KOLUMNE
Dass Markus Gisdol ein Medienprofi ist, steht wahrscheinlich außer Frage und ist in vielen seiner öffentlichen Auftritte gut dokumentiert. Es gelingt ihm häufig, die Rolle, die er gerade spielen muss, dem Publikum so glaubhaft wie möglich zu verkaufen. Aktuell spielt er den Unaufgeregten, der den Eindruck vermitteln will, einen Plan zu besitzen, der dem Hamburger SV am Ende der Saison den Klassenerhalt beschert. Dennoch ist bei genauer Betrachtung das Ausmaß der Verzweiflung aus einigen seiner Aussagen herauszuhören. Zum Beispiel aus dieser, als er versuchte, eine Erklärung für das Dargebotene zu finden: "Dieses Spiel kannst du nicht mit normalen Maßstäben bewerten. Das sind alles junge Burschen. Viele Normalsterbliche würden sich in so einer Situation die Beine brechen, wenn sie nur über den Platz laufen würden. Wir alle wollen schönen Fußball sehen. Aber dafür ist gerade nicht der richtige Zeitpunkt."
Erlebe die Bundesliga-Highlights auf DAZN. Hol' Dir jetzt Deinen Gratismonat!
Klingt so, als habe seine Mannschaft beim 0:0 gegen den 1. FSV Mainz 05, eines der schlechtesten Fußballspiele, die ich je gesehen habe, etwas Unmenschliches geleistet. Etwas, was Respekt und keine Kritik verdient. Wohlwissend, dass auch seine Arbeit immer kritischer bewertet wird. Sowohl extern als auch intern. "Man darf nicht vergessen, dass wir uns in einer außergewöhnlichen Situation befinden", sagt Gisdol, um zu erklären, warum das, was seine Mannschaft zeigt, mit Fußball so wenig zu tun hat. Eine außergewöhnliche Situation also, die außergewöhnliche Dinge nach sich zieht. Was aber nur die halbe Wahrheit ist. Denn so außergewöhnlich (destruktiv und einfallslos) war die Leistung des HSV gar nicht. Im Gegenteil, sie war in großen Teilen der Saison die Regel. An der Situation allein kann es demnach nicht liegen. Denn mit Fußball hat der Spielstil schon lange nicht viel zu tun.
Spielaufbau besteht fast nur aus langen Bällen
Trotz allem verwundert mich, wie viel Verwunderung die letzten Wochen innerhalb der Fangemeinde ausgelöst haben. Nicht wenige sind ob der Leistungen völlig konsterniert. Als hätten sie die vorherigen Spiele, in denen die Ergebnisse gut oder ordentlich waren, nicht gesehen. Trotzdem war die Meinung weit verbreitet, der HSV habe sich fußballerisch weiterentwickelt. Hat er aber nicht. Man kann furchtbaren Fußball mit extrem vielen Fehlpässen anbieten und trotzdem gewinnen. Das Eine schließt das Andere nicht aus, deshalb ist dieser Sport ja manchmal so spannend. Dass es allerdings sehr unwahrscheinlich ist, mit der Anzahl an herausgespielten Chancen pro Spiel über eine gesamte Saison hinweg so gut zu punkten, mahnte ich trotz Unterstellung, die Leistungen des HSV nur abstufen zu wollen, quasi wöchentlich an. "Der HSV hat überhaupt keinen Plan und bolzt die Bälle nur weit nach vorn", analysierte ein Zuschauer, den ich auf dem Weg zurück zum Auto traf. Doch er hat unrecht. Der HSV hat einen Plan, und leider nur diesen: die Bälle weit nach vorn zu bolzen.
