Adriano ist ganz unten angekommen. Im Herbst 2016 kursierten Bilder im Internet, die das beweisen sollen - der ehemalige Superstar von Inter Mailand und der Selecao zurück in den Slums?!
Die Bilder sprechen eine eindeutige Sprache: Der Himmel ist bewölkt, die Temperaturen warm. Der Oberkörper ist frei, seine Tattoos an den Armen sind gut sichtbar. Er lehnt den Kopf in den Nacken. Der Barbier setzt im Deutschland-Trikot mit scharfem Messer zur Rasur an. Den Bart in Form bringen lassen, für einen Mann nichts Ungewöhnliches. So normal der Vorgang, so ungewöhnlich das große Ganze. Die Fassade, vor der Adriano, die Ex-Tormaschine Brasiliens sitzt, verfällt. Neben ihm stehen Schnapsflaschen, im Hintergrund, am Ende der Straße, bauen sich zig notdürftig zusammengeschusterte Schuppen auf.
"Europäer können sich gar nicht vorstellen, was dort abgeht. Lehmhäuser mit Pappdächern, keine Kanalisation und Zehnjährige, die mit Revolvern herumlaufen. Das ganze Leben dreht sich nur um Überfälle und Drogen", erzählte Adriano der SportWoche – vor 15 Jahren. Auf seinem Karrierehöhepunkt. Doch die Bilder, die von ihm im Netz kursierten sind nicht aus grauer Vorzeit.
Adriano Leite Ribeiro ist offenbar ganz unten angekommen – wieder. Einst aus den Favelas Rio de Janeiros emporgestiegen, die Welt in Staunen versetzt, ist er im Herbst 2016 wieder mitten in den Armenvierteln der brasilianischen Millionenstadt. Wie konnte seine Karriere so abstürzen?
Ein Schuss, der die Welt von Adriano dramatisch verändern sollte
Von vorne. Alles begann mit einem Schuss vor fast 28 Jahren. Ein Schuss der Adrianos Welt später für immer verändern sollte. Kein Schuss auf dem Platz, kein Tor, sondern pure Gewalt. März 1992. Aufruhr in der Vila Cruzeiro, einer der berüchtigtsten Armenviertel der Stadt über der die markante Jesus Statue thront. Die Polizei stürmt mal wieder das Viertel, will die dort operierenden Drogenbarone schwächen. Doch die organisierte Kriminalität hier zerschlagen zu wollen, ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Leute flüchten, die Schergen der Drogenbarone wehren sich gegen die Staatsgewalt. Es kommt zum Feuergefecht. Mittendrin: Der gerade einmal zehnjährige Adriano mit seinem Vater. Gerade auf der Flucht vor dem Kugelhagel trifft sein Vater eine Kugel in den Kopf. "Jener Tag veränderte mein Leben. Mit einem Schlag wurde ich erwachsen", erzählt Adriano Jahre später mit einer Träne im Auge gegenüber fifaworld.com.
Adriano und sein nur 17 Jahre älterer Vater. Eine innige Beziehung, die auch nach jenen Ereignissen in der Vila Cruzeiro weitergeht. Almir Ribeiro überlebte. Die Kugel bringt ihn nicht um – noch nicht. Die Kugel bleibt aber in seinem Schädel stecken. Warum der Schuss sein Leben verändern sollte? Das wird sich erst zehn Jahre später zeigen. Doch der Reihe nach.
Das Geld für die eigentlich nötigen Maßnahmen war nicht da, wie Adriano verriet: "Eine Operation konnten wir uns damals nicht leisten." Daher ist sein Ziel klar: Geld für die Operation zu verdienen. Womit? Mit Fußball!
Arquivo pessoal / DivulgaçãoAnfangs deutet bei seiner Zeit bei Flamengo allerdings wenig auf eine große Karriere hin. "Ich konnte bei ihm kein besonderes Talent erkennen. Er war zwar gut, aber nicht besser als seine Mitspieler", erinnert sich sein ehemaliger Jugendtrainer Luiz Antonio Torres im Magazin 11 Freunde . Er erklärte ihn gar zum atypischen Brasilianer: "Er wirkt schwerfällig, zu groß, wenig trickreich, er schwebt nicht wie die anderen großen Spieler Brasiliens."
Ist der Traum für Adriano schon mit 14 ausgeträumt?
