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Domenico Tedesco im Interview: "Auf Schalke wollte man mich in die Professoren-Schublade stecken"


EXKLUSIV

Domenico Tedesco ist seit Oktober 2019 Cheftrainer bei Spartak Moskau. Bevor am kommenden Wochenende auch die russische Liga nach der Coronapause einen Restart wagt, nahm sich der 34-Jährige Zeit für ein Interview mit Goal und SPOX. Herausgekommen ist ein offenes Gespräch über Tedescos Werdegang, einen besonderen Schalke-Moment und taktische Prinzipien.

Tedesco schwärmt außerdem von Ex-Schützling Leon Goretzka, einem Besuch bei Juve und er verrät, warum er dank Andre Schürrle im Privat-Jet landete.

Herr Tedesco, sind Sie immer noch so ein leidenschaftlicher Fußballmanager-Fan?

Domenico Tedesco: (lacht) Ich bin immer noch Fan, aber leider fehlt mir inzwischen so ein bisschen die Zeit dafür. Ich habe es lange intensiv gespielt. Als ich Schalke-Trainer war, habe ich nur Schalker Spieler gekauft, um mich selbst ein wenig unter Druck zu setzen. Ich hatte komplett Schalke im Managerspiel. Im ersten Jahr ging die Strategie auch gut auf, da habe ich am Wochenende schön Punkte gesammelt. Im zweiten Jahr sah es dann leider etwas anders aus. Mein Problem war auch, dass alle wussten, dass ich die Schalker haben will, wenn sie auf den Markt kamen. Allen war klar: Der Tedesco zahlt eh nochmal zwei Millionen mehr, da musste ich viel blechen für die Spieler.

Sie haben in Ihrer Karriere bereits Schalke trainiert und zur Vizemeisterschaft geführt, aktuell trainieren Sie Spartak Moskau. Es war aber nicht immer klar, dass Sie so eine erfolgreiche Karriere starten werden.

Tedesco: Nein, ich bin in einfachen Verhältnissen groß geworden. Mein Vater kam in den Achtzigerjahren als Gastarbeiter aus Kalabrien nach Deutschland und hat als Drucker bei einer Zeitung gearbeitet. Da war ich zwei Jahre alt. Wir waren eine fünfköpfige Familie mit einem Vater als Alleinverdiener. Natürlich hatten wir so mit Luxus nichts am Hut, wir mussten den Gürtel etwas enger schnallen. Trotzdem hatte ich eine tolle Kindheit. Meine Eltern haben alles dafür getan, dass es uns Kindern gut ging. Sie haben ihr letztes Hemd für uns gegeben. Dafür werde ich ihnen auch ewig dankbar sein.

Domenico Tedesco Spartak Moskau 2019Twitter / FC Spartak MoscowQuelle: Twitter / FC Spartak Moscow

Wann ist der Fußball ins Familienleben getreten?

Tedesco: Sehr früh. In der Wohnung schon. Der Kleiderschrank war unser Tor, aber meistens haben wir Lampen oder Bilder getroffen. Wir haben in der Wohnung draufgerotzt wie die Wilden. Wenn ich darüber spreche, höre ich jetzt noch meine schimpfenden Eltern. Wir haben echt alles kaputtgeschossen. Gerade mein jüngerer Bruder hatte einen guten linken Huf.

Ihr Bruder Umberto soll der talentierteste gewesen sein in der Familie, bei Ihnen hat es dagegen nie für mehr als die Landesliga gereicht.

Tedesco: Es stimmt: Mein Bruder war der bessere Kicker, das muss ich ihm zugestehen. Mir ging es vor allem um den Spaß, wenn ich auf dem Bolzplatz herumgerannt bin. Ich wollte so sein wie Roberto Baggio. Und später wie Alessandro del Piero. Das waren meine großen Idole bei Juve, ich habe es geliebt, ihnen zuzuschauen.

Sie sollen so viel Fußball gespielt haben, dass Sie in der Schule deshalb eine Niete waren.