Wir erinnern uns: Bruno Labbadia wurde unter anderem mit der Begründung entlassen, dass sich der HSV mit seiner defensiven Marschroute zu wenige Tormöglichkeiten erspielen würde. Das Resultat seit der Übernahme von Markus Gisdol ist Folgendes: Die Hamburger stehen in der "Chancen-Tabelle" mit 97 Tormöglichkeiten auf dem letzten Platz. Darmstadt hatte 19 Chancen mehr, Ingolstadt sogar 53. Was andererseits außergewöhnlich gut war - und das ist wirklich außergewöhnlich - ist die Chancenverwertung. Hier stand der HSV phasenweise ganz oben. Jedoch stürzt das Kartenhaus sehr schnell in sich zusammen, wenn zwei drei Komponenten wegbrechen. Dazu zähle ich neben Glück auch Mentalität, die maßgeblich von einzelnen Spielern abhängig ist, sowie körperliche Fitness. Seit Bobby Wood nicht richtig in Form ist, leidet das Pressing des HSV enorm. Es kommt aber auch deshalb nicht zur Entfaltung, weil die Gegner sich inzwischen auf das Spiel des HSV eingestellt haben. Ein Alternativplan gilt offenbar als nicht umsetzbar.

Machte es nicht schlechter als die Etablierten: Youngster Vasilije Janjicic
HSV verzichtet auf Strafen gegen Ultras
Es sind allerdings nicht nur die spielerischen Defizite, die mich pessimistisch stimmen im Hinblick auf einen Klassenerhalt ohne Relegation. Es ist die Gesamtlage, die sich stark von der Situation vor zwei Jahren unterscheidet. Damals ist es Labbadia gelungen, Druck und Aufmerksamkeit komplett auf sich ziehen und mit seiner Energie einen Weg vorzugeben, dem alle bedingungslos gefolgt sind. Heute ist das anders. Selbst ein Kurztrainingslager hat trotz der Aussagen der HSV-Verantwortlichen, die ein enges Zusammenrücken ausgemacht haben wollen, sein Ziel verfehlt, wenn Spieler wie Aaron Hunt nach dem 0:0 gegen Mainz von "fehlendem Mut" sprechen. Selbst die Unterstützung des Großteils der Fans, die Ultras auf der Nordtribüne ausgenommen, ist trotz einiger Aufrufe seitens des Vereins und des Supporters Club nicht so groß wie gewünscht. Vielmehr nehme ich immer häufiger die Meinung wahr, der HSV solle doch endlich einmal absteigen. Von den immer wiederkehrenden Durchhalteparolen sind viele Fans genervt.
Auch in der Führungsetage wird längst nicht so harmonisch zusammengearbeitet wie angenommen. Schon bei der Vertragsverlängerung mit Gisdol gab es intern Unstimmigkeiten, da der Cheftrainer mithilfe seines Beraters Holger Tromp, dem große Nähe zum Einflüsterer von Investor-Klaus Michael Kühne, Volker Struth, nachgesagt wird, eine Gehaltserhöhung erwirkt hat, während den Spielern parallel erzählt wird, über ihre Verträge könne aktuell nicht gesprochen werden, sie aber im Falle eines neuen Angebots mit Kürzungen zu rechnen haben. Kürzungen wiederum sind nicht im Interesse Gisdols und Kühnes, der kein Wort mit Vorstandschef Heribert Bruchhagen spricht, doch für jenes Ziel, Einnahmen und Ausgaben in Einklang zu bringen, verpflichtet wurde. Passt das zusammen? Nicht wirklich. Genauso wenig wie die Ankündigung drakonischer Strafen gegen Ultras, die im Spiel gegen Darmstadt Pyros und illegale Böller zündeten, Vertreter der sanktionierten Gruppen von Sportchef Jens Todt aber ins Trainingslager eingeladen wurden - offenbar ohne Zustimmung des Vorstandes, wie die Bild-Zeitung berichtet. Nach Einklang und Zusammenarbeit klingt das alles nicht. Eher nach Alleingängen.
Bleib am Ball und folge HSV-Reporter Daniel Jovanov auf Facebook und Twitter !
