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Julian Nagelsmann von RB Leipzig im Interview: "Es ist wichtig, dass mal etwas komplett für die Tonne ist"


EXKLUSIV-INTERVIEW

Cheftrainer Julian Nagelsmann trifft am Freitag (20.30 Uhr im LIVE-STREAM auf DAZN) zum Auftakt des 31. Bundesliga-Spieltags mit RB Leipzig auf seinen Ex-Klub, die TSG Hoffenheim.

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Vor dem Duell mit dem früheren Verein spricht Nagelsmann im Interview mit Goal und DAZN über Leipzigs Probleme in der Rückrunde, die Champions League, das Faszinierende an Atletico-Coach Diego Simeone oder unterschätzte Spieler. Außerdem erklärt der 32-Jährige seine Liebe zur Natur und verrät, wo er sich mit 50 Jahren sieht.

Herr Nagelsmann, RB Leipzig hat seit der Coronapause in allen drei Heimspielen unentschieden gespielt, die zwei Auswärtsspiele wurden gewonnen. Ist es auswärts gerade leichter?

Julian Nagelsmann (32): Das wirkt so, wenn man die Ergebnisse sieht. Ich glaube aber, das hat wenig mit Corona zu tun. Grundsätzlich waren wir sehr heimstark in der Hinrunde, das war nicht so verkehrt. In der Rückrunde haben wir schon vor Corona unnötigerweise ein paar Punkte liegenlassen. Eine hundertprozentige Erklärung dafür habe ich noch nicht, wir haben zu Hause in jedem Spiel so viele Chancen, dass wir die Spiele gewinnen könnten. Ich hoffe, dass es in den letzten zwei Heimspielen der Saison anders wird. Wenn wir die gewinnen, wäre die Heimbilanz ganz ordentlich.

Sie waren nach der Vorrunde vier Punkte vor den Bayern, in der Rückrundentabelle sind Sie aktuell Vierter. Wo ist das Problem in der Rückrunde?

Nagelsmann: Es ist für eine junge Mannschaft nicht so einfach, immer an die Grenze gehen zu müssen. Leistungsschwankungen sind bei jungen Spielern normal. Und: Wir müssen in jedem Spiel, in der Champions League, aber auch in der Bundesliga, immer an die Grenze gehen, um erfolgreich zu sein. Das unterscheidet uns schon ein bisschen von Teams wie Dortmund oder Bayern, die in der Liga nicht in jedem Spiel 100 Prozent gehen müssen und trotzdem erfolgreich sind. Wir sind noch nicht so weit und kriegen es noch nicht immer umgesetzt, dass wir auch mal mit angezogener Handbremse Spiele gestalten können. Wenn wir solche Spiele hatten wie Mainz in der Hinrunde, wo wir nach 51 Minuten 7:0 führen, dann ist es trotzdem in den Jungs drin, dass sie bis zum Schluss Vollgas geben. Da fehlt uns noch die Abgeklärtheit, Erfahrung und Souveränität, um Gas rauszunehmen.

Und das ist schlecht?

Nagelsmann: Das ist auch positiv, weil es heißt, dass die Jungs immer bereit sind, Vollgas zu geben. Aber es wirkt sich eben aus, je länger die Saison geht. Dann kam die Pandemiepause, die für die jungen Spieler auch nicht einfach war. Wenn du 30 bist und deine Familie oder deine Freundin bei dir wohnt und du dein normales Umfeld um dich hast, hat sich für dich während der Pandemie vielleicht nicht so viel verändert. Wenn du aber ein 20-jähriger Franzose oder 20-jähriger Österreicher bist und drei, vier Monate nicht nach Hause und deine Freundin und Familie nicht sehen kannst, dann ist das nicht so einfach. Dann trifft es junge Teams anders als erfahrene.

Vor dem Hinspiel war Ihr Wiedersehen mit Hoffenheim natürlich ein großes Thema. Wie ist es jetzt? Wird es normaler?