Tedesco: Einspruch, das ist so nicht korrekt. (lacht) Ich bin zwar nach der Schule und einem kurzen Mittagessen sofort auf den Bolzplatz, meistens bis es dunkel wurde, aber ich war trotzdem nicht so schlecht in der Schule. Ich habe zwar nicht viel gelernt, aber mein Schnitt hätte gereicht, um aufs Gymnasium zu gehen. Wir haben uns dann aber für den Weg auf die Realschule entschieden, ich wollte lieber dort ein guter Schüler sein, als auf dem Gymi eventuell Probleme zu bekommen. Nach der Realschule habe ich eine kaufmännische Lehre bei einem kleinen Betrieb gemacht, das Fachabitur nachgeholt und dann Wirtschaftsingenieurwesen studiert. Irgendwann hat es Klick gemacht und ich habe angefangen, mehr in die Ausbildung zu investieren und mich darauf zu fokussieren, ab diesem Zeitpunkt lief es top.

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Neben dem Studium haben Sie in die Autoindustrie reingeschnuppert und danach bei einem Daimler-Zulieferer angefangen. Was war das für eine Zeit?

Tedesco: Eine sehr lehrreiche. Ich habe alles Mögliche gemacht. Ich habe im Lager Abgasanlagen in Regale eingeräumt und mich später mit Motoren und Fahrkomfort beschäftigt. Aber das Wichtigste war die Arbeit in der Gruppe. Auch dort musst du zuhören können, du musst viel miteinander sprechen und bist auf andere Menschen angewiesen. Ich profitiere heute noch von dieser Zeit.

Der Fußball hat Sie in der ganzen Zeit immer begleitet. Sie fingen an, Jugendmannschaften in Ihrem Dorfverein zu trainieren.

Tedesco: Ich habe unglaublich viel Fußball geschaut. Barca, Ajax, Bayern, Inter - ich habe jedes Spiel gesehen und versucht, das mit meinen Jungs umzusetzen. Ich habe natürlich Pep Guardiola und das Passspiel bei Barca bewundert und noch lebhaft in Erinnerung. Ich habe versucht, den Kindern Spaß zu vermitteln, aber auf der anderen Seite auch zu verhindern, dass sie zu Passmaschinen werden. Kinder dürfen keine Passmaschinen werden - sie müssen den Freiraum zur Entfaltung bekommen. Das ist extrem wichtig. Ich habe auch die Teams von Jose Mourinho geschätzt. Seine Mannschaften haben Spiele über Konter dominiert. Und seine Spieler sind immer für ihn durchs Feuer. Das hat mir imponiert.

Wie sind Sie in der Folge Jugendtrainer beim VfB Stuttgart geworden?

Tedesco: Ich habe mich einfach blind beworben.

So einfach geht das?

Tedesco: Ich hatte den Vorteil, jemanden beim VfB zu kennen, es bestand also ein gewisser Kontakt. Ich habe gefragt, ob es irgendeine Möglichkeit geben würde und zwei Wochen später ergab sich die Option, als Co-Trainer bei der U9 einzusteigen. Daraus sind dann neun Jahre VfB-Jugend geworden. Das war phasenweise eine brutale Zeit. Ich habe zu dem Zeitpunkt ja noch studiert. Ich war bis um 15 Uhr in Vorlesungen und musste dann irgendwie am Nachmittag zum Training in Cannstatt sein. Und an jedem Wochenende haben wir mit den Jungs Turniere gespielt. Mit Feiern war da gar nichts.

Was interessant ist: Aus der U9, bei der Sie damals beim VfB anfingen, wurde in der vergangenen Saison die so starke U19, die den DFB-Pokal der Junioren gewann und auch die deutsche Meisterschaft nur knapp verpasste. Was haben Sie da für Erinnerungen?

