Die verrückte Karriere des Gianluigi Lentini: Vatikan-Kritik, Fan-Aufstand und Totalschaden

Ein kleiner Druck aufs Gaspedal genügt. Der Motor heult auf. Das charakteristische Brummen eines Porsche durchschneidet die Stille der Nacht in der ligurischen Ebene. Die Uhr springt gerade auf 2.00 Uhr. Die Autobahn zwischen Piacenza und Turin ist verwaist. Nur einer rast über den Asphalt. Schneller, immer schneller – bis zum großen Knall. Boom. Das Geräusch von sich quetschenden Metall hat das Brummen ersetzt. Dann wird es still.

Ein Lastwagenfahrer ist als Erstes an der Unglückstelle. Die Situation ist unübersichtlich. Das Wrack eines Porsche 3,6 Liter Biturbo hängt halb in der Leitplanke, halb im Graben und brennt lichterloh. Im Licht der Flammen ist ein Mann zu erkennen. Er liegt mitten auf der Straße und bewegt sich nicht. Schnell ist klar: Der verunglückte ist kein Geringerer als Gianluigi Lentini, einer der teuersten Fußballer der Welt. Keine Regung ist zu erkennen.

GFX Gianluigi LentiniGetty Images

Zeitsprung. Sommer 1988. Der 19-jährige Lentini ist irritiert. Zwei Jahre nachdem er in der Serie A für "seinen Verein", den FC Turin, debütierte, wird er verliehen. Ihm wird hier der Durchbruch nicht zugetraut. Der Traditionsverein tut sich von Jahr zu Jahr schwerer, seine Stellung in Italiens höchster Spielklasse zu untermauern. Abstiegskampf ums nackte Überleben – kein Umfeld, in dem sich ein Youngster entwickeln kann, so die Meinung der Verantwortlichen, die lieber auf die Erfahrung älterer Spieler bauen.

Selters- statt Champagnerfußball für Lentini

Für den so hoch veranlagten Offensivspieler geht es in die Serie B. Zweitligafußball gegen kleinere italienische Klubs, die nicht jedem ein Begriff sind, anstatt der großen Spiele gegen Inter, den AC Mailand, Juventus oder wie sie alle heißen. Selters- statt Champagnerfußball.

Doch wie sich herausstellt, ist der Schritt nach Ancona genau der richtige. Hier lernt er innerhalb nur einer Saison eine Menge: eine Saison auf schlechteren Plätzen, dafür aber umso härteren Grätschen seiner Gegenspieler. Lentini wird physisch stärker, fitter. Dazu lernt er auch, das Spiel zu lesen, entwickelt eine Raffinesse auf dem Platz.

Nach einem Jahr steht die Rückkehr nach Turin an. Der Verein ist zum zweiten Mal in seiner Geschichte abgestiegen, die Mannschaft zerfällt und hat jetzt nur noch ein Ziel: die Rückkehr in die Serie A. Mit Lentini. Und der Plan geht auf, der direkte Wiederaufstieg gelingt. In der Spielzeit 1990/91 wirbelt der FC Turin mit Lentini auf dem Flügel die Liga kräftig durcheinander. Platz fünf, und damit vor dem verhassten Stadtrivalen Juventus – was für ein Jahr!

Es folgt die erfolgreichste Zeit des Klubs – nach Il Grande Torino. Nach und nach schaltet man im UEFA-Cup alle Gegner aus, darunter auch Real Madrid. Erst im Finale zieht man gegen Ajax Amsterdam den Kürzeren. Aufgrund der Auswärtstorregel gewinnen die von Louis van Gaal trainierten Niederländer.

Lentini im Mittelpunkt: Juventus und Mailand bieten um die Wette

Doch es kommt, was kommen muss: Ein Jahr vor dem Unfall, im Sommer 1992, wird es hektisch. Gigi Lentini bestimmt über Wochen hinweg die Schlagzeilen der sensationslüsternen italienischen Gazetten. Wo unterschreibt der Youngster von Torino Calcio? Juventus? AC Mailand? Die große Fußballwelt steht dem 23-Jährigen offen. Er ist für jeden Klub ein Versprechen für die Zukunft, eine Art Pavarotti des italienischen Fußballs.

Gianluigi Lentini AC MilanGetty Images

Juve und die Rossoneri liefern sich einen echten Bieterstreit um Lentinis Gunst. Der schwört seinem Klub leichtsinnig die Treue. Als der Wechsel zur AC Milan bekannt wird, beginnen sie, die Proteste gegen den Fußballer, der ohne weiteres auch als Model hätte arbeiten können. Gute Figur, lange dunkle Haare, dunkle Augen – Lentini bringt alles mit, was ein Frauenschwarm in Bella Italia Anfang der Neunzigerjahre braucht.

Nach offizieller Lesart bezahlt Milan insgesamt umgerechnet rund zehn Millionen Euro für Lentini, die einigen Quellen zufolge sogar weitaus höher liegen soll - und das im Jahr 1992! Eine unvorstellbare Summe, die sogar den Vatikan auf den Plan ruft. Noch nie vorher mischte sich der Heilige Stuhl über seine staatseigene Zeitung, dem L'Osservatore Romano, in vermeintlich weltliche Angelegenheiten wie den Calcio ein. Das "baldige Ende des Fußballs" wird beschworen. Mit so viel Geld werde gegen jegliche Moral verstoßen und die "Würde der Arbeit" verletzt. Auch Politik und italienische Presse geißeln die Vorgänge. "Die Grenze zur Wirklichkeit ist erreicht", titelt zum Beispiel La Repubblica.

