Diego Maradona Juan Roman Riquelme

Juan Roman Riquelme: Die traurige Diva


HINTERGRUND

Verdreckte Gassen, kleine Häuser, die bunt zusammengewürfelt wirken, als habe ein unbegabter Tetris-Spieler sie willkürlich auf- und nebeneinander gestapelt. Gebell von abgemagerten, streunenden Hunden ist zu vernehmen. Auf dem kleinen, staubigen Fußballplatz neben der verwahrlosten Kirche jagen mehrere Kinder einem behelfsmäßig zusammengeflickten Leder hinterher. In der Ferne fallen Schüsse, später dröhnen Sirenen. Das Gesicht der alten Frau, die es sich auf einem Stuhl vor dem Tabakladen bequem gemacht hat, zeigt keinerlei Regung.

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Eine alltägliche Situation im Partido San Fernando. Im Schatten der Hochhäuser von Buenos Aires gelegen, leben hier die weniger Betuchten, die, die am Rande der Gesellschaft stehen. Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht selten mit illegalen Geschäften bestreiten, um ansatzweise über die Runden zu kommen. Hier, wo Jugendliche drogendealend und raubend durch die Straßen ziehen, wuchs einer der größten, begabtesten, einer der letzten echten Spielmacher der vergangenen zwei Dekaden auf: Juan Roman Riquelme.

Blickt man dem mittlerweile 38-Jährigen in die Augen, scheint es, als spiegele sich der erste Abschnitt seines Lebens in ihnen wider. Trauer, Gewalt, Armut. Seine Mimik stets bedrückt, ein Lächeln huscht ihm selten über die Lippen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bezeichnete ihn einst als "Magier mit dem traurigen Gesicht". Ein treffender Vergleich, lässt man Riquelmes Karriere Revue passieren, der im frühen Kindesalter seine große Leidenschaft für den Fußball entdeckt.

Diego Maradona Juan Roman Riquelme Diego Maradona (l.) mit Juan Roman Riquelme

Schnell lernt "Romi", wie er von seinen Freunden genannt wird, sich gegen ältere Kontrahenten durchzusetzen, brilliert auf den Vorort-Plätzen mit seiner sagenhaften Technik, sodass die beiden Schwergewichte der argentinischen Hauptstadt, namentlich Boca Juniors und River Plate, sich schon bald um die Dienste des Ausnahmetalentes streiten. Riquelme entscheidet sich für Boca, den Arbeiterklub, den Klub, für den sich einst auch ein gewisser Diego Armando Maradona entschieden hatte.

Als 18-Jähriger debütiert Riquelme für die Blau-Gelben, im Anschluss lenkt und führt er mit der legendären Nummer 10 auf dem Rücken seine Farben zu drei Meisterschaften, zwei Copa-Libertadores-Titeln und dem Weltpokal-Triumph im Jahr 2000. Argentinien hat seinen neuen Maradona gefunden. Einen Spieler, auf den die stolze Fußballnation so lange gewartet hat. Kein Wunder, dass kurz nach der Jahrtausendwende mit Real Madrid der erste europäische Top-Verein bei Boca vorstellig wird, um den Ausnahmekönner über den Atlantik zu lotsen. Riquelme bleibt und begründet später im Gespräch mit World Soccer : "Ich habe gespürt, dass ich noch nicht so weit war, um in Europa zu spielen. In meinem Herzen will ich am liebsten immer für Boca spielen." Aussagen, die balsamierend auf die emotionale Boca-Fanseele einwirken.

Entführung des Bruders und Barca-Wechsel

Der Mittelfeldmann hält auch in der Folge Avancen des FC Barcelona stand, bleibt den Juniors erhalten und heimst quasi im Vorbeigehen individuelle Titel en masse ein: Neben der Auszeichnung als "größte Neuentdeckung der letzten zehn Jahre" wird er von einer Expertenjury 2001 zum besten Fußballer Südamerikas gekürt, ein Gremium aus Sportjournalisten wählt ihn zu Argentiniens Fußballer des Jahres.