Tedesco: Der 2000er-Jahrgang des VfB ist wirklich herausragend. Es ist so unglaublich schwierig, überhaupt einen von der U9 bis in die U19 hochzukriegen, geschweige denn zu den Profis, aber ich hatte in der U9 einige Jungs, die es weit gebracht haben. Florian Kleinhansl oder Eric Hottmann zum Beispiel, Luca Mack kam dann in der U13 dazu. Nach der Co-Trainer-Zeit bei der U9 war ich Chef der U10, Co der U11 und dann Chef der U13. Es ist krass, wie die Zeit verflogen ist. Ich sehe die Jungs immer noch als 9-Jährige vor meinen Augen auf dem Platz herumflitzen. Ich weiß auch noch, wie wir mit der U13 ein super besetztes Turnier in Neubrandenburg gewonnen haben. Oder wie wir es mit der U17 ins Finale geschaffte haben und erst von einem ziemlich irre besetzten BVB eins drüber bekommen haben.

0:4 und beim BVB unter Hannes Wolf spielten Jungs wie Christian Pulisic, Jacob Bruun Larsen oder Felix Passlack.

Tedesco: Da ging nicht viel. Aber es war trotzdem ein großer Erfolg. Wenn ich an meine Zeit beim VfB und auch danach in Hoffenheim denke: Viele sprechen natürlich über Aue und vor allem Schalke, aber ganz ehrlich: Diese Momente in der Jugend, angefangen von der U9, waren für mich ganz große persönliche Meilensteine und Erfolge, sie bedeuten mir enorm viel.

Sie sprechen Aue an. Erzgebirge Aue steckte 2017 tief im Abstiegskampf und ging das Risiko ein, einen 31-jährigen U19-Coach aus Hoffenheim als Retter zu holen. Präsident Helge Leonhardt sprach damals davon, Sie zu seinem Offizier zu machen.

Tedesco: (lacht) Ein typischer Helge Leonhardt. Ganz Deutschland kennt ja seine Sprüche. Er ist ein super Typ, alle Spieler lieben und schätzen ihn. Ich wusste schon im ersten Vorstellungsgespräch: Für diesen Präsidenten würde ich gerne arbeiten. Die Zeit in Aue war der Wahnsinn. Es hat alles gepasst. Wir hatten mit Christian Tiffert einen Leader, der nicht nur als Spieler, sondern vor allem als Captain überragend war. Er ist vorneweg marschiert, ohne viele Worte zu verlieren. Aber wenn er etwas gesagt hat, hat es gesessen. Wir hatten Pascal Köpke und Dimitrij Nazarov im Sturm, die marschiert sind. Wir hatten einen Clemens Fandrich auf der Sechs, der marschiert ist. Und hinten im Tor stand Martin Männel, der alles rausgezockt hat, egal wie sehr wir unter Druck standen. Ich könnte die Liste noch eine ganze Weile fortsetzen. Wir haben dran geglaubt und nach dem Sieg gegen Karlsruhe in meinem ersten Spiel einen richtigen Lauf bekommen.

Der Erfolg in Aue führte dazu, dass Sie die Chance als Cheftrainer auf Schalke erhielten. Wir haben schon über einige besondere Momente gesprochen. In Ihrer Zeit auf Schalke sticht natürlich das magische 4:4 im Derby in Dortmund heraus - nach einem 0:4 zur Pause. Leon Goretzka sagte dazu später einmal: "In so einer Situa­tion hat ein Trainer zwei Mög­lich­keiten. Ers­tens: Er tritt auf die Mann­schaft ein. Unser Trainer hat sich für die zweite ent­schieden." Was haben Sie mit der Truppe gemacht?

