht wieder in falsche Rollen zu pressen, sondern ihre natürlichen Stärken zu fördern. Ob daraus dann ein "neuer" Typ Klose entsteht, wird sich zeigen - doch die Richtung in der Ausbildung muss stimmen.
Einen Spieler, der die physische Dominanz des klassischen Stürmers mit den modernen Anforderungen des Spiels verbindet, verkörpert derzeit vor allem Nick Woltemade. Der 23-Jährige ist mit seinen knapp zwei Metern Körperlänge prädestiniert für die Rolle des Zielspielers, besitzt aber gleichzeitig eine beachtliche Technik und schlicht enormes Talent. Er ist ein Kandidat, der - eine entsprechende Weiterentwicklung vorausgesetzt -, sich in die Nähe der Weltklasse spielen kann.
Als Nagelsmann und Völler den mittlerweile für die stolze Ablösesumme von bis zu 90 Millionen Euro zu Newcastle United gewechselten Woltemade für den VfB Stuttgart im DFB-Pokalfinale im vergangenen Mai brillieren sahen, konnten sie beobachten, "welche technischen Fähigkeiten er hat und mit welcher Eleganz er Gegenspieler umdribbeln kann", schwärmte der Sportchef. Woltemades "Wucht und das Spielverständnis" seien "top", erklärte Völler und führte aus: "Luft nach oben hat er trotz seiner Größe im Kopfballspiel, aber das sind Dinge, die man sicherlich lernen und trainieren kann. Wenn er da noch ein paar Prozent zulegt, hat er eine ganz große Karriere vor sich."
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Entwicklung von Nick Woltemade ist der Lackmustest für den DFB
Woltemade kann künftig derjenige sein, der die Kluft zwischen Kloses Erbe und den heutigen Ansprüchen im Spitzenfußball schließt: Ein Stürmer, dessen primäre Waffen Physis und Instinkt sind, der aber gleichzeitig die taktische Intelligenz besitzt, sich in das Pressing und die Kombinationen des Nagelsmann-Systems einzufügen - und darüber hinaus äußerst beweglich ist und über eine feine Technik verfügt. Woltemades Entwicklung ist gewissermaßen der Lackmustest für die neue DFB-Philosophie.
Nagelsmann war zuletzt mit den Anfängen des mittlerweile achtfachen Nationalspielers recht zufrieden: "Ich finde, dass er das ganz in Ordnung gemacht hat. Er hat immer noch ein paar Schritte zu gehen, aber ist auf einem guten Weg." Die Worte des Bundestrainers sind auch als Arbeitsanweisung an Woltemade zu verstehen, sein Talent zu nutzen und eine entsprechende Haltung an die Tag zu legen, um regelmäßige Fortschritte zu erzielen.
Die Entwicklung weiterer solcher Spieler erfordert nun ein Umdenken auf allen Ebenen. Die Jugendtrainer müssen die Spezialisierung auf den Stürmer wieder zulassen. Es muss mehr individuelles Training geben, das sich beispielsweise ausschließlich auf die Schuss- und Kopfballtechnik unter höchster Bedrängnis konzentriert. Die Wiederholungsrate dieser spezifischen Situationen, die Wolf als essentiell beschreibt, muss exponentiell steigen, um idealerweise den Instinkt zu erhalten, der jemanden wie Klose auszeichnete.
Mit Hilfe von Wolfs Arbeit muss man es in Deutschland schaffen, dass die Stürmer wieder lernen, den Moment der Entscheidung im Strafraum zu beherrschen, so wie es die prominenten Beispiele von früher intuitiv konnten. Es geht darum, das zu korrigieren, was man in der Ära des Ballbesitz-Hypes verlernt hat.
Nur so kann die deutsche Nationalmannschaft, die auch weiterhin über eine Fülle technisch versierter Mittelfeldspieler verfügt, eines ihrer potenziell letzten Puzzleteile für den Erfolg finden. Die Hoffnung ist zwar vage, aber die Notwendigkeit eindeutig: Die Kontinuität der deutschen Torjäger-Tradition muss wiederhergestellt werden, um in der globalen Spitze bestehen zu können.
