Casemiro GrafikGoal / Spox

Bittere Armut, Pizza-Gate mit Lucas Moura und Angst vor der U-Bahn: Casemiros steiniger Weg zum Real-Star


HINTERGRUND

Mit pochendem Herzen sitzt der Junge auf der bröckeligen Treppe, nervös wippt er auf und ab. Seine Freunde, die ein paar Meter weiter unten Fußball spielen, hat er kurz vergessen, würdigt sie gerade keines Blickes. Stattdessen schaut er abwechselnd auf die morsche Tür des Hauses seiner Familie und die Ecke der schmalen, ungeteerten Straße. Komm' endlich, komm' endlich, denkt er. Bis der Ruf seiner Mutter das Abenteuer für heute beendet.

"Immer, wenn ich die Frau sah, die Yakult verkaufte, rief ich Casemiro ins Haus", verriet Mutter Magda dem Bleacherreport. Yakult ist ein Joghurtdrink, sehr populär in Brasilien. Heute könnte sich Casemiro, dreimaliger Champions-League-Sieger mit Real Madrid und 44-facher brasilianischer A-Nationalspieler, wahrscheinlich eine ganze Yakult-Fabrik leisten. Als Kind war schon eine kleine Flasche utopisch. "Ich wollte immer Yakult trinken, aber wir hatten nie das Geld. Es kostete vielleicht 20 Cent", erinnerte sich Casemiro selbst.

Was klingt wie die traurige Version einer Miracoli-Werbung lässt erahnen, welch steinigen und mitunter aussichtslosen Weg Casemiro hinter sich hat. Aus dem Nichts nach ganz oben. Aus Sao Jose dos Campos, einer Stadt rund 80 Kilometer vor den Toren Sao Paulos, in die Weltspitze. Eine Geschichte voller Barrieren, voller Wendungen, voller Probleme eines sehr schüchternen Jungen, der dank seines Talents plötzlich berühmt wurde.

Casemiro ist erst fünf Jahre alt, als sein Vater die Familie nach einem heftigen Streit mit seiner Mutter Magda verlässt und nie wieder zurückkehrt. "Wenn ich ihn heute auf der Straße sehen würde, ich würde ihn nicht wiedererkennen", sagte Casemiro mal zu Globoesporte . "Aber ich wollte ihn immer treffen, weil ich keinen Groll gegen ihn hege."

Casemiro: Auf dem Platz konnte er vergessen

Ohne die ordnende Hand eines Vaters musste Casemiro extrem früh lernen, Verantwortung zu übernehmen. Seine Mutter arbeitete oft den ganzen Tag, um ihre Kinder irgendwie durchzubringen. Umso mehr war es Casemiros Aufgabe, sich um seine beiden jüngeren Geschwister zu kümmern. Ein eigenes Haus hatten sie nicht, mussten improvisieren. "Wir lebten bei meiner Tante, hatten nur ein Zimmer zum Schlafen und ein Bad", erzählt Casemiro.

Fußball war inmitten all dieser widrigen Umstände immer schon die Zuflucht des heute 26-jährigen Mittelfeldspielers. Auf dem Platz konnte er vergessen, war er nicht mehr der sehr zurückhaltende, fast ängstliche und irgendwie immer besorgt wirkende Junge. Auf dem Platz war er selbstsicher, dominant, alles andere als ängstlich. 

Mit den Kumpels aus den Nachbarhäusern hatte er ohnehin schon immer auf der Straße gekickt, über seine Cousine Monica kam er mit sechs Jahren in eine Fußballschule. "Monica war Torhüterin in unserer Mädchenmannschaft, eines Tages erzählte sie mir von Casemiro. Wie gut er sei und ob sie ihn mal mitbringen könne", erinnert sich Nilton Moreira, ein ehemaliger Profi, der erwähnte Fußballschule 1997 in Sao Jose dos Campos eröffnet hatte.

Casemiro Real Madrid Roma UCL 19092018

Moreira, bis heute Casemiros vielleicht wichtigster Mentor und eine Art Ersatzvater, stimmte zu, hatte für den unscheinbaren Jungen, den Monica da anschleppte, zunächst aber lediglich als Ersatztorwart der Mädchenmannschaft Verwendung. "Doch er war so begabt, dass ich ihn nach kurzer Zeit zu den Jungs schickte. Er durfte bei einem Turnier mitspielen, als Stürmer - und beeindruckte sofort alles und jeden", blickt Moreira stolz zurück.

Heute vor allem für seine kompromisslose Zweikampfführung, seine Antizipationsfähigkeit, Robustheit, kurzum seine Aufräumerqualitäten bekannt und geschätzt, gefiel Casemiro als Jugendspieler meist durch Technik und Torgefahr. "Er hatte eine exzellente Ballkontrolle mit beiden Füßen", lobt Frühförderer Moreira. Und Bruno Petri, der ihn später in der Akademie des FC Sao Paulo trainieren sollte, sagte einmal: "Casemiro hätte alle technischen Voraussetzungen, um genau so zu spielen wie Toni Kroos und Luka Modric. Aber er hat verstanden, dass Real Madrid das nicht benötigt."

