HINTERGRUND
XO. Es muss ein ungewöhnlicher Anblick gewesen sein, als Gentili Cardoso ihn zum ersten Mal sieht. Ein Bein des Youngsters, der da vor ihm steht, ist sechs Zentimeter länger als das andere. Noch dazu hat er ein X- und ein O-Bein. Das linke ist nach innen gerichtet, das rechte nach außen geneigt. Auch ohne darauf zu achten, erkennt man es sofort. Ständig diese Angst, er würde umfallen, die Balance nicht halten.
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"Jetzt schicken sie mir schon einen Krüppel!", soll Cardoso gesagt haben und außer sich gewesen sein. Er traut seinen Augen nicht, als er den 20-Jährigen zum ersten Mal sieht. Ein kleiner, 1,69 Meter großer und nicht besonders kräftiger Kicker, mit dieser krassen Fehlstellung der Beine, soll sein Team, das große Botafogo, verstärken?
Garrincha lässt beim Vorspielen alle alt aussehen
Der Trainerkauz wird schnell eines Besseren belehrt. Nur wenige Ballkontakte reichen aus, damit alle erkennen: Der Junge ist gut, enorm gut am Ball. Beim Vorspielen düpiert er seine Gegenspieler ein ums andere Mal. Vor allem der gegen ihn aufgebotene Weltklasseverteidiger Nilon Santos sieht gegen die Tricks, Drehungen, Tempodribblings von Manoel Francisco dos Santos aus, als wäre er ein Kreisligakicker. Die Sache ist geritzt, der Junge aus dem brasilianischen Urwald darf bei Botafogo bleiben. Wer hätte das noch vor Jahren gedacht?
ImagoDie Fehlstellung seiner Beine ist sogar im Dribbling zu erkennenZeitsprung. Pau Grande, im Dunstgebiet der Millionenstadt Rio de Janeiro in den 1930er Jahren. Bereits kurz nach der Geburt von Mane, wie er von seinen Eltern genannt wird, steht fest: Das Baby gilt als behindert, die Beine sind verkrüppelt. Um die Chance auf ein halbwegs normales Leben zu wahren, entscheiden sich die Eltern für eine riskante Operation.
Der Ratschlag eines Orthopäden
Der Chirurg im nahe gelegenen Petropolis schafft durch den Eingriff die Voraussetzungen dafür, dass das Kind seine Beine überhaupt einigermaßen richtig benutzen kann. Der kleine Mane muss regelmäßig zum Orthopäden und dieser gibt ihm einen folgenschweren Ratschlag: Er soll Fußball spielen, um die Koordination voranzutreiben.
Garrincha (l.) und sein Freund Nilon SantosDer Liebe zum runden Leder ist schnell entfacht. Mane kickt. Den ganzen Tag. Bis spät in die Abendstunden. Schule? Gibt es nicht! Fußball, das ist ein Leben. Egal ob auf Dorfplätzen oder gleich am Strand.
Der Junge scheint für größeres bestimmt. Beim Dorfklub in Pau Grande hat er schnell keine Gegner mehr. Mit 20 Jahren, im Jahr 1953, vermittelt ihm dann ein Bekannter das Probetraining beim Traditionsklub Botafogo.
Und Nilon Santos, der Abwehrrecke, der beim Vorspielen noch der Lächerlichkeit preisgegeben wurde, fühlt sich nicht auf den Schlips getreten. Er nimmt sich dem Jungen an, wird sein Freund, sein Mentor. Schon jetzt nennen den Jungen mit den krummen Beinen alle nur noch "Garrincha". Ob nun wegen seiner Geschicklichkeit beim Jagen der gleichnamigen Urwaldvögel oder weil sein Gang stark an die der Tierchen erinnerte, sei dahingestellt.
