HINTERGRUND
Das Stadion leert sich, die Ajax-Fans sind bedient. Nach der Niederlage gegen Eindhoven brodelt es. In den Katakomben hört man Schreie, die durch die Kabinentür von Ajax nach draußen dringen. Laute Schreie. Ein Wortgefecht.
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"Ich schrie sie alle an. Und Zlatan, Zlatan schrie zurück", gesteht Mido heute und beschreibt den für ihn folgenschweren Zwist mit Zlatan Ibrahimovic vor mehr als 14 Jahren. Es bleibt nicht beim heftigen Wortwechsel. Eine brandgefährliche Situation entwickelt sich: "Ich hatte die Schere noch in der Hand, um die Tapes von meinen Knöcheln abzumachen. Da ist es passiert."
Mido brennen die Sicherungen durch. Nur Augenblicke später fliegt die Schere in Richtung des schwedischen Superstars. Der Anfang vom Ende einer Karriere, die nach einem kometenhaften Aufstieg einen knallharten Fall erleben sollte.
"Jeder ist beeindruckt von Mido"
Zeitsprung. Juli 2001. Amsterdam lässt die Bombe platzen. Ahmed Hossam Hussein Abdelhamid, kurz Mido, hat sich für den niederländischen Rekordmeister entschieden. Der Stürmer verlässt Gent nach nur einem Jahr und elf Toren in 23 Einsätzen. Mit 18 Jahren ist er das Versprechen auf eine neue, glorreiche Zukunft des Klubs, der wieder in Europas Spitze will.
Paim, Adu, Nsereko und Co.: Top-Talente, die in der Versenkung verschwanden
"Jeder ist beeindruckt von Mido. Die Scouts, die Trainer. Jeder, der ihn gesehen hat, ist der Ansicht, dass er ein Super-Talent ist", freut sich seinerzeit Leo Beenhakker als Technischer Direktor bei Ajax.
Berühmt wie die Pharaonen, verehrt wie Gott
Nur ein Jahr nachdem der gefragte Youngster im zarten Alter von 17 Jahren sein Heimatland Ägypten verließ, ist er auf dem Weg sein eigener Traumerfüller zu sein. Er ist gleichzeitig ein Fußballprofi auf dem Weg unter die Besten seiner Zunft, ein begehrtes Motiv für jede Titelseite und in seiner Heimat der berühmteste Emporkömmling seit den großen Pharaonen wie Ramses II. Schnell merken sie auch in Amsterdam, mit wem sie es zu tun haben. "In Ägypten wird er wie ein Gott verehrt", wundert sich der damalige Ajax-Coach nach einem Freundschaftsspiel in Kairo über den Status des damals 19-Jährigen.
Sein Aufstieg, sein Können - all das ist keine Überraschung. Alles war wie am Reisbrett geplant. Als Sohn einer reichen Familie aus Kairo bekommt er als Heranwachsender alles: Ausrüstung und eine Ausbildung in den besten Jugendakademien des Landes. Dort wird ihm das Kicken beigebracht. Er lernt Technik, Torabschluss und Dribbling. Eine Sache wird aber vernachlässigt: Seine persönliche Entwicklung.
Midos Glamour überstrahlt Zlatans Dasein
Bereits bei seinem Zwischenspiel in Gent wurde schnell klar: Der Junge hat ein Faible für Schlagzeilen und einen Hang zu Hochglanz-Auftritten wie im Showbusiness, eine Liason mit der damaligen Miss Belgien inklusive. Doch so sehr er sich im Boulevard einen Namen macht, Midos Karriere kennt damals nur einen Weg: ganz steil nach oben!
Bei Ajax startet er richtig durch, knipst in seinem ersten Jahr aus dem Stand zwölfmal in 24 Einsätzen. Sein Killerinstinkt vor dem Tor und seine Spielstärke sind ebenso gefürchtet wie seine Kopfballstärke und sein beidfüßiger Abschluss. Das Team holt sensationell das Double. Midos Anteil im fulminanten Endspurt? Neun Tore in den letzten zehn Saisonspielen.
