KOLUMNE
Als Aaron Hunt in der 25. Minute gegen die TSG 1899 Hoffenheim zum Freistoß antrat, habe ich im entscheidenden Moment woanders hingeguckt und das Tor verpasst. Blöd gelaufen, aber mit einem direkten Freistoßtor ist beim Hamburger SV doch wirklich nur in den seltensten Fällen zu rechnen. Dennoch steht es sinnbildlich für vieles, was sich in den letzten Monaten bei den Rothosen getan hat. Und mit einem Begriff gut zusammengefasst werden kann: Unberechenbarkeit. Denn wer hätte zum Zeitpunkt, als der HSV im letzten Herbst mit zwei Punkten am Boden lag und abgeschrieben schien, eine derartige Wende erwartet? Wahrscheinlich nicht einmal der HSV selbst.
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Die gute Punkteausbeute ist auch damit zu erklären, dass Spieler, die vorher weit unter ihren Möglichkeiten performt haben, plötzlich zu überdurchschnittlichen Leistungen in der Lage sind. Zum Beispiel jener Aaron Hunt, Doppeltorschütze gegen Hoffenheim. Im Januar stand er kurz vor einem Wechsel in die Türkei, doch nach einem klärenden Gespräch mit den Vereinsverantwortlichen wagte er einen Neuanfang - und ist aus der Mannschaft nicht mehr wegzudenken. Egal, ob auf der "Zehn" oder der Außenbahn. Hunt liefert ab und trägt mit seinen Qualitäten am Ball zum Aufschwung des HSV bei. Mehr noch: Er entwickelt sich sogar weiter. Trainer Markus Gisdol sagt: "Ich bin überzeugt, dass Aaron deshalb so gut ist, weil er gegen den Ball gut spielt. Ich sehe bei ihm deutlich einen Entwicklungsschritt. Er ist ein richtig guter Pressingsspieler für uns geworden. Daraus resultieren auch die guten Offensivaktionen. Das hängt direkt zusammen. Entwicklung geht also auch mit Spielern im fortgeschrittenen Alter. Entscheidend ist die Bereitschaft."
Hunt ist offensiv aktiver
Die Zahlen unterstreichen Hunts Bedeutung für das HSV-Spiel: 50 Prozent seiner 16 Zweikämpfe konnte er für sich entscheiden. Das ist für einen Offensiven ein sehr guter Wert. Zum Vergleich: Innenverteidiger Mergim Mavraj gewann auch nur die Hälfte seiner 16 Zweikämpfe. Die relativ hohe Anzahl an Zweikämpfen von Hunt macht zudem deutlich, dass der Plan, den Gegner früh zu stören und in solche Situationen zu verwickeln, aufging. Somit hatte Hoffenheim bei der Spieleröffnung massive Probleme. Und wenn ein Zweikampf im mittleren oder letzten Drittel des Spielfeldes gewonnen wurde, konnte der HSV die Unordnung in der Hoffenheimer Abwehr für eigene Angriffe nutzen. Noch mehr Zahlen belgen, wie gut Hunt im Moment drauf ist: 30 seiner 39 Pässe kamen beim Mitspieler an, 36 (!) von ihnen spielte er in der gegnerischen Hälfte. Heißt: Das sogenannte "fallen lassen" und den Spielaufbau von hinten heraus mitgestalten gibt es nicht.
Das hat einen schönen Nebeneffekt: Hunt ist nicht mehr so stark damit beschäftigt, das Spieltempo zu bestimmen, also es schnell oder langsam zu machen, weil es nur eine Vorgabe gibt, nämlich die Angriffe schnell auszuspielen. Der eine oder andere Zuschauer und HSV-Fan war regelmäßig am Rande eines Wutausbruchs, als Hunt in der Vergangenheit auch mal auf den Ball trat, sich im Kreis drehte, um anschließend einen Sicherheitsquerpass zu spielen. Ballbesitz ist im System von Gisdol allerdings nicht mehr gewünscht, das Gegenteil ist der Fall. Und davon profitiert auch Hunt, der vom Publikum aufgrund seiner Vergangenheit beim Erzrivalen Bremen immer ein klein wenig kritischer gesehen wird als andere, aber als einer von wenigen dazu in der Lage ist - wenn er will, das ist entscheidend - überraschende und gefährliche Pässe zu spielen. Eine Qualität, die bei keinem anderen Spieler im Kader stärker ausgeprägt ist.
Großer Zusammenhalt im HSV-Team
Hunt selbst erklärt die erfolgreichen letzten Monaten so: "Viel schlechter als zu Beginn der Hinrunde konnten wir ja nicht mehr spielen. Es war klar, dass es nur besser werden kann. Ich finde, wir zeigen Woche für Woche eine gute, geschlossene Mannschaftsleistung. Wenn der eine oder andere mal einen schlechten Tag hat, sind acht oder neun andere zur Stelle, um das aufzufangen." Ein Teamgeist, der sich vor allem deshalb herausbilden konnte, weil vermeintliche Störenfriede, Diven und Einzelgänger wie Alen Halilovic und Emir Spahic aussortiert wurden. Besonderes die Anwesenheit des 36-jährigen bosnischen Verteidigers hat häufig zu atmosphärischen Störungen innerhalb des Teams geführt. Spahic passte mit seiner brachialen Art nicht zu den etwas "sensibleren" Kollegen und sorgte so manches Mal für ein Gefühl von Unbehagen.
Sein Rauswurf hat der Teambildung einen zusätzlichen Schub verliehen, der sich nun in einem lange Zeit nicht da gewesenen Zusammenhalt äußert. Es ist sogar möglich geworden, dass ein so ruhiger und introvertierter Typ wie Hunt für einen Moment ein Lautsprecher sein kann. Wie nach Spielende, als er im Mannschaftskreis eine kurze Rede hielt. Und anschließend vor uns Journalisten nachschob: "Jetzt freue ich mich riesig auf das Nordderby. Das wird ein geiles Spiel."
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