Tedesco: Ich habe auf jeden Fall nicht draufgekloppt in der Kabine. Wir hatten in den ersten 45 Minuten genügend Prügel bekommen, da brauchte die Mannschaft nicht noch einen brüllenden Coach. Wir hatten vor dem Derby ja eine gute Phase. Wenn dann von fünf Schüssen vom Gegner vier drin sind, kann trotzdem nicht plötzlich alles schlecht sein. So etwas passiert im Fußball. Als wir in der Kabine waren, wussten wir: Wenn wir jetzt gleich wieder rauskommen, werden die Dortmunder Fans und Spieler total euphorisiert sein. Und wir werden die Lachnummer sein. Wir hatten zwei Optionen: Entweder wir ergeben uns und hoffen, dass die Nummer schnell vorbei ist, oder wir drehen die beschissene Situation in eine spannende. Schaffen wir es, hier jetzt die zweite Halbzeit für uns zu entscheiden? Das war unser positives Ziel, das wir formulierten. Der Rest ist Geschichte.

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Um noch bei Goretzka zu bleiben: Er ist im Moment sicher einer der Männer der Stunde im deutschen Fußball, aus sportlichen Gründen, aber auch wegen seiner Haltung, die er außerhalb des Rasens immer wieder zeigt. Wie sehen Sie seine Entwicklung?

Tedesco: Ich bin extrem stolz auf Leon. Aber ich bin keinesfalls überrascht von seiner Entwicklung. Wer mit Leon Gespräche führt, erkennt schnell, wie der Junge tickt. In erster Linie ist er ein super Mensch. Er ist intelligent, hochprofessionell, er denkt auch mal ums Eck und er ist sozial extrem sensibel. Das merkst du als Trainer sofort, wenn du siehst, wie er mit seinen Mitspielern umgeht. Und dazu will er jedes Spiel gewinnen - das ist seine Mentalität, die er auf alle anderen überträgt. Deshalb war es für uns auch nie eine Frage, ihn nicht mehr zu bringen, nachdem er seinen Wechsel nach München verkündet hatte. Dafür war er viel zu wichtig. Er hat sich bis zum Ende komplett sauber verhalten, das rechne ich ihm hoch an.

Und fußballerisch?

Tedesco: Leon ist der Prototyp eines modernen Achters. Jeder Verein kann sich so einen Spieler wünschen. Weil er einfach alles mitbringt, was ein Spieler auf dieser Position braucht. Er ist laufstark, technisch top in engen Räumen, er kann den letzten Pass spielen und er ist dazu noch torgefährlich in der Box. Auch für Kopfbälle ist er da immer präsent. Leon Goretzka ist ein Spieler, den man nur cool finden kann.

Auf Schalke hat er phasenweise auch auf der Doppelsechs gespielt.

Tedesco: Im 3-4-3 hat er erst auf der Doppelsechs gespielt, das ist richtig. Er kam dann auch zu mir und meinte: Trainer, ich mach' das auf der Doppelsechs, aber ... Und ich antwortete: Jaja, schon klar, mach das erstmal. (lacht) Als wir auf 3-5-2 umstellten, war klar, dass er auf der Acht gesetzt ist, weil er da seine Stärken noch besser einsetzen kann.

Sie wurden auf Schalke als genialer Dompteur gefeiert, lernten im zweiten Jahr aber auch die Schattenseiten kennen. Die schlechten Ergebnisse führten letztlich zur Trennung, aber auch das Narrativ des Betonfußballs spielte eine Rolle. Generell gesprochen: Was ist für Sie schöner Fußball?

Tedesco: Ich finde eigentlich jede Art von Fußball schön.

Wie meinen Sie das?

Tedesco: Nehmen wir als Beispiel das WM-Achtelfinale 2014 Deutschland vs. Algerien. Als Manuel Neuer zum Retter des DFB-Teams wurde. Deutschland hatte in diesem Spiel 80 Prozent Ballbesitz, aber ich fand es trotzdem nicht so schlecht, oder sogar schön, um beim Wort zu bleiben, wie Algerien das gemacht hat. Wie sie gekontert haben, mit welchem Tempo, mit One-Touch-Fußball direkt in die Tiefe - das war schön anzusehen. Oder nehmen wir Atletico Madrid. Diego Simeone ist ja nicht für extremen Ballbesitz bekannt, aber die mannschaftliche Geschlossenheit und die Leidenschaft von Atletico sind für mich genauso spannend wie die aktuelle Spielweise von Bayern oder Liverpool. Und natürlich hat mir auch das Barcelona von Pep Guardiola gefallen. Entscheidend ist doch immer die Frage: Was habe ich für Spieler? Wo sind ihre Stärken? Wie bringe ich diese am besten zur Geltung?