Nagelsmann: Es wird normaler, weil keine Zuschauer da sind. Es wäre schon etwas Besonderes gewesen, zum ersten Mal wieder in dem Stadion, in dem ich dreieinhalb Jahre Trainer war, nicht nur zu spielen sondern auch von den Fans empfangen zu werden. Jetzt ist es immer noch einen Tick besonderer als andere Spiele für mich, weil ich die alten Mitarbeiter wiedertreffe, weil ich neun Jahre in der Region war. Aber mit Fans wäre es schon noch was anderes gewesen. Darauf hatte ich mich auch sehr gefreut.

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Wir haben vorhin kurz Oliver Mintzlaff getroffen, der meinte, dass nach dem 1:1 gegen Paderborn schon eine kleine Stimmungsdelle zu spüren gewesen war ...

Nagelsmann: Die Delle gibt es schon eine ganze Weile. Wir sind alle ambitioniert und wollen erfolgreich sein und natürlich stehen wir unter Druck, Erfolg haben zu müssen. Der Klub will unbedingt in die Champions League.

Aber die Spieler und Trainer wollen doch auch in die Champions League?

Nagelsmann: Natürlich, ja, das ist unser Anspruch. Und ich gehe fest davon aus, dass wir es schaffen. Ich glaube, dass Leverkusen oder Gladbach gerne mit uns tauschen würden. Wieso reden wir immer vom fünften Platz? Wir sind auf dem dritten Platz und haben alles in eigener Hand.

Ist es für Sie überhaupt schon greifbar, dass die Champions League irgendwann fortgesetzt werden wird?

Nagelsmann: Ja, durchaus. Natürlich wollen wir nach den guten Auftritten in der Champions League weiterspielen. Aber es ist natürlich schwer zu planen, weil man überhaupt nicht weiß, wann und wie genau es weitergeht. Das ist auch für die UEFA tricky, weil es für jede Liga ein Worst-Case- und Best-Case-Szenario gibt. Für uns wäre ein Turnier Anfang August ungünstig, weil die Saison Ende Juni vorbei ist und wir dann einen ewig langen Übergang von vier Wochen für das nächste Spiel hätten. Für andere Ligen könnte es andererseits sehr schwierig werden, wenn das Turnier Mitte, Ende August stattfinden sollte. Man muss versuchen, Termine zu finden, die es Trainern und Spielern erlauben, auch ein bisschen Urlaub zu machen. Nächste Saison wird ja nicht weniger kompliziert, wenn die Spielzeit später startet, womöglich später aufhört und danach noch eine EM gespielt werden muss. Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Sportler auch mal ein bisschen erholen können.

Welche Auswirkungen hätte so ein Champions-League-Turnier im Sommer auf die Vorbereitung auf die nächste Saison und die Kaderplanung?

Nagelsmann: Wenn wir im August spielen, würden wir zwei bis drei Wochen freimachen, uns dann drei Wochen vorbereiten. Das erste Saisonspiel wäre dann in der Champions League, was auch schwierig wäre, weil man wohl keine Testspielgegner finden würde, da diese entweder noch im Ligabetrieb oder schon im Urlaub wären. Es würde dann vielleicht ein internes Testspiel herhalten müssen, um anschließend das Champions-League-Viertelfinale zu spielen. Und auch danach wirst du keinen Urlaub machen können, weil ja womöglich am 11. September die Bundesliaga wieder starten wird. Die Saison wird schon extrem lang – plus dann eine EM! Aber das ist Jammern auf hohem Niveau, weil wir über eine Branche sprechen, der es grundsätzlich sehr gut geht.

Was würde das Champions-League-Turnier für die Kaderplanung bedeuten? Spielt man womöglich  im August mit einem Kader die Champions League zu Ende, der ein ganz anderer ist als der aktuelle?

