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Andy Carrolls Transfer zum FC Liverpool: "Ähnlich dem Kadaver eines toten Ochsen"


HINTERGRUND

Andy Carroll erinnere ihn an Popstar Sting, sinnierte Guardian-Kolumnist Barney Ronay im Januar 2012. Genauer gesagt an den "verhutzelten, würdevollen, aber eigentlich überflüssigen" Indio-Häuptling aus dem Regenwald des Amazonas, den Sting in den 80er Jahren zu Preisverleihungen und Talkshows mitgeschleppt hatte.

Wie ein "betrunkenes Pferd" rumple der 23 Jahre alte Carroll seitwärts durch den Strafraum, sein Passspiel erinnere an jemanden, "der eine alte Radkappe am Straßenrand vor sich her kickt". Selbst im Erfolgsfall sei der Angreifer nur "menschliche Kanonenkugel, ähnlich dem Kadaver eines toten Ochsen, der bei einer mittelalterlichen Belagerung über die Burgmauer katapultiert wurde".

Fast genau ein Jahr stand der 1,93 Meter große, stiernackige Stürmer zu diesem Zeitpunkt schon in den Diensten des FC Liverpool, und so verzweifelt, wie er sich auf die wenigen Flanken stürzte, die durch seinen Lebensraum flogen, so schadenfroh stürzte sich die Presse auf den Torjäger, der partout keine Tore erzielte. Freude machte Andy Carroll dieser Tage nur den Kolumnisten - und den Buchaltern seines vorigen Klubs Newcastle United. Der Rekordtransfer der Reds, er war längst ein kapitaler, ein historischer Flop.

Wie konnte es so weit kommen?

Oft ist diese Frage nicht leicht zu beantworten. Falscher Zeitpunkt, falsches System, falscher Trainer, Verletzungspech, Laune des Schicksals.

Oder es kommt, wie in der Causa Carroll, einfach alles zusammen. Denn: Schon vom ersten Tag an lief bei diesem Transfer alles schief, was nur irgendwie schieflaufen konnte.

Andy Carroll: Shootingstar bei Newcastle United

Rückblick: Saison 2010/2011. Aufsteiger Newcastle sorgt in der Hinrunde für Furore, die Magpies beenden den ersten Saisonabschnitt auf Rang neun - auch dank einer jungen, britischen Sturmhoffnung. Mit der legendären Nummer 9 von Alan Shearer auf dem Rücken erzielt Carroll mit gerade mal 21 Jahren elf Tore in 19 Spielen, sieben weitere bereitet er vor. Auch gegen Liverpool trifft er, mit einem Strahl aus über 20 Metern. Im Oktober 2010 unterschreibt er einen neuen Fünfjahresvertrag, einen Monat später debütiert er für die Three Lions.

31. Januar 2011. Deadline Day. Gerade hat er sich ein Haus gekauft, am Vortag noch eine Katze zugelegt. Jetzt sitzt er auf dem Ergometer im Fitnessraum des Vereins, Reha für eine Oberschenkelverletzung. "Plötzlich kam die Meldung bei Sky Sports News", erinnert er sich später: "20 Millionen Pfund - abgelehnt. 25 Millionen - abgelehnt. 30 Millionen - abgelehnt. Alle fragten mich, was los sei. Ich sagte: 'Ich gehe nirgendwohin, ich habe doch einen neuen Vertrag.'"

Andy Carroll LiverpoolGetty Images

Doch wenig später wird er ins Büro von Manager Alan Pardew gerufen: "Man sagte mir: 'Du gehst', und damit war die Sache erledigt."

FC Liverpool im Umbruch: Carroll soll Torres ersetzen

Schließlich hat der FC Liverpool sein Angebot noch einmal nachgebessert. 35 Millionen Pfund, über 40 Millionen Euro, bieten die Reds in der Hitze des Deadline Days. Rekordablöse für einen britischen Spieler, aber für Nationalspieler von der Insel muss mittlerweile längst ein kräftiger Aufschlag bezahlt werden, und die Zeit drängt: Der Transfer von Superstar und Publikumsliebling Fernando Torres für stolze 50 Millionen Pfund zum FC Chelsea ist bereits fix. Geld ist da, Ersatz muss her.

"Die Ablöse hat Carrolls Fähigkeiten nicht widergespiegelt", erklärt Liverpool-Korrespondent Neil Jones von Goal. "Er hatte bei Newcastle ja gerade mal sechs Monate Erstliga-Fußball gespielt. Und man hat ihn verpflichtet, obwohl man gar nicht genau wusste, wie man ihn einsetzen will."

An der Anfield Road kann man zu diesem Zeitpunkt nicht gerade von ruhigem Fahrwasser sprechen. Drei Monate zuvor ist der Klub an die amerikanische Fenway Sports Group um John Henry, Besitzer der Boston Red Sox, verkauft worden. Henry installiert im November den früheren Scout Damien Comolli als Director of Football Stragey, Comolli soll vor allem für Transfers verantwortlich sein.

Als der Klub eine schwache Hinrunde spielt, holt Henry Anfang Januar nach 20 Jahren Abstinenz aber auch noch Reds-Ikone Kenny Dalglish auf den Managerstuhl zurück - in diesem Fall könnte man auch von "Managerthron" sprechen. Die beiden müssen zusammenarbeiten, sind sich in puncto Strategie aber nicht immer grün: Comolli etwa tütet den Transfer von Luis Suarez ein, Dalglish drängt laut dem Premier-League-Kenner und damaligen SPOX-Kolumnisten Raphael Honigstein dagegen "explizit auf den Kauf des 40-Millionen-Schranks Carroll".