Sie haben einmal gesagt, dass Sie eine Mannschaft haben wollen, die wie ein Boxer in keiner Situation seine Deckung verliert. Also doch eher Defense first?

Tedesco: Nein, gar nicht. Ich möchte schon einen angriffslustigen Boxer, um im Bild zu bleiben. Ich möchte mehr Ballbesitz als der Gegner, ich möchte Torraumaktionen kreieren. Aber es geht immer auch um den Moment des Ballverlustes. Gerade hier sind Teams wie Barca oder City extrem stark. Jeder sieht nur die wunderbaren Tore nach 29 Kontakten, aber ebenfalls entscheidend ist die Struktur, wenn du den Ball verlierst. Dann musst du sofort wieder bereit sein und hoch pressen. Bei Schalke ist uns das über eine lange Zeit gut gelungen.

Heißt, wer die Umschaltmomente kontrolliert, der kontrolliert Fußballspiele?

Tedesco: Für mich ja. Das war auch bei Guardiolas Zeit bei den Bayern zu sehen. Extrem viele Tore sind nach dem folgenden Muster gefallen: Flanke von links oder rechts, der Gegner klärt und an der Strafraumgrenze nimmt jemand wie Arturo Vidal den Ball an, macht das Tor oder steckt ihn durch in die Box. Statt in einen Konter zu laufen, weil du da keine Spieler hast in der Position, machst du das Tor. Die zweite Welle ist bei Guardiola extrem wichtig.

Wenn man sich viele Spiele anschaut, aktuell zum Beispiel vom VfB, fällt auf, dass teilweise extrem wenige Überraschungsmomente zu beobachten sind. Sind Überraschungen nicht ein Schlüssel?

Tedesco: Absolut. Das Ziel muss es für mich grundsätzlich sein, den Gegner möglichst oft auf dem falschen Fuß zu erwischen. Ihn möglichst oft zu überraschen. Immer wieder. Du musst Tempo haben, du musst die Tiefe attackieren und im letzten Drittel immer wieder spielen und gehen, wie wir es nennen. Du darfst nicht in deiner Position verwurzelt sein, sondern musst ständig Druck auf die Box machen, zum Beispiel durch Doppelpässe oder einfaches Hinterlaufen. Gerade im letzten Drittel muss es zwar ein paar Abläufe geben, aber ich muss hier auch der Kreativität meiner Spieler Raum geben.

Bei Ihrer Zeit auf Schalke, aber auch bei anderen Vereinen hört man immer wieder das Thema der Überforderung der Spieler. Ist eine Mannschaft wirklich so schnell taktisch überfordert?

Tedesco: Ich versuche als Trainer alles, eine Überforderung zu vermeiden. Wenn du eine Mannschaft übernimmst, begibst du dich in den ersten Wochen immer in eine Art Beobachterrolle. Ich muss ja erkennen, mit was für einer Truppe ich es hier zu tun habe. Ist es mehr eine Ballbesitzmannschaft? Worauf haben sie überhaupt Bock? Sind sie vielleicht richtig stark bei Flanken? Solche Dinge. Das muss ich mir anschauen und mich dementsprechend anpassen. Das heißt aber nicht, dass es kompliziert sein muss. In Moskau haben wir drei Offensivprinzipien erarbeitet, die wir immer wieder sehen wollen und die wir intern klar und verständlich mit einem Satz kommunizieren. Analog gibt es drei Defensivprinzipien. Ich sage meinen Spielern, dass sie es sich wie beim Autofahren vorstellen sollen. Wenn die Ampel auf Grün ist, fahre ich los. Bei Rot bleibe ich stehen.

Also sehr trivial.