Ein Jahr später bewegt den heimatverbundenen Emporkömmling schließlich ein erschütterndes Ereignis zum Umdenken und so zu einem Transfer nach Barcelona. Der Auslöser: Romans 17-jähriger Bruder Cristian, ebenfalls Profi-Fußballer, wird auf dem Weg vom Training nach Hause überfallen und verschleppt. Die Entführer fordern ein Lösegeld, das sich Medienberichten zufolge auf eine Summe zwischen 33.000 und 160.000 Dollar beläuft. Roman kauft seinen Bruder frei, muss sich aber gegenüber dailysoccer.com eingestehen: "Meine Familie und ich leben nunmehr in ständiger Angst. Das ist der Grund, warum es mir schwerfällt, hier noch länger Fußball zu spielen."

Juan Roman Riquelme Barcelona Vladimir Maminov Sergey Ignashevich Dmitry Loskov Lokomotiv Moscow UEFA Champions League 2002Getty Juan Roman Riquelme im Dress des FC Barcelona (M.)

13 Millionen Euro überweisen die Katalanen nach Buenos Aires, während Barca-Trainer Louis van Gaal alles andere als erfreut über den Neuankömmling aus Südamerika ist, gleich zu Beginn von dessen Engagement poltert: "Ich habe für seine Position Rivaldo oder Luis Enrique. Viel nötiger brauche ich einen Mann für rechts." Hatte seine Karriere bis dato einen identischen Verlauf wie die seines Idols Maradona genommen, steht Riquelmes Start bei den Blaugrana unter einem schlechten Stern.

Beim spanischen Eliteklub mausert sich der egozentrische Spielmacher zwar letztlich doch zum Stammspieler, begeistern kann er seinen als stur geltenden Coach allerdings nicht. 30 Liga- sowie elf Champions-League-Einsätze stehen am Ende zu Buche, Riquelmes Brillanz, die er in Argentinien nur allzu häufig durchblitzen ließ, ebbt jedoch ab.

"Ich brauche keine Freunde in der Mannschaft"

Auch, weil mit dem Südamerikaner und dem Niederländer zwei Alpha-Tiere, zwei schwierige Charaktere aufeinandertreffen. Riquelme ist ein Individualist, ein arroganter Einzelgänger, dessen Leistungsdiskrepanz bei Disziplinfanatiker van Gaal auf Unverständnis stößt. "Ich brauche keine Freunde in der Mannschaft, um gut Fußball zu spielen", hatte der Regisseur noch zu Boca-Zeiten verlauten lassen.

Eine Attitüde, die nicht überall Anklang findet, bei fußballerischen Genies aber keine Ausnahme darstellt. Hochbegabte wähnen sich eben gerne in der Gewissheit, gesondert behandelt zu werden. Riquelme fällt nicht nur bei van Gaal in Ungnade. Die Klub-Führung nimmt seine ständigen Verletzungen, teils vorgetäuscht, teils medizinisch bestätigt, zum Anlass, seine Diva zum weniger strahlkräftigen FC Villarreal auszuleihen.

Juan Roman Riquelme GFX

An der spanischen Ostküste, fernab des Troubles im Camp Nou, blüht er auf. Beim Gelben U-Boot zeigt er seine legendären, blitzschnellen Haken, die jeden Gegenspieler gleichwohl in die Verzweiflung als auch ins Leere führen. "Fußball ist wie Autofahren. Wenn eine Straße voll ist, biegt man auf eine andere ab", umschreibt Riquelme seinen Signature Move trocken. Beispiellose Standards, traumhafte Pässe und etliche Tore rahmen Riquelmes Zeit bei Villarreal ein, die aber ebenfalls nicht ohne Nebengeräusche verläuft. Während der Mannschaftsbesprechung, so wird damals medial verkündet, zieht es Riquelme vor, Musik zu hören, statt den Worten seines Trainers Manuel Pellegrini zu lauschen.