Und in Turin? Da laufen sie Sturm, die Tifosi. Empörung, Wut und Trauer machen sich breit. Sie fühlen sich nicht nur von Lentini, sondern auch von ihrem eigenen Präsidenten Borsano hintergangen und greifen sogar das Vereinsgebäude des Klubs an. Die Polizei muss gegen die Demonstranten Tränengas einsetzen, Scheiben gehen zu Bruch, ein Polizist muss mit einer Kopfverletzung in ein Turiner Krankenhaus eingeliefert werden.

"Ich habe Verständnis dafür, dass die Tifosi jetzt enttäuscht sind", meldet sich daraufhin Lentini selbst zu Wort, "aber ich frage mich, was passiert wäre, wenn ich mich für Juventus entschieden hätte." Lentini beschließt aber, nach vorne zu schauen. Bei der großen AC Milan soll er gelingen, der Durchbruch zum absoluten Superstar. Er will nicht nur auf dem Gehaltszettel der Beste sein, sondern auch auf dem Platz.

"Leihweise gehe ich nirgendwohin"

Doch es läuft nicht zu 100 Prozent wie gewünscht: In der ersten Saison erzielt Lentini zwar sieben Treffer, läuft auch für die Squadra Azzurra unter Arrigo Sacchi auf, ist aber kein Stammspieler – und bei der AC läuft es nicht rund. Lentini bekommt in einer Mannschaft auf der Suche nach sich selbst keineswegs eine Vorzugsbehandlung und somit trotz seines Talents auch keine Spielpraxis von Trainer Fabio Capello. "Er war ein sehr großes Talent: schnell, stark, physisch sehr gut", gerät die Trainerlegende noch heute ins Schwärmen. Er kann ihn damals nur nicht richtig entwickeln.

Die Milan-Bosse um Silvio Berlusconi haben Lentini daher nahegelegt, sich zwischenzeitlich einen anderen Verein zu suchen, bei dem er zum Einsatz kommt. Doch davon will Lentini nichts wissen: "Leihweise gehe ich nirgendwohin. Entweder sie verkaufen mich, oder ich bleibe hier."

August 1993. In der Vorbereitung auf die zweite Saison passiert es dann: Lentini ist frustriert, braucht Abwechslung und verlässt das Trainingslager. Unabgemeldet. Aus Sehnsucht nach seiner heimlichen Geliebten.

Auf der Autobahn, so viel weiß man heute, platzt ein Reifen an seinem Porsche. Er wechselt das Rad selbst und fährt weiter. Was dann geschah, ist bis heute aus seinem Gedächtnis radiert. Erst im Krankrenhaus setzten seine Erinnerungen wieder ein. Er kann sich an nichts erinnern. Nicht das brennende Wrack seines Wagens, nicht an den LKW-Fahrer, den Krankenwagen und schon gar nicht an den Unfall. Aus Polizeikreisen heißt es später, Lentini sei zu schnell und übermüdet unterwegs gewesen.

Gehirnerschütterung, Quetschungen - Lentini und die "Blockade im Kopf"

Die neue Saison ist gelaufen. Die Mediziner diagnostizieren bei ihm mittels einer Computer-Tomographie eine schwere Gehirnerschütterung, zahlreiche Quetschungen, jedoch keine Knochenbrüche. Der Kicker erholt sich körperlich in nur 100 Tagen vom schrecklichen Unfall – nicht aber geistig.

"Danach stand er wieder wie sein eigenes Gespenst auf dem Platz, schrieb die Gazzetto dello Sport. Alessandro Orlando, eine Saison lang Lentinis Mitspieler, erzählt: "Körperlich ist Lentini wieder topfit. Eine richtige Lokomotive. Aber er hat eine Blockade im Kopf."

1995 ist das Kapitel Milan dann so gut wie vorbei. Im Champions-League-Finale, das die Rossoneri gegen Ajax verlieren (0:1), darf er nur sechs Minuten ran - viel zu wenig für einen Spieler, der als großer Hoffnungsträger gekommen war. 

Rückkehr zu den Wurzeln wird für Lentini kein Erfolg

1996 wird er nach Bergamo abgeschoben, wo ihn sein Entdecker Emiliano Mondonico bei sich aufnimmt. Mondonico ist es auch, der Lentini noch eine Chance gibt. Ein Jahr später holt er das ehemalige Wunderkind zur AC Turin, dorthin, wo alles begonnen hatte. Doch trotz seines behutsamen Förderers findet er nie wieder zur Brillanz von einst zurück. Lentini ist ein Unverstandener, einer, der beim Spielen noch träumte.

2000, mit 31 Jahren, ist er vertragslos, nach dem Abstieg in die Serie B ohne konkrete Angebote, ein ewiges Talent und ein ewiger Jüngling, der sich, wie er dem Corriere della Sera erklärte, "nie Gedanken machte über ein Leben nach dem Fußball". Die Profikarriere, sie ist vorbei. Danach klappert er noch bis ins Jahr 2012 verschiedenste Kleinvereine ab – ohne nennenswerten Erfolg.

Eine Weltkarriere blieb ihm verwehrt – doch er ist froh, dass er das, woran er sich nicht erinnern kann, überlebt hat. Die Autobahn. Das brennende Wrack. Die Bewusstlosigkeit auf der Straße.

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