Casemiro sucht sein Glück in Sao Paulo

Es ist diese Fähigkeit, erkennen zu können, wofür man gebraucht wird, die bei Casemiros steinigem Aufstieg eine tragende Rolle spielt. Ihm war bereits als Kind schnell klar, dass der Fußball für seine Familie und ihn das Ticket in ein besseres Leben sein könnte. Früh war er in der Lage, sein Potenzial zu schützen und optimal zu nutzen. Schon als Achtjähriger begann er, die Kumpels aus seiner Mannschaft zu fragen, ob er die Nacht vor einem Spiel bei ihnen verbringen könne - und nicht auf seinem improvisierten Bett auf engstem Raum zuhause. "Um besseren Schlaf zu bekommen und fit für das Spiel zu sein", erklärt er.

In Moreiras Fußballschule war Casemiro bald ein kleiner Star, seine Mutter vertraute dem Coach ihren Sohn an: "Ich werde Moreira immer dankbar sein", sagt sie. "Carlinhos (angelehnt an Casemiros Vornamen Carlos, d. Red.) war meistens bei ihm und rutschte daher nie auf die schiefe Bahn ab. Wenn es den Fußball nicht gegeben hätte, hätte er in schlechte Dinge verwickelt werden können."

Casemiro machte sich einen Namen bei den Talentspähern rund um Sao Paulo. Immer mal wieder kreuzten die Wege seines Teams auch jene eines gewissen Neymar, keine drei Wochen älter und bekanntlich ebenfalls im Dunstkreis Sao Paulos aufgewachsen. Casemiro ähnelte seinem heutigen Nationalelfkollegen seinerzeit noch sehr in seinem Spielstil, war ebenfalls offensiv, erzielte viele Tore - und bekam pünktlich zu seinem 14. Geburtstag endlich die Chance, zum großen FC Sao Paulo zu gehen.

"Dort hatte ich ein eigenes Zimmer, geregeltes Essen, eine Klimaanlage, einen Fernseher", erinnert sich Casemiro an den ungewohnten Luxus, den er plötzlich kennenlernte. Ein Kulturschock für den Teenager, der sich im hektischen Trubel der Weltstadt Sao Paulo keineswegs auf Anhieb zurecht fand. Als ihn sein Coach Bruno Petri nach einem Training mal an der stets vor Menschenmassen strotzenden Avenida Paulista absetzte, damit er von dort seinen Bus in die Heimat erreichen konnte, brach Casemiro in Panik aus. "Er hatte solche Angst vor dem Lüftungsgitter der U-Bahn. Er sagte mir, er würde hineinfallen und sterben. Ich musste schließlich mit ihm gemeinsam darüber gehen", erzählte Petri.

Neben der neuen, großen Welt hatte Casemiro zu Beginn seiner Zeit in Sao Paulo aber auch ganz andere, noch viel schwerwiegendere Probleme. Bei einer Routinekontrolle kurz nach seiner Ankunft beim FC Sao Paulo wurde bei ihm Hepatitis A festgestellt. Drei Monate lang konnte er nicht trainieren, durfte teilweise nicht einmal mit seinen Mannschaftskameraden essen. Er weinte viel, vermisste seine Familie nun umso mehr, hatte Angst, bei Sao Paulo zu scheitern. "Manchmal dachte ich darüber nach, den Fußball sein zu lassen. Sogar, als ich mich schon wieder erholt hatte", gestand er. "Doch meine Vergangenheit und das Leid meiner Familie gaben mir den stärksten Antrieb, doch weiter an meiner Karriere zu arbeiten."

Casemiro: Mit Lucas Moura bei U15-Turnier für Furore gesorgt

Wie so oft in seinem Leben biss sich Casemiro durch, blieb geduldig, blieb hartnäckig. Die Hepatitis-Erkrankung hinter sich gelassen, avancierte er nach und nach zu einem wichtigen Teil seines Jugendteams bei Sao Paulo. Mit der U15 machte er 2007 erstmals weltweit auf sich aufmerksam, führte seine Mannschaft, zu der seinerzeit unter anderem der heutige Tottenham-Star Lucas Moura gehörte, beim Nike Cup im Old Trafford in Manchester bis ins Finale.

GFX Casemiro Quote

Sao Paulo war das wohl aufregendste Team des extrem gut besetzten Jugendturniers, verlor das Endspiel gegen den Nachwuchs des FC Barcelona - angeführt von Sergi Roberto - aber knapp mit 0:1. "Wir hatten das Halbfinale gegen Schalke 04 gewonnen und bestellten Pizza, um mit den Kids den Einzug ins Endspiel zu feiern", erinnert sich Trainer Petri.