2005 erreicht der Edeltechniker seinen Karrierehöhepunkt, als er mit der argentinischen Nationalmannschaft beim Confed Cup in Deutschland auftrumpft. Gegen den Gastgeber überflügelt Riquelme alle anderen Protagonisten mit herausragenden Zuspielen und einem herrlichen Freistoß, löst damit in der internationalen Presse regelrechte Jubelarien aus. Die Stuttgarter Zeitung beispielsweise attestiert dem Zehner eine Leistung "an der Grenze zur fußballerischen Perfektion".

Ein Spieler spaltet die Nation

Trotz der erstmals auch im Albiceleste-Dress gezeigten Klasse, polarisiert Riquelme in der Heimat. Seine Landsleute sind gespalten in "Romanisten" und "Anti-Romanisten". Mit seiner Spielweise erinnert er zwar an Maradona, nur scheint ebenjene Art des Fußballs nicht mehr zeitgemäß. Etwas lauffaul, nicht sonderlich schnell und mit einer gewissen Mir-Egal-Haltung ausgestattet, verkörpert Riquelme eine aussterbende Zunft: den klassischen Spielmacher.

Xabi Alonso, der seine ruhmreiche Karriere im Sommer 2017 beendete, fasst Riquelmes Habitus im Interview mit der New York Times treffend zusammen: "Riquelme war zu sehr auf sich selbst fixiert, zu grüblerisch, um in seiner Ära gänzlich aufzublühen. Aber ich habe ihn als Spieler geliebt." Sprich: Mit seinen Eigenschaften hätte Roman besser in die späten Siebziger, die Epoche gepasst, die von seinem Vorbild bestimmt wurde.

Nach einer minder erfolgreichen Weltmeisterschaft 2006 findet Riquelme bei Villarreal nicht mehr in die Spur. Zum wiederholten Male macht er mehr neben als auf dem Rasen von sich reden, verärgert Trainer und Verantwortliche, was zunächst mit einem Tribünenplatz und schließlich mit einer kompletten Kader-Streichung honoriert wird. Die Spanier einigen sich im Januar 2007 mit seinem Ex-Klub Boca auf ein Leihgeschäft, der verlorene Sohn kehrt zurück zu seinen Wurzeln – und weiß prompt zu überzeugen.

"Ein Idol tritt zurück"

Im gleichen Jahr feiert der begnadete Dribbler seinen insgesamt dritten Titel in der Copa Libertadores, auch eine Rückkehr in die Nationalmannschaft, der er nach der WM in Deutschland den Rücken gekehrt hatte, erfolgt. Ein zweiter Platz bei der Copa America bleibt allerdings der Höhepunkt, Ende 2008 schnürt Roman zum letzten Mal die Schuhe für die Gauchos.

Im Januar 2015 macht Riquelme Schluss. "Ich habe mich entschieden, nicht mehr zu spielen", vermeldet er bei ESPN Argentina , löst damit eine Welle der Huldigung aus. Der argentinische Verband AFA schreibt: "Ein Idol tritt zurück", die Zeitung La Nacion verabschiedet "eine besondere Nummer 10, die es so nicht mehr geben wird", während die Sportzeitung Ole Riquelme bescheinigt, "den Fußball wie kaum ein anderer verstanden" zu haben.

Tatsächlich blickt das Genie mit dem immerwährenden traurigen Gesichtsausdruck auf eine Laufbahn zurück, die sich nie an Gesetzmäßigkeiten hielt. Riquelme, ein Mann, der stets der Junge aus den tosenden und bisweilen brutalen Slums San Fernandos geblieben war, "Romi", der immer so sensibel und nachdenklich wirkte, als habe er das Erlebte, die Schattenseiten seiner Wiege, nie verdrängen können.

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