Er ist einer der Stars des blutjungen Ajax-Teams. Alle reden von Mido. Die Fans singen seinen Namen. Und das obwohl im gleichen Sommer noch ein Angriffstalent verpflichtet wurde: der zwei Jahre ältere Zlatan Ibrahimovic. Doch der tut sich schwer mit der Umstellung von beschaulichen Malmö in die Eredivisie.
Eine Hochzeit als Quotenhit im Fernsehen
"In Ägypten gibt es ein Sprichwort, das besagt, wenn Du erfolgreich sein Willst, darfst Du nicht wie fließendes Wasser sein. Du musst anders sein", ist einer der Leitsätze Midos, den er in vielen Interviews gebetsmühlenartig wiederholt. Gegen den Strom schwimmen. Anders sein. Auch abseits des Platzes läuft es wie am Schnürchen. Er verliebt sich in eine Wirtschaftsstudentin. Nur wenig später läuten die Hochzeitsglocken. Im ägyptischen Fernsehen wird die Zeremonie live gesendet und sorgt für traumhafte Quoten - nie war dort ein Reality-Format erfolgreicher. Der Hype erreicht seinen Höhepunkt. Mit 19 Jahren! Danach gibt es nur noch eine Richtung: steil nach unten.
Unter der Glitzerfassade schwelt schon lange ein Konflikt mit seinem Verein. Immer wieder wird er von Koeman wegen Undiszipliniertheiten bestraft. Heimlich, still und leise mausert sich Ibrahimovic aus dem Windschatten Midos zum Angreifer Nummer eins.
Getty Zlatan Ibrahimovic (l.) verdrängte Mido bei AjaxMido wird zum Problemfall. Immer wieder Lustlos-Auftritte und Suspendierungen. Sein übersteigertes Selbstbewusstsein, er will es sich nicht nehmen lassen, reicht bis unter die Haarspitzen seiner Langhaar-Mähne. Sein Naturell dringt immer wieder nach außen: Er ist aufbrausend und stur.
Mido ist selbst sein größtes Problem
"Nachdem er gegen Eindhoven auf der Bank gesessen hatte, kam er in die Kabine und nannte uns alle miese Fotzen." Ibrahimovic erinnert sich in seiner Autobiographie noch genau an den Vorfall in der Kabine. "Er rastete total aus.Ich antwortete ihm, wenn hier einer eine Fotze wäre, dann er."
Zu viel für Midos Ego. “Er nahm die Schere und warf damit nach mir, wahnsinnig wie er war. Die zischte an meinem Kopf vorbei, direkt in die Bretterwand, und hinterließ einen Riss im Holz.” Ibrahimovic will ihm aber auch heute nicht böse sein: “Zehn Minuten später gingen wir Arm in Arm hinaus.” Doch der Kabinen-Ausraster bringt das Fass beim Verein zum Überlaufen. Mido muss sich einen neuen Klub suchen.
"Jeder kann mal einen Fehler machen, aber nicht so einen", kommentierte Koeman die Entscheidung und geht mit dem Ägypter hart ins Gericht: "Ich glaube, Mido hat ein Problem, und das ist er selbst."
Sogar die FIFA wird eingeschaltet, er darf den Verein ausnahmsweise mitten in der Schlussphase der Saison verlassen. Celta Vigo nimmt Mido per Leihe auf, doch obwohl es in Spanien gut läuft, verkauft ihn Ajax in der Sommerpause an den höchstbietenden Klub. 12 Millionen Euro zahlt Marseille im Sommer 2004.
