Mats Hummels wusste nicht so recht, wie er diesen Auftritt seines Ex- und Herzensklubs Borussia Dortmund zum Champions-League-Start bei Juventus Turin final bewerten sollte. "Ich finde, es war eigentlich eine sehr erwachsene Leistung - bis in die Nachspielzeit hinein", analysierte Hummels nach dem wilden 4:4 (0:0) des BVB bei seinem ersten Einsatz als TV-Experte bei Prime. "Die Nachspielzeit verändert dann natürlich die Storyline des Spiels, das wir eben eigentlich nach 90 Minuten gefühlt schon anders besprochen hatten."
Getty Images"Wir haben uns ein bisschen verarscht": Der besondere Moment zwischen BVB-Star Karim Adeyemi und Juves Kenan Yildiz - und was dahintersteckt
Erwachsen war schon die erste Halbzeit der Dortmunder an diesem Dienstagabend in Turin - auch wenn in den 45 Minuten bis zum Seitenwechsel wirklich sehr, sehr wenig passierte. Einen ernsthaften Torabschluss hatte der BVB in Hälfte eins nicht - aber es waren die Gäste, die das Geschehen kontrollierten. Dortmund hatte deutlich mehr Ballbesitz, verteidigte gut und zumeist sehr effektiv im Verbund, kam auch mit der hitzigen Atmosphäre problemlos zurecht.
"Ich muss der Mannschaft ein Kompliment aussprechen. Vor diesen heißblütigen Fans hier so aufzutreten und auch so eine gute erste Halbzeit zu spielen. Wir haben zwar nicht viel kreiert nach vorne, aber das Spiel kontrolliert", lobte Trainer Niko Kovac hinterher bei Prime. Für den zweiten Durchgang habe man sich dann vorgenommen "mehr ins letzte Drittel zu kommen und auch mal aufs Tor zu schießen". Und seine Spieler lieferten: Kurz nach Wiederanpfiff hatte Maximilian Beier die erste echte Dortmunder Torchance, kurz darauf traf Karim Adeyemi per fulminantem Abschluss zur Führung.
Dass Adeyemi netzte, passte. Der 23-Jährige war schon in der ersten Halbzeit der auffälligste BVB-Akteur, zeigte offensiv zumindest gute Ansätze und präsentierte sich in den Zweikämpfen enorm bissig und griffig. Nicht umsonst wurde Adeyemi zum Man of the Match gewählt, nach der Partie ordnete er ein: "Das Spiel müssen wir zu hundert Prozent gewinnen, dürfen am Ende nichts mehr anbrennen lassen. Wir sind enttäuscht."
Gemeinsam mit Juve-Star Kenan Yildiz sorgte Adeyemi auch für eine der vielen kleinen Geschichten, die die zweiten 45 Minuten in Turin parat hielten. Nach Yildiz' traumhaftem Treffer zum 1:1 flachsten die beiden Ex-Bayern-Jugendspieler am Mittelkreis miteinander: "Wir kennen uns, ich war mit ihm auf der Schule. Wir haben uns ein bisschen verarscht: Ich habe ihm gesagt, er soll kein Tor mehr machen und am besten nicht mehr nach hinten laufen", verriet Adeyemi. "Ein paar Späße auf türkisch", habe jener ihm zugeworfen, ergänzte Yildiz und führte aus: "Er kann ja paar Wörter und spricht da gefühlt manchmal besser als ich. Wir waren ja auf der gleichen Schule in Unterhaching, er war natürlich paar Klassen über mir. Damals habe ich auf ihn hoch geschaut und er war so ein kleines Vorbild."
GettyBVB: Felix Nmecha geadelt, Hexer Gregor Kobel gefrustet
Dortmunds Reaktion auf Yildiz' Ausgleichstreffer war derweil auch sehr erwachsen. Denn nur zwei Minuten später führte der BVB schon wieder: Yan Couto überbrückte mit einem entschlossenen Vorstoß viel Raum, Adeyemi legte am Strafraum zurück auf Felix Nmecha und der Mittelfeldmann traf sehenswert überlegt zur erneuten Gästeführung. "Karim hat den gut vorgelegt und ich liebe diese Position. Ein schönes Tor", freute sich Nmecha hinterher, der auch so eine kleine Geschichte dieses Spiels schrieb.
Der 24-jährige deutsche Nationalspieler spielte sehr reif und untermauerte das enorme Potenzial, das in ihm schlummert. Immer wieder traf er am Ball kluge Entscheidungen, behielt stets die Ruhe und spielte die richtigen Pässe. Gepaart mit seiner starken Dynamik Qualitäten, die auch Weltmeister Christoph Kramer imponieren. "Ich habe noch einen Hot Take", sagte Kramer als Experte bei Prime vor der Partie: "Ich hoffe, er bleibt verletzungsfrei, das ist sein größtes Problem - sonst sage ich, Stammspieler bei der WM 2026: Felix Nmecha. Sehr sicher."
