Kante verlässt zufrieden den Platz. Wie so oft ist der Franzose gerade neunzig Minuten lang unermüdlich über den Rasen gelaufen. Und wie so oft gehörte er danach nicht zu den Hauptgesprächsthemen – zumindest nicht sofort. Eden Hazard war der Mann des Abends: Der Belgier erzielte drei Tore gegen Cardiff City.
Einen Tag später jedoch berichteten sämtliche englischen Fußballzeitungen über Kante. Der Grund dafür lag in seinem Verhalten nach dem Spiel. Nein, Kante war nicht in eine Schlägerei verwickelt. Und nein, The Sun hatte auch keine skandalösen Enthüllungen oder dunklen Geheimnisse ans Licht gebracht.
Was hatte er also getan? Spulen wir zurück zur Stamford Bridge: Kante verließ das Stadion eilig und machte sich auf den Weg zum Londoner Bahnhof St Pancras. Er versuchte verzweifelt, den Eurostar nach Paris zu erwischen, um seine Familie zu besuchen, verpasste den Zug jedoch knapp. Das reichte jedoch nicht aus, um ihm das Lächeln aus dem Gesicht zu nehmen. Also beschloss der Chelsea-Spieler spontan, seinen Abend anders zu verbringen, und besuchte eine nahe gelegene Moschee.
Einladung nach dem Gebet: Kante und der Arsenal-Fan
Dort begegnete er Badlur Rahman Jalil, einem Arsenal-Fan, der Kante kurzerhand zu sich nach Hause einlud. Während ein durchschnittlicher Premier-League-Star wohl abgelehnt hätte, sagte der Franzose zu. "Wir haben zusammen in der Moschee gebetet", erzählte Jalil später der BBC. "Es ist islamischer Brauch, Leute zum Abendessen einzuladen, also habe ich ihn einfach gefragt. Er war allein und wollte sowieso nach Hause, also kam er mit. Wir haben Chicken Curry gegessen, weil er sich proteinreich ernährt. Danach hat er uns alle bei FIFA geschlagen und wir haben Match of the Day geschaut. Es war ein sehr unterhaltsamer Abend." "Ich kann gar nicht glauben, wie bescheiden er ist", schrieb später ein Freund von Jalil. "Er ist so viel mehr als nur ein guter Fußballer. Für mich ist er ein Vorbild als Muslim und ein Beispiel für einen guten Menschen." Diese Geschichte ist keine Ausnahme, sondern vielmehr die Regel. Kante fuhr einmal drei Stunden, um einen Chelsea-Fan zu unterstützen, der gerade eine dreifache Bypass-Operation am Herzen hinter sich hatte. Ein Jahr später sah er denselben Fan wieder, als er an der Hochzeit seiner Tochter teilnahm. Eine Anekdote des ehemaligen brasilianischen Verteidigers Felipe Saad illustriert Kantes Wesen besonders gut. Beide spielten einst gemeinsam beim französischen Verein SM Caen. "Er ist der freundlichste Mensch, den ich kenne", sagte Saad dem Magazin UOL Esporte. "Solche Menschen gibt es im Fußball heute nicht mehr. Deshalb lieben ihn alle in der Umkleidekabine. Er ist genau so, wie man ihn im Fernsehen sieht. Er hat immer dieses schüchterne Lächeln im Gesicht und sagt fast nie etwas."PFA Player of the Year: Kantes leiser Triumph
Als Kante 2017 die Auszeichnung "PFA Player of the Year" gewann, den Preis für den besten Fußballer Englands in diesem Jahr, verbreitete sich seine charakteristische Rede schnell auf der ganzen Welt. "Vielen Dank an alle, vielen Dank für den Applaus", sagte der damals 26-Jährige mit einem liebenswerten Lächeln im Gesicht. Das Zittern in seiner Stimme, die vielen "Ähs" und die Nervosität, die sich in den Schweißperlen auf seiner Stirn zeigte: Es war ein unglaublich liebenswerter Anblick. "Das ist eine große Ehre. Es ist etwas ganz Besonderes, hier zu sein, denn vor ein paar Jahren habe ich noch in den unteren Ligen Frankreichs gespielt. Vor fünf Jahren war ich noch nicht einmal Profifußballer..."
Genau das macht Kantes Geschichte so bemerkenswert. Wie ist es möglich, dass dieser sympathische, bescheidene Mittelfeldkämpfer so lange unbemerkt geblieben ist?
