DFB-Defensive: Hansi Flicks riskantes Manöver mit den Dortmunder Innenverteidigern

Die Weltmeisterschaft in Katar wird das Turnier der kurzfristigen Lösungen. Es gibt keine Lücke zwischen den letzten Partien der Spieler in ihren Ligen, es gibt keine Vorbereitungszeit. Wo am letzten Wochenende noch in München, Marseille oder Manchester gespielt wurde, wird schon in wenigen Tagen in Doha und rund um Katars Hauptstadt gespielt.

Es gibt keine Übergangsphase, um sich den neuen Gegebenheiten anzupassen oder nach bis zu 25 Pflichtspielen in nur drei Monaten einmal kurz durchzuschnaufen. Jede noch so harmlos wirkende Verletzung kann ganz schnell das Turnier-Aus bedeuten, Augsburgs Carlos Gruezo musste dies am Wochenende leidvoll erfahren, auch der Stuttgarter Wataru Endo bangte nach seiner unter der Woche erlittenen Gehirnerschütterung um seinen Einsatz für Japan - hat nun aber grünes Licht bekommen.

Und Zeit und Muße, sich für den vermeintlichen Höhepunkt der Saison in die dafür angemessene beste Verfassung zu bringen, bleibt auch nicht. Hansi Flick und sein Trainerteam müssen auf 26 leistungsstarke Spieler hoffen, jeder Einzelne am besten auf der Höhe seines Schaffens. In neun Tagen steht das erste Spiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Japan an - wer jetzt nicht in Form ist, wird diese bis dahin kaum noch erreichen. Und das könnte besonders im Zentrum der deutschen Verteidigungslinie ein Problem werden.

Die Kontersicherung als Problem

In den letzten sieben Spielen setzte es mindestens ein Gegentor, zuletzt gegen England waren es sogar drei. Das letzte Mal mal zu Null spielte die Mannschaft im März gegen Israel, seitdem hakt es im Spiel gegen den Ball in unterschiedlichen Kategorien: Beim Verteidigen im tiefen Block und gegnerischer Standards, vor allen Dingen aber im Zugriff nach einem eigenen Ballverlust.

Es ist ein Muster des Flick-Fußballs, der auf eine sehr hohe Abwehrlinie und damit sehr viel Risiko fußt. Das war schon beim FC Bayern so, der in Umschaltmomenten durch das Zentrum besonders anfällig war und zieht sich auch ein bisschen in der Nationalmannschaft durch. In einer deutlich abgeschwächten Dosis zwar, aber die grundlegende Schwachstelle bleibt.

Umso wichtiger sind die Abläufe im Gegenpressing und das Durchschieben der Verteidiger bie gleichzeitiger Tiefensicherung. Die Konterabsicherung muss ein großes Thema des deutschen Spiels sein, bei der letzten Weltmeisterschaft in Russland zerschellten die deutschen Hoffnungen in den Gruppenspielen daran. Die angepasste Spielidee des damaligen Trainers Joachim Löw drei Jahre später bei der Europameisterschaft passte nur schwer zum Profil der Mannschaft, Flicks Kehrtwende zu einem wieder deutlich offensiveren Stil soll die Stärken des Teams wieder betonen, muss im Gegenzug aber auch sauber abgesichert werden.

Zweifel an Nico Schlotterbeck angebracht?

Das Problem: Mit Antonio Rüdiger verfügt der am letzten Donnerstag final beschlossene Kader nur über einen zentralen Abwehrspieler von internationalem Spitzenformat. Am Innenverteidiger von Real Madrid dürfte kein Weg vorbeiführen, Rüdiger ist Flicks Abwehrchef, besonders gegen den Ball zuverlässig, robust und schnell genug, im Laufduell nach einem Tiefenpass des Gegners zu bestehen.

ANTONIO RÜDIGER GERMANYGetty Images

Nico Schlotterbeck und Niklas Süle bringen beide auch eine gewisse Grundschnelligkeit mit und den entsprechenden Körper, Tiefenläufe des Gegners schon im Ansatz zu blocken. Abr besonders Schlotterbeck hatte nach einem verheißungsvollen Start bei Borussia Dortmund zuletzt allerhand Probleme: Mit der Aufmerksamkeit, mit der Konzentration, auch mit der Tatsache, dass der BVB phasenweise quasi ohne defensiven Mittelfeld spielte und es an den Innenverteidigern war, diese kratergroßen Lücken auszufüllen - um dann in ihrem Kerngeschäft aus einer schlechten Position zu starten oder gleich überspielt zu werden.

