Aktuell betreut der 50-Jährige bereits zum dritten Mal die Münchner Reserve, zuvor kümmerte er sich zeitweise auch um die U17 und die U19 und fungierte zudem als Leiter der Nachwuchsabteilung. In den vergangenen Jahren gelang etlichen Münchner Talenten der Sprung in den Profifußball - den meisten aber nicht beim FC Bayern. Trainer Vincent Kompany geriet zuletzt in die Kritik, weil er den Eigengewächsen vermeintlich zu wenig Spielzeiten gibt.
Imago"Wir liefern!" Holger Seitz bezieht in der Nachwuchs-Debatte des FC Bayern München klar Stellung
Herr Seitz, Sie sind seit genau zehn Jahren im Nachwuchsbereich des FC Bayern tätig. Was war der schönste Moment?
Holger Seitz: Als der Schiedsrichter das entscheidende Relegationsspiel 2019 gegen den VfL Wolfsburg II abgepfiffen hat und wir mit der zweiten Mannschaft in die 3. Liga aufgestiegen sind. Dann der Jubel mit den Fans und den Profis, die vor Ort mitgefiebert haben. Das war rundum schön.
In der darauffolgenden Saison hat Sebastian Hoeneß das Traineramt übernommen und sensationell die 3. Liga gewonnen. Haben Sie nach dem Aufstieg geahnt, was möglich ist?
Seitz: Damit hat keiner gerechnet. Nach einem schwierigen Saisonstart hat die Mannschaft erst im Laufe der Saison eine ganz neue Dynamik, ein Selbstverständnis des Gewinnens entwickelt. Dann war sie nicht mehr aufzuhalten.
Auf den Meistertitel folgte der Abstieg. Nun starten Sie mit der Reserve in die fünfte Regionalliga-Saison in Folge. Ist der Aufstieg das Ziel?
Seitz: Natürlich wollen wir uns in der Tabelle vorne bemerkbar machen. Aber das übergeordnete Ziel lautet, Spieler für ihren nächsten individuellen Entwicklungsschritt vorzubereiten. Das ist unsere Philosophie.
Ist die Regionalliga förderlich für die Entwicklung von Toptalenten?
Seitz: Ja. Sie bietet Aspekte, die in der A-Jugend-Nachwuchsrunde fehlen. Dort sind die Spiele eher taktisch geprägt, was auch einen hohen Ausbildungswert hat. In der Regionalliga geht es aber intensiver und physischer zu, jeder Zweikampf ist eine Herausforderung. Diesen Push brauchen junge Talente.
ImagoHolger Seitz lobt die Arbeit am Campus des FC Bayern München
Sie haben im Laufe der Jahre mit etlichen späteren Profis gearbeitet: Jamal Musiala, Angelo Stiller, Joshua Zirkzee, Josip Stanisic, Malik Tillman, Aleksandar Pavlovic, um nur ein paar zu nennen. Welches Talent hat Sie in der Jugend am meisten beeindruckt?
Seitz: Die Liste ist lang. Jamal Musiala hatte damals schon unglaubliche Bewegungen drauf, hat aber noch Zeit gebraucht. Joshua Zirkzee war auch besonders, aber ihm hat damals noch ein wenig der letzte Biss gefehlt. Angelo Stiller war in allen U-Mannschaften durchgängig der unumstrittene Taktgeber und hat sich auch in komplizierten Spielsituationen immer gezeigt.
Bei den Profis bekam er unter Trainer Hansi Flick keine echte Chance. Nach dem Meistertitel in der 3. Liga wurden 2020 stattdessen Marc Roca und Tiago Dantas verpflichtet. Stiller verweigerte eine Vertragsverlängerung und verabschiedete sich 2021 ablösefrei.
Seitz: Ich finde es schade, dass wir Angelo nicht halten konnten. Aber er hat seinen Weg gemacht – und auch wenn er heute nicht mehr bei uns ist, ist er ein weiteres herausragendes Beispiel für die Nachwuchsarbeit am Campus.
Wie haben Sie ihn nach diesem Transfer-Nackenschlag erlebt?
Seitz: Sehr professionell. Er hat es hinbekommen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: seine Leistung auf dem Platz. Angelo ist grundsätzlich mental sehr stabil und kann mit Stresssituationen gut umgehen. Auch in der Bundesliga hat er von der ersten Sekunde an sein Spiel auf den Platz gebracht.