Um die Antwort darauf zu finden, müssen wir zunächst in einen westlichen Vorort von Paris zurückkehren: Rueil-Malmaison. Kante, Sohn zweier malischer Eltern, die 1980 in die französische Hauptstadt gezogen waren, wuchs dort auf. "Schon in jungen Jahren entwickelte ich eine Liebe zum Fußball", erinnert sich Kante 2023 in einem Interview mit dem YouTube-Kanal der Premier League .
Als Junge unterschrieb er bei JS Suresnes, das damals in der neunten Liga der französischen Fußballpyramide spielte. "Dort habe ich das Leben im Fußball kennengelernt und mich daran gewöhnt, hart zu arbeiten. Die Trainer dort haben mich oft in eine Mannschaft mit älteren, größeren und körperlich stärkeren Jungen gesteckt. Diese Unterschiede habe ich mit harter Arbeit und Hartnäckigkeit ausgeglichen."
Pierre Ville, einer von Kantes Trainern bei dem französischen Amateurverein, wurde oft zu seiner Zeit bei Suresnes befragt. "Meine erste Erinnerung an ihn ist die eines kleinen Jungen, der nicht einmal bis zur Tischplatte reichte. Er war nicht einmal 1,20 Meter groß, aber er kam mit einem breiten Lächeln hierher und wollte einfach nur in Ruhe Fußball spielen. Er hatte immer dieses kleine Lächeln im Gesicht", erinnert sich Ville.
Die frühe Tragödie im Leben von N’Golo Kante
Hinter diesem Lächeln verbirgt sich jedoch eine schmerzliche Tragödie. Als Kanté – eines von neun Kindern – elf Jahre alt war, verlor er seinen Vater. Er half seiner Mutter, indem er Müll sammelte, um ein wenig zusätzliches Geld zu verdienen. Fußball war sein Zufluchtsort, seine Füße und Lungen seine Waffen.
Doch als Kante sich seinem 21. Geburtstag nähert, hat ihn noch immer kein Profiverein unter Vertrag genommen. Paris Saint-Germain, nur wenige Kilometer entfernt, nahm nie Kontakt zu ihm auf. Stade Rennes, Lorient und Sochaux, sogar die nationale Akademie von Clairefontaine: Niemand bemerkte Kante, der nur 1,68 Meter groß war. Der Grund? "Er war einfach zu klein, nicht spektakulär genug", erklärte Ville gegenüber der BBC. "Er spielte nicht für sich selbst, sondern für die Mannschaft." Nur ein Team wurde auf Kanté aufmerksam. Der französische Verein Boulogne erkannte das Potenzial des unermüdlichen Mittelfeldspielers, allerdings musste Kante zunächst in der B-Mannschaft spielen, die in der fünften Liga spielte.
Er war daher noch nicht von einer Karriere im Fußball überzeugt. "Als ich für Boulogne spielte, habe ich weiter studiert, weil ich mir nicht sicher war, ob ich es als Profispieler schaffen würde", sagte er gegenüber Sky Sports. "Mit achtzehn habe ich mein Abitur gemacht und dann noch zwei Jahre lang Buchhaltung studiert."
Für Kante änderte sich in Boulogne alles, als Georges Tournay die Nachfolge von Michel Estevan antrat, der vor Weihnachten entlassen worden war. Tournay bewertete die Jugendmannschaften des Vereins neu und entdeckte jemanden, den alle anderen übersehen hatten: Kante. "Als ich dort anfing, testete ich alle möglichen jungen Spieler, darunter auch ihn", erklärte er gegenüber Le Figaro.
Kantes sensationelle Meisterschaft mit Leicester
"N'Golo ist mir sofort aufgefallen. Seine Bewegungen ohne Ball, seine Technik, seine Positionierung und seine Ausdauer. Ich habe mich gefragt, was er überhaupt in der B-Mannschaft macht, und habe ihn sofort unter Vertrag genommen", sagte Tournay.
Kante etabliert sich schließlich in der ersten Mannschaft von Boulogne, die ihre Spiele in der Ligue 2 bestreitet. Dann läuft es plötzlich endlich rund für ihn. Er ist 21 Jahre alt, als er endlich sein Profidebüt gegen AS Monaco gibt. Obwohl Boulogne absteigt, etabliert der Mittelfeldspieler sich in der folgenden Saison endgültig in der dritten Liga. Er wurde zu einem unverzichtbaren Teil der Stammelf und SM Caen holte ihn wieder aus der dritten Liga heraus. Mit Kante im Team – er verpasste kein einziges Spiel – stieg der Zweitligist in die höchste Spielklasse Frankreichs auf.