Tedesco: Es sind ganz einfache Prinzipien, die jeder verstehen kann. Und die wir dann immer und immer wieder trainieren, in Spielformen oder auch in Video-Sitzungen. Auf Schalke wollte man mich in die Professoren-Schublade stecken, darin sehe ich mich überhaupt nicht. Ich weiß schon, wie ich wen ansprechen kann. Sie können Leon Goretzka ja mal fragen, ob es zu komplex gewesen ist. Die Meinung der Spieler ist doch entscheidend. Aber wenn ich dann auf einer Pressekonferenz mal ein Wort wie determiniert oder so benutzt habe, hieß es gleich, es wäre professorenhaft. Dabei war in der Kabine alles normal, ich habe auch "Leck mich am Arsch" gesagt, das können Sie mir glauben. (lacht).

Wenn ich jetzt diese Prinzipien mit einer Mannschaft bespreche: Welche Fragen stelle ich den Spielern? Kann ich manche Dinge überhaupt jeder Mannschaft zutrauen?

Tedesco: Generell würde ich hoffen, dass sich jede Mannschaft drei Prinzipien merken kann. Die Fragen gehen dann noch mehr ins Detail. Machen wir ein Beispiel: Wir nehmen uns vor, egal in welcher Situation wir uns im Ballbesitz befinden, zu versuchen, den Stürmer zu finden. Das ist für jeden klar. Egal, ob du Sechser oder Außenverteidiger bist, dein erster Blick geht zum Stürmer. Nehmen wir an, Sie sind jetzt der Außenverteidiger und Sie finden den Stürmer aber nie.

Was sagen Sie mir?

Tedesco: Ich sehe zum Beispiel im Video, dass Sie den Stürmer gar nicht anschauen. Dann sage ich: Hey, was ist da los? Bitte schau den Stürmer an, das ist wichtig. Ich will, dass du schaust, wo der Stürmer ist, bevor der Ball überhaupt ankommt, und wenn du ihn anspielen kannst, will ich, dass das auch passiert. Solche Themen sind wichtig.

Was machen Sie mit mir, wenn ich es ein paar Mal richtig mache, irgendwann aber wieder schlampig werde oder vielleicht keine Lust mehr auf die Nummer habe?

Tedesco: Wenn es ein, zwei, drei Mal funktioniert, bin ich erstmal schon zufrieden, weil es der Spieler dann ja offensichtlich verstanden hat. Schlechter wäre es, wenn es gar nicht umgesetzt wird, dann muss ich mir ernsthaftere Gedanken machen. Ich muss natürlich die Spieler so gut kennenlernen, dass ich weiß, wie ich jeden Einzelnen packen kann. Ich mache darüber keine empirische Studie, aber häufig reichen ja kurze Gespräche beim Training, um zu erfahren, wie die Jungs ticken. Das merkt man recht schnell. Eigentlich würde man meinen, der Spieler muss ja im Endeffekt nur seinen Job erledigen, den ich ihm auftrage, aber so einfach ist es nicht. Es geht auch um Emotionen. Die Mannschaft muss mich als Trainer akzeptieren, keine Frage, aber die Mannschaft muss auch sonst Bock auf mich haben. Das ist die emotionale Komponente, die nicht weniger wichtig ist als die fachliche.

Wenn Sie auf die taktischen Entwicklungen im Fußball blicken in den vergangenen Jahrzehnten, was erkennen Sie?

Tedesco: Es ist ganz interessant, weil ich in der Coronapause relativ viele große Spiele aus den Achtzigern und Neunzigern gesehen habe. Und siehe da, damals gab es auch schon hervorragendes Gegenpressing. Es hieß nur noch nicht so. Irgendwann wurde es mit einem neuen schicken Namen versehen und neu verkauft. Der Fußball ist natürlich schneller und athletischer geworden, aber die grundsätzlichen Elemente sind seit langem die gleichen. Und das ist auch gut so, das Rad muss nicht immer neu erfunden werden.