Stiller ist mittlerweile Stammspieler beim VfB Stuttgart. Auch etliche andere Campus-Absolventen haben in der Fremde Karriere gemacht. Zirkzee bei Manchester United, Tillman wechselte jüngst zu Bayer Leverkusen, Kenan Yildiz spielt für Juventus Turin. Sind Sie eher stolz darauf? Oder traurig, dass sie nicht beim FC Bayern spielen?
Seitz: Sie alle hatten das Zeug für die Bayern-Profis. Ob sie sich hier auch tatsächlich durchgesetzt hätten, ist eine andere Frage. In erster Linie macht es mich stolz, dass wir so viele internationale Topspieler entwickeln. Ich sehe unseren Campus absolut auf dem richtigen Weg. Wir liefern! Fast jeder zweite unserer Absolventen wird Profi. Das ist ein Fakt. Und dazu muss man sich nur die heutigen Marktwerte unserer ehemaligen Nachwuchsspieler seit Campus-Eröffnung anschauen. Die bereits genannten Musiala, Stanisic, Pavlovic, Stiller, Yildiz, Zirkzee, Tillman, dazu Bene Hollerbach, Chris Richards, Nicolas Kühn und so weiter haben alle im Profifußball ihren Marktwert teilweise massiv gesteigert.
Mit dem Verkauf von Spielern der 2020er Meistermannschaft hat der FC Bayern bis dato 64 Millionen Euro eingenommen.
Seitz: (schmunzelt) Diese Zahl haben Sie genannt, wir kommentieren solche Beträge nicht - aber es ist eine stolze Summe, die da allein mit eigens entwickelten Talenten zusammengekommen ist.
ImagoHolger Seitz: "Gerade weil er nicht aalglatt ist, spielt Hollerbach in der Bundesliga"
Andere europäische Topklubs schaffen es aktuell aber besser, Eigengewächse in die Profimannschaft zu integrieren. Vor allem der FC Barcelona mit Lamine Yamal, Gavi, Pau Cubarsi oder Alejandro Balde. Was macht Barca besser?
Seitz: Wir sind genauestens informiert über die Ausbildungsphilosophien von Barca und allen anderen europäischen Topklubs. Aktuell schauen wir auch viel in die USA, da gibt es mit Blick auf die WM 2026 spannende Entwicklungen. Im internationalen Vergleich sehen wir unsere Ausbildung am Campus auf Topniveau. Wie in der Vergangenheit traue ich auch aktuell einigen Campus-Spielern zu, dass sie sich bei unseren Profis etablieren können. Sie klopfen oben laut an. Und die Tür ist offen, hat Christoph Freund kürzlich gesagt. Wir sind alle gespannt, ob sie dann auch durchgehen. Ich hoffe, dass sie ihre Chance nutzen werden.
An wen denken Sie konkret?
Seitz: Da möchte ich keinen einzelnen Namen nennen.
Am meisten gesprochen wird aktuell über Lennart Karl. Was ist der Plan mit ihm?
Seitz: Das Ziel ist, dass Lennart bei den Profis dabei ist und Einsatzzeiten bekommen soll. Situativ könnte er auch bei mir in der Regionalliga und sogar in der U19 spielen. Er ist gerade mal 17 Jahre alt.
Was zeichnet Karl aus?
Seitz: Dass er Spiele entscheiden kann. Das hat er bisher überall gezeigt - in der U17, in der U19 und auch in den Junioren-Nationalmannschaften. Zudem arbeitet er immer mehr fleißig nach hinten mit. Er lernt regelmäßig dazu.
Neben Karl gilt Adam Aznou als besonders vielversprechendes Talent. Sie haben ihn über einen längeren Zeitraum trainiert, jetzt wechselt er zum FC Everton.
Seitz: Adam ist ein begabter Spieler mit einem besonderen Temperament. Er hat sich bei uns stetig weiterentwickelt und es beim FC Bayern zum Nationalspieler seines Heimatlandes Marokko geschafft. Sein oberstes Ziel war jetzt die WM im kommenden Jahr. Das möchte er in Everton erreichen.
Welches Talent hat Sie in Ihrer bisherigen Zeit im Bayern-Nachwuchs als Typ am meisten beeindruckt?