Nicht erst nach dem kaum erklärbaren 2:4 im letzten Bundesligaspiel gegen Mönchengladbach bleibt aber der Eindruck, dass Schlotterbeck schon bessere Tage erlebt hat als Innenverteidiger und der Spieler ein gutes Stück entfernt ist von den Leistungen, die ihn erst zu einem Kandidaten für die Borussia gemacht hatten.

Vor ein paar Wochen war Schlotterbeck zu Gast im „Aktuellen Sportstudio“ und versprach, sich leichtsinnige Fehler und überhastete Klärungsaktionen, die gerade im DFB-Dress letztlich wiederholt zu Strafstößen für den Gegner geführt hatten, in Zukunft zu vermeiden. Die Beweisführung darf er nun wahrscheinlich in Katar auf der größtmöglichen Bühne antreten - und das bleibt zumindest ein Wagnis.

NICO SCHLOTTERBECK GERMANY NATIONS LEAGUE 26092022Getty Images

Flick sprengt das erfahrene Duo

Wie der Bundestrainer beim Turnier und gegen die vermutlich eher defensiv eingestellten Japaner zum Auftakt mit Süle plant, ist eines der großen Geheimnisse. Einige Positionen im Team sind fest vergeben, andere heiß umkämpft. Für die Rolle als Rüdiger-Sozius kommen neben Schlotterbeck auch Thilo Kehrer, Matthias Ginter oder eben Süle in Frage. Der erst 20-jährige und kaum dekorierte Armel Bella-Kotchap sollte das Turnier wohl eher als Lernplattform begreifen.

Beim BVB musste - oder durfte - Süle in sieben der letzten zehn Pflichtspiele als rechter Verteidiger einer Viererkette aushelfen. Das sah in vielen Spielen sehr gut aus, jedenfalls gegen die entsprechend kleinkalibrigen Gegner. Gegen Frankfurt, Wolfsburg und besonders in Mönchengladbach hatte Süle auch in der neuen Rolle Probleme. In der beim DFB angedachten Aufgabe als Innenverteidiger konnte sich der 27-Jährige zuletzt kaum noch zeigen und in den Wochen davor gab es durchaus einigen Anlass zur Kritik an Süles Leistungen.

NIKLAS SÜLE GERMANY NATIONS LEAGUE 14062022Getty Images

Dass Flick den Spieler nun auf die rechte Außenbahn beordert, wäre wohl ein zu großes Experiment zur falschen Zeit. Kehrer durfte dort zuletzt auffällig oft Dienst schieben, auch Ginter ist als rechter Außenverteidiger eine Option. Süle dagegen wird im Zentrum gebraucht, wo er in direkter Konkurrenz steht mit seinem Dortmunder Kollegen Schlotterbeck. Das erfahrenere mögliche Duo mit Rüdiger und Mats Hummels hat der Bundestrainer mit seiner Nominierung am vergangenen Donnerstag ja selbst gesprengt.

Erneute Hummels-Ausbootung ist riskant

Hummels legte wie Süle und Schlotterbeck auch gegen Gladbach eine spektakulär schwache Vorstellung hin. Allerdings durften auch beim bald 34-Jährigen ein paar mildernde Umstände gelten. Zum einen die Unfähigkeit seiner Vorderleute, schlicht die Positonen im defensiven Mittelfeld zu halten.

Hummels musste permanent auf einen völlig freistehenden Gladbacher Zehner rausstechen, hatte dafür nicht immer das notwendige Timing und sah wie Nebenspieler Schlotterbeck in etlichen Spielsituationen reichlich überfordert aus. Beim Weltmeister schien sich im letzten Pflichtspiel vor einer nun zehnwöchigen Pause auch so etwas wie ein emotionales Loch aufzutun. Bis dato hatte Hummels mit ganz wenigen Ausnahmen die beste Halbserie der letzten Jahre gespielt, ist körperlich topfit und hätte seit seiner Ausbootung vor bald vier Jahren wieder so etwas wie ein dringend benötigter Stabilisator sein können. Wenn er denn Teil des Kaders geworden wäre.

Mats Hummels BVB DortmundGetty Images

Diese Option hat Hansi Flick verstreichen lassen. Der Bundestrainer verzichtet aus freien Stücken auf den formbesten der drei Dortmunder Innenverteidiger, wenigstens einer der anderen beiden dürfte aber fester Bestandteil der deutschen Stammformation werden. Nach den Erfahrungen der letzten Wochen ist das ein durchaus riskantes Manöver.

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