Nach Ihrer Zeit auf Schalke haben Sie bei Juve-Coach Massimiliano Allegri in Turin reingeschnuppert. Was waren die Erkenntnisse?

Tedesco: Allegri ist ein sehr charismatischer Coach. Die Art und Weise, wie er mit der Mannschaft umgeht, hat mir richtig gut gefallen. Er hat viel laufen lassen im Training, es wurde viel Fußball gespielt und er hat einen guten, trockenen Humor. Wenn Cristiano Ronaldo über den Ball haut, bekommt er auch einen Spruch. Das war alles sehr interessant zu sehen.

Jetzt sind Sie seit Oktober bei Spartak Moskau. Einem Verein, der von der Größe mit Bayern zu vergleichen ist in Russland, sportlich aber ganz schlecht unterwegs war, als Sie kamen. Wie würden Sie Ihre Zeit in Moskau bislang beschreiben?

Tedesco: Mit einem Wort: gigantisch. Als Stadt ist Moskau wirklich ein Traum. Du atmest an jeder Stelle Kultur, es gibt wahnsinnig viel zu sehen. Alleine die Fahrten mit der U-Bahn, diese unglaublichen Stationen - das sind lauter kleine Museen. Und für mich als Italiener natürlich auch wichtig: Das Essen ist fantastisch. (lacht) Es ist ein Mix aus italienischer und deutscher Küche - für mich perfekt. Du kannst hier in ein kleines Bistro gehen und wirst höchste Qualität erleben. Die Stadt ist auch extrem sauber. Mir gefällt es total gut. Das einzig Schwierige ist die Sprache. Ich habe zum ersten Mal die Situation, dass ich hier eine Barriere überwinden muss, aber ich bin schon dabei, Russisch zu lernen. Es ist echt schwierig, weil kein Wortstamm auch nur irgendwie verwandt ist mit den Sprachen, die ich spreche, aber ich bin auf einem ganz guten Weg.

Und sportlich? Wenn die Liga nach der Coronapause jetzt weitergeht, steht Spartak immerhin inzwischen auf Rang acht.

Tedesco: Spartak ist der größte Klub im größten Land der Welt. Der Verein will wieder nach oben, am liebsten in die Champions League. Das muss ja auch der Anspruch des russischen Rekordmeisters sein. Es ist eine extrem spannende Aufgabe, auch weil die Mannschaft unglaublich jung ist. Wir haben viele interessante Spieler im Kader. Aleksandr Maksimenko ist russischer U21-Nationaltorhüter, Pavel Maslov ist ein ganz junger Rechtsverteidiger mit großem Potenzial, Mittelfeldmann Zelimkhan Bakaev ist erst 23 und schon Nationalspieler. Oft spielen im Zentrum auch der 22-jährige Alex Kral und der 19-jährige Nail Umyarov. Im Sturm haben wir mit Ezequiel Ponce einen jungen Argentinier oder Jordan Larsson, den Sohn von Henrik. Auch Aleksandr Sobolev ist erst 23. Es macht Spaß, die Truppe zu entwickeln.

Andre Schürrle wird nach seiner Leihe nicht bei Spartak bleiben, er hat Ihnen aber vor der Coronapause sehr geholfen, oder?

Tedesco: Ja, er hat uns mit einem Kontakt für eine Privatmaschine geholfen. Das ist eigentlich gar nicht mein Ding. Ich brauche in der Regel keinen Privatflieger oder Erste-Klasse-Tickets. Normalerweise bin ich auch etwas skeptisch, wenn es um so kleine Maschinen geht, aber wir hatten keine andere Möglichkeit mehr, um aus dem Land raus und nach Deutschland zu kommen. Alle Linienflüge waren an diesem Tag gecancelt worden. Zum Glück haben wir über einen Kontakt von Andre, der es rechtzeitig schon vor uns nach Deutschland geschafft hatte, dann noch den Privat-Jet bekommen. Um kurz vor Mitternacht hatten wir endlich die Starterlaubnis und konnten losfliegen, danach wäre es wohl eng geworden.

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