Nagelsmann: Wenn die Verträge so bleiben, wie sie sind, dürfte ein Spieler, dessen Vertrag am 30.6. endet, rein theoretisch ab dem 1.7. für eine neue Mannschaft spielen. Da ist die FIFA am Zug. Ich persönlich finde die Idee interessant, dass Spieler am 1.7. zu ihren neuen Klubs gehen und dann für die Champions League die gleichen Regeln gelten sollten wie bei Nationalmannschaftsabstellungen. Sprich, dass der neue Klub den betreffenden Spieler für die Champions-League-Spiele an den alten Verein abstellen müsste.  Dann könnte es zwar zu wirren Szenarien kommen, aber es wäre für mich sehr seltsam, wenn es zur Situation kommen sollte, dass du plötzlich gegen deinen eigenen Spieler spielst.

Also wäre Ihr Vorschlag, dass Timo Werner, sollte er wechseln, die Champions-Leage noch für Leipzig zu Ende spielen sollte?

Nagelsmann: Wenn ein Spieler einen Verein verlässt, wäre das für mich eine sinnvolle Lösung, ja.

Was für Ideen haben Sie für den Leipziger Kader für die kommende Saison?

Nagelsmann: Grundsätzlich hätte ich kein Problem damit, wenn der Kader so zusammenbliebe, wie er ist. Wir haben eine junge, talentierte Mannschaft. Dass es trotzdem immer Verbesserungspotential gibt, ist ganz normal. Grundsätzlich sollten wir uns im Bereich der Kommunikation verbessern, dass wir noch mehr miteinander reden und uns gegenseitig unterstützen. Das ist gerade nach der Corona-Pause schon auffällig. Wenn wir Angelino behalten könnten, wäre ich für die Außenverteidigerpositionen sehr zufrieden. Grundsätzlich kann man schauen, wie wir mehr Torgefahr auf die rechte Seite bekommen, wie die Langzeitverletzten zurückkommen und auf welcher Position wir gegebenenfalls reagieren müssten. Man könnte dazu dem Mittelfeld ein bisschen eine andere Struktur geben. Aber es kann auch sein, dass wir gar keinen Spieler holen könnnen. Es gibt immer die Wunschträume eines Trainers und dann die normale Realität - und dann muss man sehen, dass man sich irgendwo in der Mitte trifft. Aber das werden wir schon hinbekommen.

Gibt es Trainer, die Sie besonders beeindrucken?

Nagelsmann: Es gibt natürlich Trainer, deren Spielidee meiner ähnelt. Aber um einen Anderen zu nennen: Diego Simeone vermittelt seit Jahren einen ähnlichen Fußballstil, der nicht immer ganz angenehm ist für die eigenen Spieler und auch nicht immer der spannendste ist. Aber die Spieler folgen ihm trotzdem bedingungslos. Der Kollege muss eine außergewöhnliche Gabe haben. Ich glaube, dass 99 Prozent der Trainer, die immer nur 4-4-2-flach, sehr tief stehen und so fies spielen lassen würden, nach zwei Jahren verbrannt wären. Aber er nicht. Er rennt draußen rum wie Dynamit und kommt trotzdem super an bei seinen Spielern. Diego Simeone muss irgendwas haben, das seine Spieler total in seinen Bann zieht. Das ist außergewöhnlich.

Gibt es einen Trainer, der Sie in einem Spiel mal richtig überrascht hat?

Nagelsmann: Es gab mal ein Spiel zu Hoffenheimer Zeiten in Freiburg, das sehr interessant war. Da haben Christian Streich und ich immer wieder hin- und hergewechselt zwischen Dreier- und Viererkette. Wenn er Dreierkette gespielt hat, haben wir auf Viererkette gestellt. Wenn er auf Viererkette ging, haben wir auf Dreierkette umgestellt. Ich glaube, das ging sechs, sieben Mal so in diesem Spiel. Das war taktisch sehr, sehr witzig.

Gibt es einen Spieler, der Ihrer Meinung nach völlig unterschätzt wird?

