An einem heißen Juni-Tag im Jahr 2004 steht in Lissabon ein kleiner blonder Junge neben Popstar David Beckham, der mit England bei der EURO spielt. Becks legt seine linke Hand um die Schulter des Jungen, lächelt sein Werbung-Lächeln, das ihn zum Schwarm tausender Frauen macht, während der kleine Fan, mit England-Kappe und -trikot bekleidet, schüchterner in die Linse blickt. Klar, schließlich steht da ein Weltstar neben ihm, der beste Freistoßschütze seiner Zeit.
Zwölf Jahre später ist der blonde Bub 22, ein Mann. Er steht am Strafraum des Stade Velodrome und guckt grimmig. Drei Schritte Anlauf und dann knallt er den Ball in den linken Winkel. Genau so, wie es Beckham so viele Male gemacht hat. England führt gegen Russland. Der Name des Torschützen: Eric Dier.
Das Besondere am blonden Strategen mit dem Bubi-Gesicht ist nicht nur sein kometenhafter Aufstieg bei Tottenham Hotspur, sondern vor allem sein Werdegang. Denn er war damals, im Jahr 2004, keineswegs als EURO-Tourist in der portugiesischen Hauptstadt. Sondern, weil er dort lebte.
2004 zu Sporting
Als er sieben war, bekam seine Mutter Louise ein Job-Angebot, beim Hospitality-Programm in Portugal für die EM 2004 mitzuarbeiten. Das Ehepaar Dier zog mit fünf Kindern auf die iberische Halbinsel. Nach einem Jahr an der Algarve zogen sie 2002 nach Lissabon. In Diers Schule fiel dem Direktor das Talent des Jungen auf. Er stellte einen Kontakt zu Sporting her, wo er 2004 anheuerte.
Bis er 13 war, spielte Dier auf Kleinfeld, oft auf staubigen und schwierigen Untergründen, die ihm halfen, seine Technik zu optimieren. Seine Schusstechnik verdankt er auch David Beckham, den er als Kind genau wie Manchester United bewunderte und dessen Schüsse er stundenlang nachahmte.
"Ein guter Spieler ist in Portugal jemand, der versteht, wenn er einen Fehler gemacht hat und diesen selbst korrigiert", sagte Dier dem Guardian. "In England dagegen werden die Spieler angebrüllt, wenn sie etwas falsch machen." Dem sensiblen Jungen kam der sanftere Umgang bei Sporting sehr entgegen. Er reifte, war bald Kapitän und fühlte sich als Portugiese.
Die Eltern gingen zurück, Dier blieb
Als er 16 war, gingen seine Eltern zurück nach England. Für ihn kam gar nichts anderes in Frage, als zu bleiben und mit seinen Freunden für seinen Verein in seinem Land weiter zu spielen. Und so schenkte er den Offerten von Arsenal, Tottenham oder United kein Gehör und unterschrieb lieber seinen ersten Profivertrag.
2011 wurde er an den FC Everton verliehen, wo er weiter reifen sollte, um dann für Sportings Profis zu spielen. In Liverpool traf ihn ein echter Kulturschock. "Ich dachte nur: 'Holt mich hier raus'“, beschreibt Dier die ersten Monate bei den Toffees. "Es war alles so anders, als ich es gewohnt war. Der Lebensstil, das Wetter, der Ort, die Leute … auch die Sprache war ein Faktor: Der Liverpooler Akzent war schwer zu verstehen. Und der Fußball war viel aggressiver."
Er setzte sich dennoch durch, war in Evertons U21 an der Seite von Ross Barkley Stammspieler in der Innenverteidigung. Dennoch war er froh, als er der Insel wieder den Rücken kehrte und zurückkehrte nach Lissabon. "Ich war wieder zu Hause", sagt er. Und das zeigte sich auf dem Platz.
Dier sollte für Portugal spielen
Dier war vom ersten Spiel an gesetzt. Als Rechtsverteidiger debütierte er 2012 gegen Braga als Rechtsverteidiger und gab gleich eine Vorlage. In der Folgesaison lehrte ihn Leonardo Jardim Demut. Nur neunmal stand Dier, meist als Innenverteidiger, in der Startelf.