Nachdem man dort gegen Barca unterlegen hatte, war die Stimmung auf dem Rückflug nach Brasilien dennoch prächtig, die Freude über das Erreichen des zweiten Platzes überwog. Nur bei Casemiro nicht. "Ich fragte ihn: 'Warum guckst du so traurig? Wir sind Zweiter geworden, es gibt keinen Grund dafür'. Und er antwortete: 'Ich bin enttäuscht, weil ich glaube, dass wir vor dem Finale keine Pizza hätten essen sollen'. Ich erinnere mich noch heute gut daran, weil es seine Persönlichkeit so schön widerspiegelt und zeigt, wie sehr er diesen Teamgedanken schon in jungen Jahren verinnerlicht hatte."

Nur wenig später, mit 16, erhielt Casemiro bei Sao Paulo seinen ersten Vertrag, kaufte von dem Geld nicht nur den kompletten Yakult-Vorrat eines Supermarktes leer, sondern auch ein neues Haus für seine Mutter. Er wurde brasilianischer Junioren-Nationalspieler, debütierte mit 18 schließlich für Sao Paulos Profis in der ersten Liga. Mit versehentlich falsch aufgedrucktem Namen auf dem Trikot, denn eigentlich heißt Casemiro Casimiro, genauer gesagt Carlos Henrique Casimiro. Aber sei es drum, e oder i: Er nahm fortan trotzdem einfach die falsche Version, es störte ihn nicht. Denn der Traum, den er schon so lange hegte, vom besseren Leben für ihn und seine Familie, er schien erfüllt.

Doch das nächste Tal auf Casemiros Route hin zum Gipfel, es wartete schon. Als Teenager plötzlich im Rampenlicht, baute er nach ordentlicher erster Profisaison ab, machte sich angreifbar für jene, die ihm unterstellten, den Fokus zu verlieren, sich mehr auf schnelle Autos und hübsche Mädchen als auf Fußball zu konzentrieren. Seine schüchterne, ja mitunter sozialphobisch anmutende Art wurde ihm zum Verhängnis. Wenn er an Autogrammjägern wortlos vorbeiging, weil ihm die Aufmerksamkeit unangenehm war, legte man ihm das als Arroganz aus. Mit "Casemarra" ("marra" bedeutet im Portugiesischen "arrogant", d. Red.) wurde ihm sogar ein entsprechender Spitzname verpasst.

Ex-Coach über Casemiro: "Das wurde als Arroganz missinterpretiert"

Ney Franco, ehemaliger U20-Nationalcoach Brasiliens und 2011 mit einem Team um Casemiro herum U20-Weltmeister, erklärte das Dilemma wiefolgt: "Bei der U20 schien er sich wohler zu fühlen, redete in der Kabine, war respektiert. Bei Sao Paulo hingegen - vielleicht, weil dort auch ältere Spieler waren - gab er sich reserviert, sehr introvertiert. Aber ich würde das niemals arrogant nennen. Er war nur einfach sehr schüchtern in vielen Momenten, das wurde als Arroganz missinterpretiert."

Aber Casemiro traf inmitten all jener falscher Auslegungen auch selbst schlechte Entscheidungen. Das Fass lief über, als er sich öffentlich darüber beschwerte, dass sein Kumpel Lucas Moura eine Gehaltserhöhung bekam und er nicht. "Welche Titel hat er gewonnen, die ich nicht gewonnen habe?", fragte er damals in einem Interview mit ESPN Brazil . Sao Paulos Verantwortliche waren sauer, sportlich lief es immer schlechter - statt aufstrebendes Juwel war Casemiro plötzlich der aufmüpfige Möchtegern-Star, pendelte meist zwischen Bank und Tribüne, spielte kaum noch von Beginn an.

Für Real Madrid letztlich ein glücklicher Umstand. Denn - vor allem ob seiner Leistungen für Brasiliens U20 - Casemiro war weiterhin ein begehrtes Talent im Weltfußball. Und weil Sao Paulo beinahe froh war, Casemiro loszuwerden, mussten die Königlichen 2013 nur schlappe sechs Millionen Euro für den seinerzeit 21-Jährigen hinlegen.

Der Rest der Geschichte ist mehr oder weniger bekannt. Der schnelle Durchbruch in Madrid gelang nicht, erst ein Jahr beim FC Porto unter dem späteren Real-Coach Julen Lopetegui ließ Casemiro vollständig reifen. Um bereit zu sein, der Weltklassespieler zu werden, der er mittlerweile längst ist. Der jede Stufe auf der Karriereleiter mit Herzblut und Beharrlichkeit erklimmen musste. Stufen, so bröckelig, hart und an manchen Stellen schmutzig wie die Treppen damals in seinem Viertel in Sao Jose dos Campos. Die er hinaufstieg, um die Yakult-Verkäuferin abzupassen.

Mit dem Unterschied, dass er heute bekommt, was er will. Und die Zeiten, in denen 20 Cent für einen Joghurtdrink nicht drin waren, ganz weit weg erscheinen.

Werbung