Nagelsmann: Flo Grillitsch ist in meinen Augen einer der besten Sechser in der Bundesliga, der schon ein bisschen unter dem Radar läuft. Man liest zumindest selten was über ihn. Er ist einer der außergewöhnlichsten Spieler, die ich trainiert habe. Er hat noch ein paar Baustellen, das weiß er, das habe ich ihm auch oft genug gesagt. Aber er ist ein außergewöhnlicher Fußballer und besitzt eine unglaubliche Gabe, den Spielrhtyhmus zu bestimmen. Es wird eine der Hauptaufgaben am Freitag für uns sein, ihn auszuschalten.

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Was sehen Sie beim Scouting von Spielern, was andere nicht sehen?

Nagelsmann: Mit dem Scouting selbst sind wir im Trainerteam ja weniger befasst. Wir erstellen gewisse Positionsprofile und die Scouts suchen dann nach Spielern. Grundsätzlich schaue ich weniger auf die Position. Anders als viele andere, schaue ich erst mal, wie sich ein Spieler wohlfühlt mit dem Rücken zum Tor und mit dem Gesicht zum gegnerischen Tor. Das ist die erste Unterscheidung, die ich treffe. Wenn ich mir da einen Eindruck verschafft habe, habe ich plakativ ausgedrückt schon fünf Positionen ausgeschlossen für den Spieler. Wenn du gut bist mit dem Rücken zum Tor, ergibt es keinen Sinn, dich als Innenverteidiger spielen zu lassen. Wenn du aber katastrophal mit dem Rücken zum Tor bist, ergibt es keinen Sinn, dich als Mittelstürmer spielen zu lassen. Dann gehörst du eher ins Mittelfeld, um das Gesicht zum Tor zu haben. Das ist eine Unterscheidung, die viele meiner Meinung nach nicht machen. Die ich aber treffe, um erst mal zu kategorisieren, auf welcher Position ein Spieler überhaupt eingesetzt werden könnte. Daher lege ich mich beim Scouting nicht auf eine Position für einen Spieler fest. Wenn ich das machen würde, würde der Kader sehr teuer werden.

Wie würden Sie einen Spieler wie beispielsweise Timo Werner ersetzen? Würden Sie versuchen, ihn 1:1 zu ersetzen?

Nagelsmann: Das geht nicht, du kannst einen Spieler ja nicht klonen. Würde uns Timo Werner verlassen, würde es in erster Linie darum gehen, 34 Scorerpunkte zu ersetzen. Das wäre die Hauptaufgabe, die man vielleicht auch nicht nur durch einen Spieler lösen könnte. Wichtig ist, dass wir am Ende des Tages auf den gleichen Output kommen, das ist das Komplexe an der Thematik.

Wird es taktisch noch einmal so eine Neuerung geben, die womöglich auch Sie völlig überraschen wird? Wie damals, als die Viererkette gekommen ist und der Libero ersetzt wurde?

Nagelsmann: Es gibt immer wieder Nuancen, die dazukommen. Frankfurt zum Beispiel praktiziert etwas, was wir damals auch in Hoffenheim mit Benjamin Hübner angefangen haben: Dass man den Innenverteidiger mitten im Spiel immer mal wieder nach vorne sprinten lässt in die Box, wenn einer eine Flanke schlägt. Hinteregger macht das zehn, zwölf Mal pro Spiel, daher glaube ich schon, dass das bewusst geschieht – da muss ich Adi Hütter mal fragen, ob sie das bewusst trainieren. Die Idee ist, die Box mit mehr Personal zu fluten, vor allem auch mit torfernen Spielern, die man als gegnerischer Verteidiger nicht so kennt und die daher schwerer zu verteidigen sind. Solche Dinge passieren immer wieder, doch man erfindet deswegen nicht das Rad immer wieder neu. Letztendlich ist es gut, dass sich das Rad immer weiterdreht, Fußball ist ein fahrendes Geschäft, es geht immer weiter. Aber die extreme taktische Innovation wird es eher nicht mehr geben.

Gibt es bei RB Spieler, die Sie seit Ihrer Ankunft extrem überrascht haben?

