Hamburger SV Bundesliga 20052017Getty Images

Jovanovs HSV: Die Konsequenzen aus vier Jahren Abstiegskampf


KOLUMNE

Die Bilder, die dieses 2:1 des Hamburger SV über den VfL Wolfsburg erzeugt hat, werde ich wohl mein Leben lang nicht vergessen. Bilder von ekstatischem Jubel; von fremden Menschen, die sich in den Armen liegen; von Hunderten oder Tausenden, die über alle Zäune und Absperrungen hinweg ihren Weg aufs Spielfeld suchten; von Fans, die ein Stück Rasen mit nach Hause nahmen, einen Teil des Pfostens, Eckfahnen, Werbebanden, einfach alles, was sie in die Hände bekamen. Einer ergatterte sogar den Schuh von Matthias Ostrzolek, zeigte ihn stolz in eine Kamera, küsste ihn und zog dann weiter, um die Nacht zum Tage zu machen. Berauscht von einem Last-Minute-Tor des jungen Luca Waldschmidt, von dem viele Zuschauer vorher nicht genau wussten, wer das eigentlich ist.

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Der Jubel über diesen Klassenerhalt kannte keine Grenzen. Und wurde gefeiert wie eine Meisterschaft. Ein weiteres Jahr Bundesliga, ein weiteres Jahr "Immer erste Liga" singen - im Jahr 2017 offenbar das Höchste der Gefühle. "Wir haben mit dem Team ein Wunder geschafft. Niemand hat mehr einen Pfifferling auf uns gesetzt. Für uns alle ist das der Höhepunkt unserer Karrieren", sagte Verteidiger Mergim Mavraj im Anschluss an das Spiel. Ein solcher "Höhepunkt der Karriere" darf natürlich ausgiebig gefeiert werden. Und das meine ich vollkommen ernst. Dass abgefallene Anspannung zu einer Gefühlsexplosion führt, ist mehr als verständlich. Die Debatte darüber, ob und wie der HSV den Klassenerhalt feiern darf, ist deshalb absurd. Denn wie sehr die Spieler unter dem enormen Druck gelitten haben, war dem bitterlich weinendem Kapitän Gotoku Sakai anzusehen.

Die HSV-Talente wecken Hoffnung

Ein paar Tränen werden derweil noch ganz andere Protagonisten verdrücken - wenn sie verstehen, was sie beim HSV in den letzten Jahren angerichtet haben. Obwohl ich noch einmal betonen möchte, dass der Jubel der Fans, Spieler, Trainer und Mitarbeiter nachvollziehbar und völlig normal ist, sind die Bilder dieses Spiels aus einer anderen, weniger emotionalen Perspektive betrachtet in höchstem Maße unangebracht. Wir sprechen beim HSV schließlich nicht über einen Klub, der große finanzielle Einschnitte verkraften, Mitarbeiter entlassen und eine blutjunge und unerfahrene Mannschaft aufs Feld schicken musste. Nein, wir sprechen über den teuersten HSV aller Zeiten, der mit Hilfe eines Investors völlig andere Ansprüche an sich selbst gestellt, in ganz hohe Regale gegriffen und sich maßlos verschuldet hat, um über die gesamte Saison gesehen den schlechtesten Fußball aller Bundesligisten abzuliefern.

Dass dieses Missmanagement viel Spott und Häme auf sich zieht und bei großen Teilen Fußball-Deutschlands dazu geführt hat, selbst bei nicht wenigen HSV-Fans, diesem Klub den Abstieg zu wünschen, ist nicht verwunderlich. Die Konsequenz aus 100 Millionen Euro für neue Spieler und vier Jahren Abstiegskampf muss endlich lauten, sich nicht mehr krampfhaft als großen Klub zu empfinden, bei dem die Erwartungshaltung anders ist als in Freiburg oder Mainz (O-Ton Heribert Bruchhagen) - die grenzenlose Feier über den Klassenerhalt belegt übrigens das Gegenteil. Sondern als einen Klub, der selbstformulierte Ansprüche und damit einhergehende Ausgaben auf ein gesundes Maß zurückfahren muss und gleichzeitig verinnerlicht, mit bescheideneren Mitteln besser zu arbeiten als andere, um wieder dieser große Klub zu werden, als den man sich in manchen Kreisen sieht. Gern gesehen wäre der dauerhafte Einbau junger Talente wie Fiete Arp, Finn Porath, Vasilije Janjicic, Bakery Jatta oder Luca Waldschmidt. Genau das beinhaltet Bruchhagens Auftrag für das nächste Jahr. Doch hier deutet sich meiner Prognose nach die große Zerreißprobe an, vor der der HSV nun steht.

Knickt Bruchhagen irgendwann ein?

Wer die Pressekonferenz nach dem Wolfsburg-Spiel aufmerksam verfolgt hat, wird vielleicht festgestellt haben, dass sich hinter Markus Gisdols Worten eine Positionierung verbirgt: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich noch einmal so eine Saison durchmachen würde." Keine 24 Stunden später die Replik von Bruchhagen: "Gisdol muss damit rechnen, dass wir auch kommende Saison nach vier Spielen Letzter sein können." Was er damit sagen will, ist klar. Für große und teure Veränderungen gibt es kein Geld. Und vermeintliche "Sofortverstärkungen" haben nun mal ihren Preis. Ergo: Es könnte ein weiterer Abstiegskampf drohen. Und da es Gisdol innerhalb von 29 Spieltagen (zur Erinnerung: er übernahm nicht erst am 10. Spieltag) nicht geschafft hat, diese Mannschaft fußballerisch weiterzuentwickeln, womöglich auch aus Mangel an Vertrauen in die Qualität des Kaders, wie zuversichtlich darf man dann sein, dass es ihm im nächsten Jahr ohne Verstärkungen gelingt? Wenn er nun also über "vier, fünf Positionen im Kader" nachdenkt und gleichzeitig Kyriakos Papadopoulos behalten will, impliziert dies durchaus teure Transfers.

Nur wie will sich der HSV, der Gehälter einsparen und den Etat nicht weiter erhöhen darf, diesen Weg ohne Klaus-Michael Kühne leisten? Es ist übrigens kein Zufall, dass Gisdol dem Investor äußerst sympathisch ist, sieht er in ihm doch eine sehr große Möglichkeit, weiter Fußball-Manager spielen zu können. Denn dass der Cheftrainer genau wie Kühne andere Vorstellungen hat als Abstiegskampf, hat er in seinen Statements sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Die Linie ist von Bruchhagen allerdings deutlich vorgezeichnet: Einen Weg mit teuren, von Kühne finanzierten Transfers soll es unter ihm nicht mehr geben. Ob er daran festhält, wenn der Saisonstart womöglich wieder vergeigt wird, Gisdols Forderungen intern lauter werden und er den wichtigsten Finanzier an seiner Seite weiß? Noch unklar. Er wird diesen Weg jedoch durchziehen müssen, will er seine ohnehin schon angekratzte Glaubwürdigkeit nicht komplett aufs Spiel setzen. Ein erneuter Griff in die höchsten Regale wäre nicht der Weg, zu dem ich dem HSV raten würde. Er braucht eine Kurskorrektur. Ab jetzt.

Bleib am Ball und folge HSV-Reporter Daniel Jovanov auf Facebook und Twitter!

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