Der Traum von der Karriere, dem Geld, das die Hilfe für seinen Vater sein kann, er scheint vorbei, bevor er überhaupt begonnen hat. Als Adriano 14 Jahre alt ist, erhält er seine letzte Chance in der Auswahlmannschaft – und schlägt voll ein. Der Coach stellt ihn zum ersten Mal nicht wie bislang in der Verteidigung auf den Platz, sondern in vorderster Front auf. Direkt ins Sturmzentrum. Die Rechnung geht auf, Adriano hat seine Position gefunden.
Und so sorgt der bullige Angreifer schnell für Furore. 1999 schoss er die U17 der Selecao zum WM-Titel, ein Jahr später trifft er bei seinem Debüt für die erste Mannschaft Flamengos bereits nach fünf Minuten und bereitet in der Partie gleich drei weitere Treffer vor. Die Premierensaison in der brasilianischen Beletage läuft überragend. So überragend, dass er die zweite gar nicht zu Ende spielen sollte.
Auch Europa bleibt die Entwicklung Adrianos nicht verborgen. Die Klubs stehen Schlange und er entscheidet sich für Italien. Sein Ziel? Mailand. Der Grund? Einfach. Bei Inter steht Ronaldo unter Vertrag, verbreitet dort in gegnerischen Strafräumen Angst und Schrecken. Adriano will an seiner Seite spielen. An der Seite von einem, der ihn versteht. Nicht nur verbal, sondern auch sein Leben.
Auf Anhieb klappt die Integration bei den Nerazzurri, die sieben Millionen Euro für ihn auf den Tisch legen, nicht. Er wird verliehen, nach Florenz und gleich danach nach Parma. Hier reift Adriano zu einem überragenden Angreifer. Zu einem, der wie sein Idol Angst und Schrecken verbreitet. Seine Familie hat er dabei stetig im Kopf, das Geld für die nötige Operation ist längst verdient. Aber: "Als ich das Geld dafür hatte, traute mein Vater sich nicht."
Adriano ist im Himmel angekommen – aber nicht lange
2004 kehrt Adriano nach Mailand zurück, Ronaldo ist weg, spielt mittlerweile bei den Galaktischen in Madrid und Adriano ballert sich endgültig an die Weltspitze. 28 Tore in 42 Spielen für Inter, Welttorjäger und Torschützenkönig sowie bester Spieler beim Confed-Cup 2005 in Deutschland. Der Junge aus der Favela ist der komplette Stürmer: Er ist schnell, kopfballstark, besitzt eine unglaubliche Wucht, ist ein guter Techniker und sein Schuss gleicht einer Rakete.
Er lebt das Märchen, das alle lieben: Vom Niemand zum überall gefeierten Star. Der Stoff aus dem die Träume sind eben. In seiner Heimat ist vor allem eines klar: Der Imperator, wie er mittlerweile ob seiner Dominanz in gegnerischen Strafräumen genannt wird, beschert der Selecao bei der WM in Deutschland den sechsten Stern. Er ist im Himmel angekommen.
Doch es kommt anders. Im Himmel ist Endstation, es geht wieder zurück. Adriano hat plötzlich seinen Instinkt verloren, vergeigt die einfachsten Chancen, spielt eine allenfalls durchschnittliche Saison. Bei der WM-Endrunde in Deutschland erzielt er zwar zwei Tore, scheitert aber mit Brasilien im Viertelfinale an Zinedine Zidane und Co.
Zurück im Verein kommt er gar nicht mehr in die Spur. 200 Tage bleibt er ohne Torerfolg. Der Imperator ist am Boden. Von den Tifosi bekommt er die Goldene Kanne überreicht – eine Auszeichnung für den schlechtesten Profi der Serie A. Erst im Oktober 2006 kommt der Grund für die Abwärtsspirale an die Öffentlichkeit. Was war geschehen? Der Schuss, der sein Leben verändern sollte, hat seine Wirkung gezeigt.
Da ist er wieder, der Schuss - die Ereignisse aus der Kindheit holen Adriano ein
Die grausamen Ereignisse aus seiner Kindheit in Rios Favela holten ihn wieder ein. Sein Vater verstarb zwar schon 2004 an den Folgen des Kopfschusses, die erste Phase der Trauer konnte er noch bewältigen. Weiter trainieren, Tore schießen. Doch spätestens nach der WM fällt er endgültig in ein tiefes Loch. Daran kann auch die Geburt seines Sohnes, Adriano Junior, nichts mehr ändern.