Am Ende des Jahres ist Kante der Spieler mit den meisten Balleroberungen in Europa. Das bleibt auch in England nicht unbemerkt, wo Steve Walsh, Chefscout bei Leicester City, insgeheim hofft, dass niemand sonst ihn im Visier hat. Und das andere, dringlichere Problem: Claudio Ranieri davon zu überzeugen, dass er eine Bereicherung ist.
Zweimal Meister in zwei Jahren
Denn der Italiener hat dieselben Zweifel wie alle anderen auch: Ist er nicht zu klein für die Premier League? Ist er körperlich stark genug? Walsh beobachtet den Mittelfeldspieler schon seit einiger Zeit und jedes Mal, wenn er Ranieri im Trainingszentrum trifft, flüstert er ihm ins Ohr: "Kante, Kante".
Ranieri gibt nach und Kante wechselt nach Leicester. "Wir hatten gehört, dass dieser Junge in die Kantine des Trainingsgeländes gekommen war", erzählte Ranieris Assistent Craig Shakespeare The Athletic über den ersten Arbeitstag des Mittelfeldspielers. "Alle waren etwas überrascht. Sie dachten, er wäre wegen seiner Größe zu einem Probetraining in der Akademie gekommen."
Kante beweist jedoch schnell, dass Walsh, der bereits Riyad Mahrez und Jamie Vardy zu den Foxes geholt hat, Recht hatte. Ranieri verliebt sich schnell in das französische Energiebündel. "Eigentlich tackelt er gar nicht so oft", sagte Ville einmal. "Er stiehlt dem Gegner den Ball von den Füßen." Die Fans von Leicester erfanden bald das Sprichwort: "Siebzig Prozent der Erde sind mit Wasser bedeckt, dreißig Prozent mit N’Golo Kante."
In seiner ersten Saison gewann er mit Leicester sensationell den Meistertitel in der Premier League. Die Kehrseite dieses Erfolgs: Der Verein verliert seine Schlüsselspieler nach nur einer Saison. Chelsea bricht den bisherigen Transferrekord des neuen Meisters und zahlt rund 30 Millionen Pfund, um Kante nach London zu holen. Ein goldener Schachzug der Blues. Kante lächelt weiterhin ununterbrochen, aber seine Mannschaftskameraden sind noch glücklicher über ihren neuesten Teamkollegen. "Es ist, als würde man mit Zwillingen spielen", sagte Eden Hazard einmal. Mit Chelsea wurde Kante erneut Meister.
Getty Images'
Kanté wird auch von seinen Teamkollegen bei SM Caen geliebt
Weltmeister 2018: Kantes größter Triumph
Die ultimative Belohnung kam für ihn ein Jahr später, als Frankreich die Weltmeisterschaft in Russland gewann und Kroatien im Finale mit 4:2 besiegte. Kante spielte jede Minute, bis auf die letzten 35 Minuten des Finales. Er spielte die erste Halbzeit, obwohl er an einer Gastroenteritis litt. Was viele Menschen nicht wissen, ist, dass kurz vor der Weltmeisterschaft sein älterer Bruder Niama verstorben war.
Der Spätzünder gewinnt dann mit Chelsea einen weiteren Champions-League-Titel, aber in den beiden folgenden Spielzeiten kämpft Kante mit Knie-, Oberschenkel- und Leistenproblemen. 2023 wechselt der Franzose zu Al-Ittihad in Saudi-Arabien. Mit seinem monströsen Gehalt dort leistet Kante viel Gutes.
In diesem Jahr baute er in Mali ein hochmodernes Krankenhaus im Wert von fünf Millionen Dollar, um den Armen den Zugang zu medizinischer Versorgung zu erleichtern. Kante soll das gesamte Projekt aus eigener Tasche finanzieren. Außerdem gründete er in Mali die NG Academy, wo kleine Kinder die Möglichkeit erhalten, ihren Fußballtraum zu verwirklichen.
Genau wie Kante selbst einst. "Wir fühlen uns unglaublich geehrt, dass wir ihm zeigen konnten, dass Erfolg im Fußball zwar großartig ist, es aber vor allem wichtig ist, ein guter Mensch zu sein", lächelt Ville, sein alter Jugendtrainer. "N'Golos Ruf erfüllt uns mit so viel Stolz. Denn er ist jedermanns Liebling."