Nagelsmann: Überrascht vielleicht nicht, aber bei Marcel Sabitzer bin ich sehr erfreut über seine Entwicklung. Letztes Jahr hat er auf einer eher offensiven Position spielend trotz sehr vieler Chancen eher wenige Tore erzielt. Jetzt spielt er auf der Sechs und ist dort einer der stabilsten Spieler auf der Position in der Bundesliga. Da bin ich überrascht, dass er das so gut angenommen hat. Am Anfang dachte ich, er würde mehr murren, dass er weiter hinten spielen muss. Aber er hat eine große Freude daran entwickelt, dort zu spielen. Er ist ein außergewöhnlicher Typ, der manchmal sehr ruhig ist. Aber wenn du mit ihm sprichst, hat er viel zu erzählen und zu vielen Dingen auch eine klare Meinung. Er ist ein sehr erwachsener, reifer Mensch und ich bin froh, dass wir ihn haben.

Sie haben mal gesagt, dass Sie auf keinen Fall wie Jupp Heynckes noch mit 70 auf der Trainerbank sitzen wollen und womöglich schon in zehn Jahren aufhören könnten. Wovon würden Sie das abhängig machen?

Nagelsmann: Grundsätzlich schon daran, ob ich meine Ziele erreiche. Ich würde schon gerne mal was gewinnen. Ganz ohne Titel aufzuhören – die U19-Meisterschaft war nicht schlecht, aber auch nicht das, was ich mir von meiner Trainerkarriere erhoffe (lacht) – kann ich mir eher nicht vorstellen. Aber natürlich müsste auch eine finanzielle Voraussetzung erfüllt sein, ehe ich mich anderen Dingen widme, die vielleicht nicht jeden Monat die Kosten decken würden. Es gibt einfach viele andere Dinge in meinem Leben, die mich begeistern und die ich gerne mal machen würde. Der Trainerjob ist einfach extrem erfüllend, aber auch extrem zeitaufwändig. Du hast als Trainer einfach nie Zeit für Freunde und Familie, meine Freunde sehe ich vielleicht einmal im Jahr richtig. Und ich mache das alles schon, seit ich Zwölf bin! Daher hätte ich schon irgendwann gerne mehr Zeit für meine Familie und für die anderen Dinge im Leben, die mich begeistern.

Was machen Sie zum Abschalten?

Nagelsmann: Ich mag Wälder, allgemein die Natur. Ich mag Mountainbiken, habe mir jetzt aber ein Rennrad gekauft, weil Mountainbiken hier aufgrund der fehlenden "Mountains" nicht ganz so gut ist. Aber es gibt gute Rennradstrecken. Ich mache viele Sportarten, bei denen mein Handy nicht dabei sein kann, weil ich mich auf andere Dinge konzentrieren muss. Ich bewege mich sehr gerne, um den Kopf freizukriegen, bin sehr gerne draußen in der Natur, aber grundsätzlich auch gerne bei meiner Familie.

Könnten Sie sich vorstellen, die Nachfolge von Jochen Schweizer als "Outdoor-Papst" anzutreten?

Nagelsmann: Ganz so groß wie Jochen Schweizer möchte ich nicht werden, aber im kleinen Kreis Outdoortouren anzubieten für 10, 20 Leute oder so später: das könnte ich mir durchaus vorstellen. Das muss auch nicht mit einer eigenen Firma wie "Julian Nagelsmann Outdoor" sein. Ich kann mir auch vorstellen, irgendwo angestellt zu sein und Touren zu machen.

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Woher kommt Ihre Liebe zur Natur?

