HINTERGRUND
Stefano Pioli schritt im eleganten Maßanzug auf den Platz, ließ keinen seiner Schützlinge aus, herzte sie allesamt, nacheinander. Zu guter Letzt musste sich der Milan-Trainer ein wenig strecken, 1,95-Meter-Schrank Zlatan Ibrahimovic bekam ebenfalls eine Umarmung.
Selbstverständlich. Ibra, der 39-Jährige, der nimmermüde Schwede, zeichnete verantwortlich, dass sein Coach auf einer Wolke der Glückseligkeit schwebte. Wenige Augenblicke zuvor war das Derby della Madonnina, eines der legendärsten Erzrivalen-Duelle des Weltfußballs, für beendet erklärt worden. Die AC Mailand hatte gegen Inter mit 2:1 gewonnen, Ibrahimovic dabei beide Treffer beigesteuert.
Getty ImagesQuelle: Getty ImagesEs war der erste Liga-Derby-Sieg der Rossoneri seit mehr als vier Jahren, in der jüngeren Vergangenheit hatte man sich dem missliebigen Kontrahenten regelmäßig beugen müssen. Grund genug für Ibrahimovic, schnell noch eine kleine Spitze in Richtung Nerazzurri, speziell gen Inter-Angreifer Romelu Lukaku zu schicken.
Zlatan Ibrahimovic stichelt gegen Inter-Star Romelu Lukaku
"Mailand hatte nie einen König, es hat einen Gott", schrieb er auf seinen Social-Media-Kanälen. Hintergrund: Ibrahimovic, nie um eine Selbstverherrlichung verlegen, hatte sich einst als König der Modestadt bezeichnet, Lukaku ebenjenen Titel nach dem letzten Derby (4:2 zugunsten Inters) für sich beansprucht. Ein Feuerwerk der Eitelkeiten.
Milans Triumph gegen Inter nach Jahren des Darbens stand indes sinnbildlich für die jüngste Entwicklung des stolzen Traditionsklubs, der in der Vergangenheit massiv an Glanz und Glamour der 1990er und frühen 2000er eingebüßt hatte, ja sogar bisweilen zur grauen Maus verkommen war.
AC Milan 2020/21: Weiße Weste nach vier Spielen
Mit vier Dreiern aus den ersten vier Serie-A-Partien grüßt Piolis Mannschaft aktuell vom tabellarischen Platz an der Sonne, am kommenden Wochenende hat Milan gegen die AS Rom die Möglichkeit, erstmals seit 1992 fünf Siege zum Liga-Start einzutüten. Insgesamt hat die Corona-Pause den Lombarden allem Anschein nach in die Karten gespielt, die letzte Niederlage setzte es am 8. März, also kurz bevor die Pandemie sämtliche Spitzenligen monatelang lahmlegte.
Seit Juni rollt die Kugel auch in Italien wieder – und Milan mit erfrischendem Offensivfußball über seine Gegner hinweg. Seit wettbewerbsübergreifend 20 Spielen vermochte es kein Team mehr, die Pioli-Truppe zu schlagen, vier Unentschieden stehen beeindruckende 16 Siege gegenüber. Schon Ende Juli hatte der Beginn des Mailänder Laufs (sieben Siege, zwei Remis) dazu geführt, dass Piolis Vertrag verlängert wurde.
GettyDarauf hatte zwischenzeitlich allerdings nicht vieles hingedeutet. Ralf Rangnick galt als aussichtsreicher Kandidat auf Piolis Posten, zudem sollte der RB-Leipzig-Macher auch das Amt des Sportdirektors bekleiden.
AC Milan buhlte um Ralf Rangnick
Bereits im November vergangenen Jahres, lediglich einen Monat nachdem Pioli das Zepter übernommen hatte, habe es Rangnick zufolge Kontakt gegeben. Piolis Bilanz sah seinerzeit düster aus. Nur ein knapper Sieg gegen den späteren Absteiger SPAL gelang, ansonsten standen drei Niederlagen und zwei Remis zu Buche. Platz 14 in der Tabelle, der Inbegriff der Bedeutungslosigkeit.
Rangnick begann sogar, Italienisch zu lernen. Die Verhandlungen liefen mit CEO Ivan Gazidis und Vertretern des US-amerikanischen Hedgefonds Elliott, der seit 2018 die Mehrheitsanteile an Milan hält. Während der Corona-Pause häuften sich die Meldungen, ein Rangnick-Engagement bei der verblassten Diva sei nur noch Formsache. Der 62-Jährige sollte den Wandel herbeiführen, doch stattdessen führte er Gespräche, die wiederum zu keiner Einigung führten.