Henry lässt Dalglish freie Hand, zumal man durch den Torres-Abgang hochkarätigen Ersatz braucht, um nicht als "Verkaufsklub" dazustehen. In einem Conference Call wird der Deal abgesegnet, wenig später sitzt Carroll in einem Helikopter Richtung Liverpool, um dort zu unterschreiben.

Andy Carroll: "Bitte, lass mich den Medizincheck nicht bestehen"

Das Problem ist nur: Der hat eigentlich gar keine Lust auf einen Wechsel. So zumindest schildert es Carroll gegenüber der Daily Mail im Dezember 2019. "Auf dem Weg zum Helikopter dachte ich mir nur: 'Was ist hier los? Was mache ich überhaupt?'" Insgeheim habe er seine Hoffnung auf den verletzten Oberschenkel gesetzt: "Ich dachte nur: Bitte, lass mich den Medizincheck nicht bestehen.'"

Man könnte es als Ironie des Schicksals bezeichnen: Dieser Wunsch bleibt Carroll, der sich im Laufe seine Karriere so oft verletzte und sein Debüt im Liverpool-Trikot aufgrund der Blessur überhaupt erst im März 2011 feiern konnte, versagt.

Dabei ist der junge und nach eigener Aussage damals ziemlich unreife Carroll noch nicht bereit für diesen Schritt, "ganz und gar nicht". Was ihn beim Traditionsklub erwartet, weiß er übrigens auch nicht - und so googelt er sich im Heli mit Hilfe seines Beraters erst einmal die zukünftigen Kollegen zusammen: "Ich dachte: 'Ich kenne Stevie G (Steven Gerrard, Anm.d.Red), ich kenne Carragher. Wer noch?' Mein Berater musste es mir sagen. Ich habe überhaupt kein Fußball geschaut, deshalb hatte ich keine Ahnung."

Als Carroll in Liverpool eintrifft und kurz vor 23 Uhr einen Fünfeinhalbjahresvertrag unterschreibt, ist der wohl verrückteste Tag seines bisherigen Fußball-Lebens abgeschlossen. Der im Nachhinein nicht so leicht aufzulösen ist. Die offizielle Version aus Newcastle besagt etwa, dass Carroll ein Transfergesuch hinterlegt habe, weshalb man "schweren Herzens zugestimmt" habe. Comolli wiederum erklärt 2020 bei The Athletic, dass man sich schon am Vortag mit den Magpies auf einen Deal verständigt hatte, "aber als sie am nächsten Tag in der Zeitung von der Ablösesumme für Torres erfuhren, schlugen sie noch einmal fünf Millionen Pfund drauf."

Andy Carroll Liverpool

Wer auch immer die eigene Geschichte hier ein wenig geschönt hat: Am Ende des Tages hat Andy Carroll einen neuen Verein, und auf dem Rücken die alte Nummer 9 von Torres. Passender wäre im Nachhinein die ebenfalls freie Nummer 11 gewesen - so viele Tore sollte er in seinen 58 Pflichtspielen für die Reds nämlich erzielen.

Carroll bei Liverpool: Verletzungen, Alkohol, wenige Tore

Darunter waren auch extrem wichtige. So verbucht er im FA-Cup-Halbfinale im Derby gegen Everton den 2:1-Siegtreffer und ist auch im Endspiel gegen den FC Chelsea (1:2) erfolgreich. "Im Vergleich zu anderen Flops wie Aquilani, Balotelli oder Markovic hat er in ein paar wichtigen Spielen überzeugt", betont Neil Jones.

Diese Lichtblicke bleiben jedoch rar: Immer wieder wird der Sturmtank durch Verletzungen gestoppt, das Verhältnis zu Dalglish, der sein System nicht auf die Kopfballstärke seines Neuzugangs ausrichten will, ist früh vergiftet. Er habe in Liverpool nie eine "faire Chance" bekommen, klagt Carroll später. "Mit ihm zusammen kam Suarez, der viel besser war und zudem gesund blieb. Also hat der Klub sein Spiel auf Suarez zugeschnitten und eben nicht auf Carroll", sagt Jones.

Dass seine Zeit dort schon nach eineinhalb Jahren vorbei ist, hat Carroll sich aber auch selbst zuzuschreiben. So berichten Mitspieler von mangelndem Trainingseifer, dazu kommt seine Vorliebe für englische Pubs und deren hopfenhaltige Kaltgetränke. "Ich habe früher sehr viel getrunken", gesteht er 2017, "das bereue ich. Vielleicht hätte ich mich sonst auch nicht so oft verletzt."

Nach sechs Jahren bei West Ham United kehrt Carroll im Sommer 2019 zu seiner ersten Liebe zurück und unterschreibt in Newcastle. Der mehrfache Familienvater betont, er sei mittlerweile längst erwachsen geworden. So ganz unzufrieden ist er mit seiner Karriere nicht, sagt er. Das Fazit zum gescheiterten Liverpool-Intermezzo fällt jedoch kurz und knapp aus: "Das ist nie wirklich passiert."

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