HINTERGRUND
"Digital ist besser", heißt ein in Genrekreisen bekannter Song auf dem gleichnamigen Album der Hamburger Indie-Rock-Band Tocotronic. Eine These im Jahre 1995, die von dem Quartett in der Folge nicht näher ausgeführt wird, letztlich seither lapidar im Raum oder eben im CD-Regal stand.
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Münzt man das prägnante Dogma auf den Fußball-Kosmos, so wird der Eindruck erweckt, man habe – zumindest von offizieller Seite - etliche Jahre eine andere Auffassung vertreten. Kein Wunder, versteht man sich doch bis heute als traditionsbewusste, romantische, quasi analoge Instanz in einer verdigitalisierten Sportwelt.
Während die Nutzung modernster Technologien während des Spiels beim American Football, Rugby, Basketball, ja selbst beim Volleyball, seit Jahren gang und gäbe ist, brauchte der Fußball deutlich länger, um eine dahingehende "Revolution" in die Wege zu leiten.
Bei der Weltmeisterschaft in Russland erlaubt die FIFA erstmals, dass Trainer via Headset direkten Kontakt mit einem auf der Tribüne sitzenden Assistenten aufnehmen dürfen. Diese Regeländerung will sich auch der DFB zunutze machen. Joachim Löws Mann auf den Rängen, derjenige, der den Überblick aufs große Ganze hat und Kontakt in die Coaching Area aufnehmen wird, ist Marcus Sorg. Taktikfuchs, Analytiker, Fußballlehrer und studierter Bauphysiker.
Marcus Sorg: "Für uns ein gutes Tool"
"Wir sind natürlich an Statuten gebunden, die von der FIFA vorgegeben sind. Zum ersten Mal wird es bei der WM die Möglichkeit geben, von oben nach unten zu korrespondieren", erklärte Sorg jüngst und ergänzte: "Das ist für uns ein gutes Tool. Ich bin über zwei Jahre dabei, das hat sich bewährt, in der ersten Halbzeit oben zu sitzen und gewisse Dinge im Überblick zu haben, die man von unten nicht erkennen kann."
GettyBerti Vogts (r.) trainierte Bayer Leverkusen zwischen November 2000 und Mai 2001Tatsächlich ist das Modell des "allsehenden Auges" nämlich nicht wirklich neu. Wurde Berti Vogts, damals, im Jahr 2000, in Diensten von Bayer Leverkusen, bisweilen dafür belächelt, seinen Co-Trainer Pierre Littbarski auf die Tribüne zu schicken, damit dieser dann seine Erkenntnisse in der Halbzeitpause zum Besten geben konnte, ist diese Hilfestellung mittlerweile längst Usus. Sorg nimmt diese Rolle schon länger in seiner Funktion als Assistenztrainer beim DFB ein. Lediglich die vom Regelboard Ifab abgesegnete, offizielle Erlaubnis, in einer laufenden Begegnung Kontakt nach unten aufzunehmen, ist gewissermaßen "innovativ".
Trotz Headset und Funkkontakt: Halbzeit bleibt Hauptkriterium
"Man hat die Möglichkeit, dem Trainerteam gewisse Informationen direkter und schneller zukommen zu lassen. Wohlwissend, dass man sehr gut sortiert sein muss, weil man nicht permanent Informationen mitteilen kann", weiß Sorg, der zudem zu bedenken gab: " Der Trainer ist eingeschränkt in seinen Möglichkeiten, während des laufenden Spiels Einfluss auf die Jungs zu nehmen. Deshalb wird das Hauptkriterium auch weiterhin die Halbzeitpause bleiben."
Doch was bedeutet das konkret? Der 52-Jährige definierte seinen bisherigen Tätigkeitsbereich als "Tribünenadler" in einem Interview mit der Badischen Zeitung: "Meine Aufgabe ist es, Jogi darin zu unterstützen, die Halbzeitpause optimal zu nutzen. Da kann es ihm natürlich helfen, wenn er entsprechende Informationen geliefert bekommt, und das in komprimierter Form. Ich arbeite Tag für Tag mit ihm zusammen und weiß genau, was er will und braucht, kenne seine Vorstellungen. Ich kann ihm von dieser erhöhten Perspektive aus Details liefern, die er dann – wenn er möchte – in der Pause anspricht."
GettyBundestrainer Jogi Löw mit Assistent Marcus Sorg (r.)Nun kommt in Russland also das Headset als zusätzliches Hilfsmittel hinzu. Erstmals testete der deutsche Trainerstab die neue Möglichkeit im Freundschaftsspiel gegen Österreich am vergangenen Samstag. In ständigem Kontakt steht Sorg allerdings nicht mit dem Bundestrainer, sondern mit Thomas Schneider, Löws Co. "Marcus wird oben mit einem Headset sitzen und ich bin mit ihm verbunden", sagte Schneider im Vorfeld der Begegnung mit der österreichischen Auswahl. "Wir wollen nicht jeden Pass korrigieren. Es geht darum Muster zu erkennen, die wir auf der Bank nachvollziehen und korrigieren können."
Doch nicht nur hinsichtlich des neuen Gadgets, das übrigens in Form eines "handlichen mobilen Gerätes" verwendet wird, öffnete man sich beim DFB zuletzt zukunftsträchtig, um langfristig im immer schnelllebigeren Fußball-Geschäft wettbewerbsfähig zu bleiben. In diesem Jahr soll die Grundsteinlegung für die von langer Hand geplante DFB-Akademie in Frankfurt erfolgen. Auch bei diesem Mammutprojekt, das laut Sportdirektor Joti Chatzialexiou dazu beitragen soll, "die Qualität, die wir schon mal hatten, wieder zu generieren", gilt Sorg als treibende Kraft.
Um etwaige digitale Verbesserungen auszuloten, reiste er mit einer Delegation ins Silicon Valley, das Mekka der Visionäre, wo die DFB-Verantwortlichen bei den Technologieriesen Apple und Google vorstellig wurden. "Fakt ist, dass man sich immer fortbilden muss und schauen, was für Möglichkeiten es gibt, sich zu verbessern", begründete der ehemalige Coach des SC Freiburg den Abstecher nach Kalifornien.
DFB-Akademie als "Silicon Valley des Fußballs"
Manager Oliver Bierhoff, der ebenfalls an der USA-Exkursion teilnahm, zeigte sich begeistert von den neuen Eindrücken: "Moderne digitale Technologien, Big Data, Künstliche Intelligenz, all das wird künftig eine große Rolle spielen." Umso passender also, dass der EM-Held von 1996 den angestrebten DFB-Campus im Handelsblatt Wirtschaftsclub als "Silicon Valley des Fußballs" bezeichnete.
Worte, die im bislang – zumindest hinsichtlich der Nutzung von Technik – etwas rückständigen Fußball, recht ambitioniert anmuten. NFL, NBA und Co. haben es zwar vorgemacht, welch obligatorische Rolle die Digitalisierung im Sport einnehmen kann. Ob das Testmodell auch im Fußball in Serie kommt, digital schließlich wirklich besser ist, werden die Erfahrungen bei der WM zeigen. Marcus Sorg, der Löw-Flüsterer, wird seine Eindrücke jedenfalls mit großer Gewissheit teilen. Bis dahin bleibt es aber bei der nonchalanten These einer vierköpfigen Hamburger Indie-Rock-Band.