"All meine Probleme ertrank ich in Flüssen von Alkohol . Zu Hause bleiben, war für mich unmöglich. Alleine im Dunkeln schlafen konnte ich nicht", verriet er 2008 dem kicker . Inter versucht alles, seinen Goalgetter wieder aufzupäppeln, schickt ihn nach Brasilien. In einer Spezialbehandlung soll er seine Depressionen in den Griff kriegen. Seiner enormen Gewichtszunahme, Adriano wog nun ein gutes Stück über 100 Kilogramm, soll mit einem persönlichen Konditionstrainer Einhalt geboten werden. Mit Javier Zanetti will ihm auch ein Inter-Mitspieler helfen .
GoalDoch es hilft alles nichts. Zu seinen persönlichen Problemen reihen scharenweise Undisziplinierten ein. Nach einem WM-Qualifikationsspiel Brasiliens Anfang 2009 taucht er ab , ist für Trainer, Klub und Co. nicht mehr auffindbar. In den Medien wird wild spekuliert: Adriano wurde in einer Favela in Rio ermordet, Adriano wurde entführt, waren sicherlich zwei der wilderen Mutmaßungen.
Dann meldet sich der gefallene Imperator selbst zu Wort: "Ich werde eine Auszeit nehmen, weil ich die Lust am Spielen verloren habe. Ich möchte im Moment hier in Brasilien in Frieden leben." Zu Inter will er eigentlich nicht mehr zurück und Inter wollte ihn nicht mehr – bis Jose Mourinho das Ruder beim Klub aus der Lombardei übernimmt. Nach einer Pause und einem Gastspiel in Sao Paulo kehrt er schließlich doch zu den Nerazzurri zurück . Aber auch The Special One verzweifelt an Adriano. Als er wieder einmal von einem Länderspiel nicht zurückkommt, platzt Mou der Kragen – Adriano wird aussortiert .
Das Maschinengewehr wirft Adriano aus der Selecao
Den Fußball will er aber nicht aufgeben und erlebt in seiner Heimat eine erneute Blüte. Nationaltrainer Carlos Dunga erwägt sogar, ihn zur WM 2010 mitzunehmen. Kurz vor der Nominierung streicht ihn der Coach aus seinen Überlegungen. Der Lebenswandel des Angreifers genügt ihm nicht. Immer wieder ist Adriano in Schlägereien, Drogengeschichten involviert und im Internet kursiert ein Bild von ihm, wie er in Vila Cruzeiro mit einem Maschinengewehr posiert.
Das ist der finale Schlag – in die Spur kommt er künftig nicht mehr. Bei einer Kurzleihe zum AS Rom scheitert genauso wie bei Corinthians, Flamengo, Atletico PR oder bei seiner letzten Station, Miami United. Überall fällt er mit Undiszipliniertheiten oder Ausflügen ins Nachtleben auf.
Adriano ist heute 38 Jahre alt und erlangte vor mehr als elf Jahren Weltruhm. Seine Geschichte gleicht dem eines Hollywood-Dramas. Das Ende? Noch offen. Sein Ruhm ist zwar verblasst, vergessen ist er aber nicht.
Alle Welt kennt ihn, für viele war er ein Held der Kindertage. Die Tage, die sich viele im späteren Leben wieder zurückwünschen. Die Tage, in denen alles leicht und unbeschwert erschien. Vielleicht ist Adriano auch deshalb wieder zurück in seiner Favela - der Ort seiner Kindheit, wo die Erinnerungen überall kleben.
Ob er seinen Karriereverlauf bereut, während auf dem Stuhl sitzt und ihm der Bart getrimmt wird? Richtig unglücklich sieht er auf dem Bild irgendwie nicht aus. Und auch auf seinem Instagram-Kanal zeigt er glückliche Bilder - auch aus der Favela, zu der er nie den Bezug verloren hat.
In den letzten Jahren machte Adriano wieder mit positiven Meldungen auf sich aufmerksam, wieder trainieren wolle er und sich als Schauspieler versuchen. Außerdem soll sein Leben verfilmt werden. Es geht bergauf, und man kann nicht mehr sagen: Adriano ist ganz unten angekommen.
*Diese Geschichte erschien erstmals im September 2016