2013 nahm zudem der portugiesische Verband Kontakt auf. Da man in Portugal aber erst mit 18 für die Nationalmannschaft spielen darf, nutzte England die Chance und berief ihn in die U19. Kurios dabei: Den Anstoß für diesen Schritt gab die Daily Mail, die genau das forderte, nachdem Dier in einem Umbro-Werbespot in einem England-Trikot zu sehen gewesen war. Und Dier selbst? Der sagt: "Es ist eine perfekte Mischung, 50 Prozent Portugiese und 50 Prozent Engländer zu sein. Aber auch, wenn ich eine Menge eines Portugiesen in mir habe, bin ich Engländer."
2014 klopfte dann erneut Tottenham an. Nach einem Gespräch mit Mauricio Pochettino sagte Dier zu – und war dieses Mal besser vorbereitet auf das Kommende. Zwar sei es für ihn, obwohl er Engländer sei, genau so wie für jeden Spieler gewesen, der zum ersten Mal in die Premier League kommt, aber er habe von Anfang an das Vertrauen des Vereins gespürt.
GettyEric Dier spielte zehn Jahre für Sporting
Umschulung unter Pochettino
Pochettino setzte Dier erst als Innen-, dann als Rechts- und dann wieder als Innenverteidiger ein. "Mit seiner taktischen Flexibilität kann Eric jeder Mannschaft weiterhelfen", sagte der Argentinier. 25-mal stand Dier in der Startelf, kam auch privat immer besser zurecht. Mit seinen beiden Hunden unternahm er ausgiebige Spaziergänge, lernte das Britische (wieder) lieben.
In der Saison 2015/16 machte Pochettino ihn dann zum Sechser. Und Dier war neben Dele Alli, einem seiner besten Freunde, der beste Youngster der abgelaufenen Spurs-Saison. Er antizipierte stark, setzte seine Technik und seine Übersicht ein, um Angriffe zu initiieren und war als Zweikämpfer dennoch kompromisslos, wie er es als Innenverteidiger gelernt hatte.
Er war der Antreiber und die Verbindung zwischen Offensive und Defensive. Nur in zwei Spielen stand er nicht in der Startelf. Einmal, als er gelbgeperrt aussetzen musste und einmal, als Pochettino seine Stars gegen den BVB schonte.
Im November debütierte er dann auch im Nationalteam, das seitdem nie verloren hat, wenn Dier in der Startelf stand. Gegen Deutschland im März köpfte er die Three Lions zum Sieg, was ihn endgültig bei vielen Fans zum unverzichtbaren Stammspieler machte.
"Alles ist möglich"
Im letzten Test vor der EURO schlug England Portugal. "Ein besonderes Spiel für mich. Ich werde viele alte Freunde treffen“, sagte der Sechser, der vor dem Spiel auf Portugiesisch mit William Carvalho und Co. scherzte, als wäre er nie weg gewesen, als trüge er das England-Trikot nur, weil er nach dem Spiel getauscht hätte.
Mit England will er nach seinem fulminanten Freistoß-Hammer gegen Russland und dem Sieg gegen Wales hoch hinaus. Erst soll am Montagabend gegen die Slowakei der Gruppensieg eingetütet werden (21 Uhr im LIVE-TICKER). Und dann? "Dann ist alles möglich“, sagt Dier und meint damit selbstverständlich auch das Finale am 10. Juli in Paris.
"Ich denke, dass ich einer Menge Leute bewiesen habe, dass sie falsch lagen, als sie an mir gezweifelt haben", sagte Dier kürzlich, lächelte schüchtern und erinnerte für einen Moment wieder an den kleinen Jungen neben David Beckham vor zwölf Jahren. Dabei ist er längst ein Mann und ein Spieler, der England hoffen lässt. Vielleicht gerade weil er so unenglisch daher kommt: "Bei Sporting wurde mir beigebracht, dass es mehrere Wege zum Sieg gibt. In England ist das ganz anders ...“