Paolo Maldini: Rangnick respektlos
Es soll um Macht gegangen sein, Paolo Maldini, Milans Ikone, die Ibrahimovic in puncto Gottgleichheit sicherlich Konkurrenz machen dürfte, hatte als Erster gegen Rangnicks Ambitionen geschossen. Respektlos, wie "ein Platzsturm" seien die Forderungen des Deutschen, sagte der AC-Manager.
imago images / LaPresseZvonimir Boban (l.) und Paolo Maldini, Quelle: imago images / LaPresseMaldinis Assistent Zvonimir Boban, ebenfalls mit hochdekorierter Milan-Vergangenheit, musste seinen Posten bereits im März räumen, weil er das nicht sonderlich subtile Rangnick-Umgarnen der Klubspitze kritisiert hatte. Auch aus dem Spielerlager rührte sich Widerstand gegen Milans Pläne, Rangnick als allmächtigen Strippenzieher zu installieren.
Ibrahimovic vs. Rangnick: "Ich weiß nicht, wer das sein soll"
Allen voran Ibrahimovic, der damals noch um einen neuen Vertrag buhlte und seine Chancen darauf unter Rangnick schwinden sah, protestierte auf seine Art. "Wer ist Rangnick? Ich weiß nicht, wer das sein soll", tönte der Routinier im Juli, ehe eine Verpflichtung des Schwaben offiziell vom Tisch war und Piolis Arbeitspapier verlängert wurde.
Glück für Ibrahimovic. "Ich arbeite für das Wachstum. Jüngere Spieler lernen viel schneller. Es ist nicht mein Stil, auf 38 Jahre alte Spieler zu setzen", hatte Rangnick im Gespräch mit der Gazzetta dello Sport verraten, nachdem sein Wechsel nach Italien geplatzt war. "Nicht, weil sie nicht gut sind – Ibrahimovic ist es –, sondern weil ich es bevorzuge, Talente zu entwickeln."
Verjüngungskur bei Milan
Tatsächlich haperte es bei Milan daran in den vergangenen Jahren extrem: In die Jahre gekommene, satte Stars wurden für teilweise viel Geld geholt, der Jugend, insbesondere der eigenen (mit Ausnahme von Torwart-Juwel Gianluigi Donnarumma) kaum eine Chance eingeräumt. Das Resultat: biederer Fußball, kein Fortschritt, das internationale Parkett oftmals meilenweit entfernt.
imago images / LaPresseJens Petter Hauge, Quelle: imago images / LaPresseAnders als viele seiner Vorgänger ist Ibrahimovic jedoch mitnichten satt, ganz im Gegenteil. Der Oldie fungiert als Anführer, als mal garstiger, mal liebevoller Opa für die Jugend. Ja, die Jugend, Milan setzt endlich wieder vermehrt auf Talente.
Im Sommer gab der Klub einige Altgediente wie beispielsweise Lucas Biglia oder Giacomo Bonaventura ab, im Gegenzug verstärkten verheißungsvolle Youngster wie der umworbene Jens Petter Hauge aus Norwegen (20, 3,5 Millionen, Bodo/Glimt), Alexis Saelemaekers (21, Anderlecht, feste Verpflichtung nach Leihe), Brahim Diaz (21, Leihe, Real Madrid), Daniel Maldini (18, eigene Jugend) oder Lorenzo Colombo (18, eigene Jugend) die Mannschaft.
Sandro Tonali als Königstransfer
Als größter Coup für die Mailänder dürfte jedoch die Verpflichtung Sandro Tonalis gelten. Der 20-Jährige, der mit nahezu sämtlichen Schwergewichten Europas in Verbindung gebracht wurde, angeblich Avancen des FC Barcelona und Manchester Uniteds abblockte, kam zunächst auf Leihbasis von Brescia Calcio. In der kommenden Saison soll eine feste Verpflichtung folgen, Milan besitzt eine Kaufoption.
(C)Getty ImagesQuelle: Getty ImagesNicht nur aus sportlicher Sicht ist die Tatsache, mit Tonali eines der vielversprechendsten Talente überhaupt ins rot-schwarze Lager gelockt zu haben, prestigeträchtig. Dem Vernehmen nach soll der Nationalspieler schon mit einem Bein bei Inter gewesen sein, bevor er Milan sein Wort gab. Er hätte "alle anderen Türen" sofort geschlossen, verriet Tonali im Anschluss an seinen Wechsel. "Ich musste einfach zu Milan gehen. Schon lange will ich dieses Trikot tragen."
Es sieht so aus, als würden sich die Triumphe über den Nachbarn mittlerweile häufen. Vielleicht nicht nur das – vielleicht verhilft die Mischung aus Jugend, Ibra und Pioli dem Klub auch mit Blick auf Europa zu altem, in Vergessenheit geratenem Glanz.