Garrinchas Stern geht auf
Er verliert die Balance nicht. Sein Stern geht schnell auf, sehr schnell. Nur zwei Jahre später debütiert er für die Selecao. Weil sein Freund Santos darauf beharrt, darf er mit zur WM 1958 nach Schweden reisen. Anfangs noch nicht berücksichtigt, entwickelt er sich spätestens seit dem dritten Gruppenspiel gegen die UdSSR zum Trumpf der Samba-Kicker. Mit seinen Dribblings, seinen Tempoläufen reißt er immer wieder große Löcher in die Deckung der Gegner. Raum für seine Mitspieler Pele oder Vava.
Einzig und allein dem aufstrebenden 17-jährigen Pele ist es zu verdanken, dass die Leistungen Garrinchas nicht noch mehr in den Vordergrund rücken. Aber das ist ihm recht so, denn Garrincha will nur spielen, ist schüchtern, will nicht im Blitzlicht stehen.
Garrincha (l.) und Pele im Einsatz für BrasilienAm liebsten wäre er jetzt im 10.000 Kilometer entfernten Brasilen. Die Aufmerksamkeit, er mag sie nicht. Während des Turniers soll er seinen Trainer Feola nach jedem Spiel gefragt haben, ob die WM denn nun zu Ende sei, denn er wolle jetzt gerne nach Hause fliegen.
Nur vier Jahre später ist er endgültig angekommen in der Welt der Superstars. Bei der Weltmeisterschaft 1962 in Chile bestätigt sich eine Prophezeiung von Santos. "Mit Garrincha kann jeder Weltmeister werden, er führt die Abwehrtaktik des Gegners ad absurdum."
"Garrincha spielte, ohne ein Bandit zu sein"
Autor Hans Blickensdörfer bringt die Auftritte mit zwei Sätzen auf den Punkt: "Er spielte, ohne ein Bandit zu sein, außerhalb der Gesetze des Spiels. Wer ihn nicht gesehen hat, hat etwas versäumt, was der Fußball wahrscheinlich nie mehr bieten wird."
Was macht ihn so stark? Auf dem Spielfeld ist er ein Alleinunterhalter par excellence, besitzt ein schier unerschöpfliches Trickrepertoire. Sein Auftreten reißt die Massen mit. "Brandstifter, der die Stadien entzündet", beschrieb Eduardo Galeano vor Jahren. Seine vermeintlich größte Schwäche ist seine Stärke: Seine ungewöhnlichen Beine erlauben es ihm, schnelle Haken zu schlagen, die der Gegner nicht antizipieren kann.
GettyAm Gegner vorbeikommen? Für Garrincha (l.) meistens kein ProblemObwohl alle großen Verteidiger seiner Zeit seinen Trick, einen Haken und dann nach innen ziehen, kennen, haben sie keine Chance. In Chile avanciert er so nicht nur zum Torschützenkönig und zum Spieler des Turniers, sondern feiert mit der Selecao auch noch die erfolgreiche Titelverteidigung. "Ohne Garrnicha wäre ich niemals dreifacher Weltmeister geworden", bilanzierte Pele Jahrzehnte später.
Jetzt will ihn auch ganz Europa haben. Mit 28 Jahren. Doch alle Top-Klubs wie Inter Mailand oder Benfica scheitern. Botafogo will seinen Superstar um keinen Preis ziehen lassen, ruft astronomische Ablöseforderungen auf.
Doch schleichend verändert sich etwas in Garrinchas Leben. Das Gleichgewicht geht verloren. Die vielen Spiele in den Jahren zuvor, sein Körper war dafür nicht gemacht. Die Sehnen und Gelenke? Überstrapaziert. Ein irreparabler Meniskusschaden lässt ihn nicht mehr ohne Schmerzen spielen. Botafogo hat seinen Superstar verheizt, ihm keine Regenerationszeiten gegönnt. Eine dringend notwendige OP wurde vom Klub nicht erlaubt. Erst als es zum Bruch kam, legt er sich unters Messer. Zu spät.