Seitz: Da fallen mir zwei ein: Einerseits Flavius Daniliuc. Er war völlig klar im Kopf. Aus der Ferne betrachtet finde ich es schade, dass er so viele Wechsel hatte und offenbar noch nirgendwo richtig heimisch geworden ist. Und Bene Hollerbach. Er ist im positiven Sinne besonders. Besondere Typen wie ihn muss man eng begleiten. Man darf aber nicht versuchen, sie zu verändern. Gerade aufgrund seiner Persönlichkeit und weil er nicht aalglatt ist, spielt Bene in der Bundesliga. Er gibt immer alles, ist immer auf Sendung, immer am Limit unterwegs, wahnsinnig schnell im Kopf. Kein Innenverteidiger verteidigt gerne gegen ihn.
Mittlerweile spielt Hollerbach für den FSV Mainz 05, München hat er einst in der U19 zum VfB Stuttgart verlassen. Warum?
Seitz: Er hatte starke Konkurrenz und wollte die Chance in Stuttgart nutzen. Das war alles einvernehmlich.
Imago"Aleks ist ein perfektes Gegenbeispiel": Pavlovics Weg zu den Profis des FC Bayern
Mit welchem Talent war es in all den Jahren am lustigsten?
Seitz: Nestory Irankunda hat mit seiner positiven Art immer eine unglaubliche Freude ausgestrahlt. Er ist damals mit 18 Jahren aus Australien in eine ganz andere Welt gekommen. Man hat gemerkt, dass er sich erst akklimatisieren muss. Er hatte brutal viel positive Energie - auf und neben dem Platz. Ich hoffe für ihn, dass sein Wechsel zum FC Watford funktioniert.
Und welches Talent hat aus Ihrer Sicht die beeindruckendste Entwicklung hingelegt?
Seitz: Das ist leicht: Aleks Pavlovic. Er hat sich Schritt für Schritt weiterentwickelt und es so bis zu den Profis geschafft. Er ist extrem fleißig, hört zu, ist offen für Hinweise, hat trotzdem eine klare Meinung, ist stabil in seiner Persönlichkeit und hat mit seinen Eltern und seinen Beratern ein herausragendes Umfeld. Ich habe das Gefühl, dass viele junge Spieler heutzutage zu ungeduldig, zu gehetzt sind. Teilweise wird diese Ungeduld von Eltern oder Beratern forciert. Das ist nicht leistungsförderlich. Aleks ist ein perfektes Gegenbeispiel. Bei ihm ist alles genau so, wie man es sich im Idealfall wünscht.
Ab welchem Alter sollten junge Talente Ihrer Meinung nach Berater engagieren?
Seitz: Ab dem Leistungsbereich, also ab der U17. Dann prasselt viel mehr auf die Spieler ein. Da erachte ich es als hilfreich, wenn sie jemanden mit Erfahrung in Sachen Karriereplanung an der Seite haben.
Wie intensiv tauschen Sie sich mit den Beratern Ihrer Spieler aus?
Seitz: Es ist ein permanenter Prozess, den ich auch wichtig finde, um über alles informiert zu sein. Intensiver wird es immer im Frühling, so ab März mit Blick auf die Transferphase.
Haben Sie schon negative Erfahrungen mit Beratern gemacht?
Seitz: Ja. Ich stelle manchmal fest, dass es einem Berater nicht um die Karriereplanung des Spielers geht, sondern nur um das eigene finanzielle Interesse.
Suchen Sie in so einem Fall das Gespräch mit dem jeweiligen Spieler?
Seitz: Nein. Es ist nicht meine Aufgabe, diesbezüglich proaktiv zu kommunizieren. Aber wenn ich danach gefragt werde, würde ich meine ehrliche Meinung abgeben.
ImagoAustausch mit Kompany? "Wir werden zur neuen Saison einen Jour fixe haben"
Kommen wir zu einem anderen Austausch: Wie eng ist Ihr Draht zu Profi-Trainer Vincent Kompany?
Seitz: Wir werden zur neuen Saison einen Jour fixe haben, in dem wir uns über alle gemeinsamen Themen austauschen werden. Speziell über die Spieler, die in seiner und meiner Mannschaft aktiv sind. Das wird uns in der Entwicklung unserer Talente im Übergangsbereich sehr weiterhelfen.
Bei den Profis gab es in den vergangenen Jahren etliche Trainerwechsel: Hansi Flick, Julian Nagelsmann, Thomas Tuchel, jetzt Kompany. Ändert sich dadurch etwas für die Arbeit im Nachwuchsbereich?