Nagelsmann: Ich bin in den Bergen großgeworden. Meine Familie hatte eine Hütte in den Bergen, neben einem Bach, da gibt es keinen Handyempfang, nichts, was dich ablenken kann, nur die Natur und viele Tiere. Da ist die Welt noch in Ordnung. Da kann man wandern, mountainbiken, abschalten, muss nicht ständig Entscheidungen treffen. Als Trainer musst du gefühlt alle fünf Sekunden Entscheidungen treffen. Auch jetzt muss ich entscheiden, was ich Ihnen antworte. Wenn ich hier rausgehe, muss ich sofort wieder Entscheidungen treffen. In den Bergen hast du nichts zu entscheiden, die entscheiden viel über dich: Wie ist das Wetter, kommt eine Lawine herunter. Da bist du nur ein sehr kleiner Teil auf dieser Welt und das tut manchmal ganz gut.

Wie lenken Sie sich noch ab?

Nagelsmann: Ich muss gestehen, dass ich keine große Leseratte bin, kaum Fußballbücher oder Sportlerbiographien lese. Wenn ich etwas lese, will ich aus den Büchern etwas für mein Leben herausziehen. Das ist bei den meisten Biographien nicht so einfach, weil sie entweder nicht das preisgeben, was ich wissen möchte oder weil sie über Situationen berichten, die nicht mit meinen vergleichbar sind. Dann liest du 500 Seiten und am Ende ist der Output eher gering. Ich lasse mich abends eher berieseln oder sitze auf der Terasse und schaue auf die amerikanische und kanadische Pappel, die vor meinem Balkon steht.

Sie sind dafür bekannt, dass keine Trainingseinheit der anderen gleicht. Wo holen Sie die Kreativität her?

Nagelsmann: Aus meinem eigenen Kopf. Ich versuche, alle Dinge, die ich mache, mit einer gewissen Intention anzugehen. Und ich hoffe, dass jeder Mensch bestimmte Dinge nur macht, weil er sich etwas davon verspricht – und nicht, um sie eben getan zu haben. Ich verfolge bei jeder Trainingseinheit, bei jeder Ansprache ein gewisses Ziel - und dann gibt es viele Möglichkeiten, dahinzukommen. Es gibt zum Beispiel Einheiten, in denen wir den einfachen Konter trainieren. Aber beim Konter gibt es schon mal drei verschiedene Höhen, wo man den Ball gewinnen kann: ganz hoch, eher in der Mitte, ganz tief. Also untergliedern wir das Feld in drei Teile, was einem schon verschiedene Möglichkeiten gibt, die Übung zu starten. Und dann überlege ich mir etwa, welche Provokationsregeln das Ziel für diese Einheit am besten abbilden können. Das heißt: was muss ich wie und wann provozieren, damit das und das passiert. Das können Kontakt- oder Bewegungsregeln sein, verschiedene Felder auf dem Platz, auf denen bestimmte Dinge passieren müssen. Mir ist wichtig, dass auf dem Platz immer alles vorhanden ist. Dass wir also nichts isoliert trainieren, aber dass innerhalb der Einheit das am Häufigsten angewendet wird, was wir besonders trainieren wollen. So kommt man relativ einfach auf gewisse Übungen – die aber auch nicht immer gut sind. Aber auch das ist wichtig, dass einfach mal etwas komplett für die Tonne ist, dass man zwar trainiert hat, aber nicht so gut.

Geben Sie das gegenüber den Spielern auch mal zu, wenn Sie mal eine schlechte Idee hatten?

Nagelsmann: Das muss man denen gar nicht sagen, das merken sie selber, wenn mal was nicht funktioniert. (lacht)

Wo also sehen Sie sich mit 50 Jahren?

Nagelsmann: Dann wäre es wirklich schön, wenn ich in den Bergen leben würde und einen Job hätte, der was damit zu tun hätte. Experte zu werden, kann ich mir grundsätzlich nicht vorstellen, weil ich andere Menschen öffentlich nicht beurteilen will. Aber sag niemals nie, ich laber ja schon gern, vielleicht wäre Fernsehen also doch nicht so schlecht (lacht). Außerdem hätte ich vielleicht noch eine kleine Wohnung am Meer. Und wenn ich einmal die Schale hätte und einmal den Henkelpott, wäre ich sehr zufrieden. 

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