Bei der WM 1966 ist Garrincha nur noch "ein armseliger Clown"
Er kämpft sich zwar wieder ran, aber bei der WM 1966 ist er nur noch ein Schatten seiner Selbst. Die Niederlage gegen Ungarn war seine erste WM-Niederlage im 12. Spiel und gleichzeitig das letzte Mal, dass er sich das Trikot der Selecao übergestriffen hat. "Der Garrincha, den wir bei der Weltmeisterschaft 1966 erlebten, war kein Star mehr, sondern ein armseliger Clown, der von der Bühne gefegt wurde in die Schmiere", beschrieb Hans Blickensdörfer den internationalen Abgang des Superstars.
Und spätestens jetzt geht die Balance völlig verloren. Er steht noch bei Corinthians in Sao Paulo, in Kolumbien und bei Red Star Paris in Frankreich unter Vertrag. Sein Abschiedsspiel 1973 im Maracana ist der letzte große Auftritt. Aber seine Probleme hat er jetzt schon nicht mehr im Griff. Das ganze Geld ist weg, Vorsorge war nicht seine Stärke, er rutscht in die Armut ab.
Und dann das Alkoholproblem. Schon in seiner aktiven Zeit ertränkt er alle Probleme, alle Sorgen darin. Wie wäre das Leben, hätte er seine Heimat nie verlassen? Denn sein Leben in der Öffentlichkeit bringt auch seine offensichtlichste Schwäche zum Vorschein: Seine geringe Auffassungsgabe.
Schon vor der WM '58 wird bei einem Charaktertest festgestellt, dass er das geistige Niveau eines Acht- bis Zwölfjährigen besitzen soll. Auch Lesen und Schreiben kann er nicht – Garrincha war als Analphabet aufgewachsen.
So rasant, wie es nach oben ging, geht es nun bergab. Immer mehr Alkohol. Und auch privat läuft es nicht rund für den ehemals so begnadeten Techniker. Mit drei Frauen hat er elf Kinder. Garrincha ist schon schnell nach seiner Starkarriere pleite, Geld für den Unterhalt kann er nicht zahlen, muss deswegen sogar zweimal ins Gefängnis. Seine Familie entfernt sich von ihm.
Garrinchas bester Freund? Der Alkohol
Sein bester Freund heißt nun nicht mehr Santos, sondern Alkohol. Und so hieß er schon immer. Wie er kurz vor seinem Tod verrät, hat er während seiner gesamten Karriere zur Flasche gegriffen. Derjenige, der einst die Stadien zum Leben erweckte, ist ein Sozialfall. Der Staat muss die ehemalige Legende monatlich mit Geld unterstützen.
"Ich hatte schreckliche Schmerzen in meinem Magen. Um mich besser zu fühlen, habe ich oft mein Gesicht auf kalten Beton gelegt", sagt Garrincha über seine Suchterkrankung in einem Interview mit ESPN, das erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde.
"Der Freund des Volkes" ist tot
1983 stirbt er mit nur 50 Jahren – an einer Alkoholvergiftung. Der ehemalige Liebling der Massen, er ist tot. "HIER RUHT IN FRIEDEN DER, DER DIE FREUDE DES VOLKES WAR" – prangt in großen Lettern auf seinem Grabstein in Rio do Janeiro.
"Übergangslos war Garrincha aus dem Urwald in diese glitzernde Welt getreten, die nach dem Virtuosen schreit, aber ihm nichts mehr bietet, wenn er ihr nichts mehr geben kann. Das hat Garrincha nicht gewusst. Er, der reine Instinktspieler, konnte weder mit Geld umgehen noch mit den Gedanken, die den Profi beschäftigen müssen, wenn der Höhenflug gebremst wird", fasst Blickensdörfer das kurze, turbulente Leben des Ballzauberers zusammen. Garrincha war nicht gemacht für das Leben, das er führte. Auf dem Platz konnte er sich gut halten, den Balanceakt im Leben hat er nicht geschafft – nicht wegen seiner Beine - OX.