Seitz: Nein, unabhängig vom aktuellen Profi-Trainer befolgen wir am Campus unsere Spiel- und Ausbildungsphilosophie: Spielkontrolle in Ballbesitz und schnelle Balleroberungen bei gegnerischem Ballbesitz. Dazu wollen wir das Mia san mia ausstrahlen. Natürlich beobachten wir auch Einheiten der Profis und versuchen so, neue Impulse für unsere eigene Trainingsgestaltung zu bekommen. Da geht es aber um Nuancen, nicht um das große Ganze. Bei Vincent finde ich es befruchtend, wie viele Erfahrungen aus seiner eigenen Spielerzeit er einfließen lässt.
Sie sprechen das Mia san mia an. Was bedeutet dieser Slogan für Sie?
Seitz: Bodenständigkeit und Demut, ans Limit gehen, dem Gegner respektvoll begegnen, Selbstvertrauen durch harte Arbeit, volle Überzeugung in sich und darin, jedes Spiel zu gewinnen. Das Mia san mia kann nicht eingeimpft werden, es muss von innen herauskommen.
Welches Talent, mit dem Sie zusammengearbeitet haben, hat das Mia san mia am besten verkörpert?
Seitz: Da gibt es viele. Die bereits genannten Bene, Angelo und Aleks. Ein gutes Beispiel ist auch Frans Krätzig. Egal ob in guten Zeiten oder als er lange verletzt raus war: Frans lebt das Mia san Mia mit voller Überzeugung und ist damit bis heute gut gefahren.
Imago"Du bist zu langsam, Seitz": Holger Seitz scheiterte beim FC Bayern im Probetraining
Eine lange Verletzungshistorie liegt auch hinter Tarek Buchmann. Zwei Jahre lang fiel er aufgrund verschiedener Blessuren aus. Neulich hat er wieder einmal einen Comeback-Versuch gestartet. Wie erleben Sie ihn?
Seitz: In so einem Fall geht es darum, die einzelnen Verletzungen gemeinsam mit den Ärzten zu analysieren und dann sofort nach vorne zu schauen. Das macht er top. Aktuell ist Tarek gut in der Spur und strahlt Zuversicht aus. Ich traue ihm die Bundesliga immer noch zu. Er hat besondere Fähigkeiten und ist vom Kopf her völlig klar. Wegen seiner Verletzungen dauert es jetzt halt ein bisschen länger.
Bei Ihnen persönlich hat es einst nicht ganz für die Bundesliga gereicht. Von 1996 bis 2000 haben Sie für die Reserve des FC Bayern gespielt. Wie weit waren Sie von Profieinsätzen entfernt?
Seitz: Lichtjahre! (lacht) Ich habe aber immerhin das eine oder andere Mal bei den Profis mittrainiert und bin sogar bei einem Testspiel in Lohhof aufgelaufen. An meine allererste Einheit kann ich mich noch genau erinnern. Vor dem Training habe ich mit Schweißhänden an die Kabinentür geklopft. Genau in dem Moment kam Lothar Matthäus vorbei und hat mich gefragt, wer ich bin. Dann hat er mich buchstäblich an der Hand genommen, in die Kabine geführt und allen vorgestellt. Das war ein prägender Moment für mich. Ich denke mit großem Stolz an diese Zeit zurück. Und es hilft mir bis heute, weil ich mich dank dieser Erfahrungen in meine Spieler noch besser einfühlen kann.
Sie sind im Alter von 22 Jahren von der SpVgg Fürth zur Reserve des FC Bayern gewechselt. Wie kam es?
Seitz: Trainer Rainer Ulrich suchte damals einen Nachfolger von Hansi Pflügler, als Routinier ist er vorher eine Stütze der Mannschaft gewesen. Ich war damals schon Führungsspieler in Fürth und hatte eine ordentliche Mentalität. Als das Angebot kam, wäre ich auch zu Fuß von Fürth nach München marschiert. Tatsächlich hatte ich einige Jahre vorher schon ein Probetraining bei Bayern: Hermann Gerland hatte mich beim SV Pocking im tiefsten Niederbayern entdeckt und eingeladen. Nach dem Probetraining hat er aber ganz offen gesagt: Alles okay, aber du bist zu langsam, Seitz, das reicht nicht! Hermann sollte recht behalten. Hart aber ehrlich.