Auch bei den Südfranzosen hält sich Mido nicht lange. Das Aus nach nur einem Jahr im Stade Velodrome, es ist der Startschuss für eine Odysee durch Europas Fußball-Ligen - mal mit mehr, fast immer mit weniger Erfolg. Der damals 22-Jährige kriegt anschließend fußallerisch kein Bein mehr auf den Boden. AS Rom, Tottenham Hotspur, und Wigan. Die Vereine werden immer kleiner. Alle hoffen, wieder den jungen Mido zu bekommen, der der gegnerische Abwehrreihen in Angst und Schrecken versetzen konnte. Doch die meisten werden enttäuscht.
1100 Euro: Keiner verdient weniger als Mido
2009 folgt dann der Rückzug in die Heimat. Er will wieder Kraft und Selbstvertrauen tanken. Im Dunstkreis der Pyramiden und der Sphinx erholt er sich, kann bei Zamalek wieder Fuß fassen. Der Ruf aus der Premier League lässt nicht lange auf sich warten. Der Angreifer will die Chance unbedingt nutzen. "Mido ist ein reicher Junge, obwohl er erst 26 Jahre alt ist", freut sich West-Ham-Chef David Sullivan über seine günstige Neuverpflichtung. Der damals 26-Jährige spielt für rund 1,100 Euro in der Woche - und avanciert so zum am schlechtesten verdienenden Spieler im englischen Oberhaus. Zum Vergleich: Wayne Rooney benötigt zu der Zeit exakt vier Tage, um Midos Jahresgage zu einzustreichen.
Kurz danach folgt nochmals der Ruf von Ajax. Martin Jol, der ihn schon bei Tottenham trainierte, lockt ihn erneut in die niederländische Hauptstadt. Er macht sich gut, trifft wieder, mausert sich zum Stammspieler. Doch dann der erneute Schlag. Als mit Jol sein größter Fürsprecher gehen muss, endet auch Midos zweiter Aufenthalt bei Ajax. Die Verantwortlichen sind nicht von ihm überzeugt. Die Geschehnessie von früher, sie sind noch präsent in der AmsterdamArena.
Auch in der Nationalmannschaft geht es ständig Auf und Ab. Mal ist er der Held, mal wird er suspendiert. Eine schier endlos erscheinende Seifenoper. Rücktritte und Rücktritte von diesen inklusive.
Mido will nicht mehr - Grüße von Zlatan
Mit 30 Jahren zieht er im Sommer 2013 mit angeschlagener Gesundheit und sichtlichem Übergewicht einen Schlussstrich unter seine Karriere. Sein letzter Verein? Der FC Barnsley. Mido will nicht mehr.
Doch komplett mumifizieren lassen will er sich auch nicht. Der Fußball, er will ihm verbunden bleiben. Heute agiert der ehemalige Super-Youngster als Trainer in seiner ägyptischen Heimat - und als Premier-League-Experte für Al Jazeera oder beIn Sports. Dort bewertet er heute unter anderem das Geschehen von - richtig - dem zwei Jahre älteren Zlatan Ibrahimovic.
Other Mido ist heute Trainer bei Wadi Degla in Kairo: Ein Klub, der im Tabellenmittelfeld der ägyptischen Beletage steckt "Ich sende Grüße zu ihm. Ich habe ihn seit einer langen Zeit nicht gesehen. Wir haben eine großartige Zeit bei Ajax verbracht - wir waren die Bad Boys." Worte, die nicht von Mido, sondern von Ibrahimovic kommen und per Videobotschaft im Fernsehstudio ausgestrahlt werden. Worte von einem, dessen Karriere beinahe durch den Scherenwurf gar nicht durchgestartet wäre. Einem, der ein ähnliches Temperament in jungen Jahren hatte - aber eine professionelle Einstellung zu seinem Beruf.
Mido geht es sichtlich nahe, auch wenn er beteuert, nicht wehmütig zu sein und nichts zu bereuen. Er kann die Zeit nicht zurückdrehen. Doch manchmal, gesteht er heute, fragt er sich, was passiert wäre, wenn die Schere nicht geflogen wäre und er ganz brav damit seine Tapes aufgeschnitten hätte. Er weiß es nicht. Keiner weiß es.