Als Nmecha sechs Minuten nach seinem Treffer ausgewechselt wurde, stand es schon 2:2, weil Juve in Person von Dusan Vlahovic wieder schnell zurückschlagen konnte. Womit wir wieder bei erwachsen wären: Denn auch von dieser bitteren Entwicklung ließ sich der BVB nicht aus dem Konzept bringen und führte sechs Minuten nach Vlahovics Treffer schon wieder, nachdem Yan Couto zum zwischenzeitlichen 3:2 traf.
Dann darf natürlich auch Gregor Kobel in der Nachbetrachtung dieses spektakulären Königsklassen-Abends keinesfalls unerwähnt bleiben: Der Schweizer Keeper hexte am Ende zwar vergeblich, fiel aber schon früh mit einer Weltklasse-Parade gegen einen Fernschuss von Khephren Thuram auf (4. Minute). Nicht minder weltklasse war dann, wie Kobel in der 80. Minute einen Abschluss von Yildiz an den Pfosten lenkte und damit den erneuten Turiner Ausgleich verhinderte.
"Wir sind enttäuscht jetzt. Wir müssen das Spiel gewinnen, dürfen nicht in der Nachspielzeit zwei Tore bekommen. Das darf uns nicht passieren, hier noch unentschieden zu spielen, nachdem wir so ein geiles Spiel gemacht haben", ärgerte sich Kobel hinterher. Gegen wen sich sein Ärger insbesondere richtete, sagte er zwar nicht explizit - doch wer das Spiel gesehen hatte, wusste, dass sich Ramy Bensebaini angesprochen fühlen durfte: "Wir müssen einfach cooler und abgeklärter das Spiel zu Ende bringen. Da muss man einfach den Ball nach vorne hauen, die Zeit runter spielen und fertig. Da müssen wir am Ende einfach erwachsener Fußball spielen."
Bensebaini hatte in der vierten Minute der Nachspielzeit rund um den eigenen Strafraum die Chance, den Ball nach Kobels Gusto auf die Tribüne oder sonst wo hinzuhauen, entschied sich aber für die spielerische Lösung. Die landete jedoch unglücklicherweise in den Füßen von Juves Pierre Kalulu, dessen Flanke Vlahovic zum Anschlusstreffer über die Linie bugsierte und damit das Stadion noch einmal anzündete. "Man darf keine Fehler machen. Klar kann man mit dem Finger auf den Ramy zeigen, das machen wir aber nicht", betonte Kovac zwar nach Abpfiff, sagte allerdings auch: "Dennoch sage ich nicht umsonst: Hinten gibt es keine 'Play Zone' - gerade, wenn es in die Nachspielzeit geht, dann darf der Ball eigentlich gar nicht im Spiel sein. Wir müssen Fouls ziehen, in die Ecke gehen. Da darf nichts mehr passieren. Das ist das, was Gregor meint und wo wir zulegen müssen."

BVB verspielt den Sieg bei Juventus binnen 130 Sekunden
Bensebaini war indes zuvor schon Protagonist einer weiteren dieser kleinen Geschichtchen dieser nervenaufreibenden Partie gewesen. Vor dem Elfmeter zum vermeintlich vorentscheidenden 4:2 geriet der Algerier mit Serhou Guirassy aneinander, weil Letzterer unbedingt schießen wollte. Bensebaini war als Schütze festgelegt worden, doch Guirassy blieb lange stur. Erst kurz vor der Ausführung konnte er doch noch davon überzeugt werden, Bensebaini den Vortritt zu lassen.
Der Linksfuß meisterte die Drucksituation, traf in der 86. Minute sicher und mit Guirassy war plötzlich alles wieder gut, der ehemalige Stuttgarter herzte den Torschützen als erster Gratulant. "Ich verstehe natürlich, dass Serhou das Tor machen will, weil er davor die Schusschance hatte. Aber es war klar definiert (dass Bensebaini schießt, d. Red.), trotzdem ist alles gut. Da machen wir aus einer kleinen Mücke keinen Elefanten", erklärte Kovac zum Elfer-Stress.
Dass Dortmund der späte Zwei-Tore-Vorsprung nicht zu drei Punkten reichte, ärgerte Kovac natürlich deutlich mehr. Exakt 130 Sekunden waren es, die zwischen dem dritten Turiner Tor und dem Treffer zum 4:4-Endstand durch Lloyd Kelly lagen und die die Bewertung des Spiels zumindest ergebnistechnisch unerwartet noch einmal umkehrten. "Für alle, die es mit dem BVB und mit deutschen Mannschaften halten, ist das eine gefühlte Niederlage, die in der 86. Minute niemand hat kommen sehen", sagte Hummels.
Weg vom Ergebnis darf dieser Champions-League-Start den Borussen sicherlich sehr viel Mut machen. Schließlich hat man zu sehr großen Teilen dann eben doch erwachsen gespielt und hatte eine große Mannschaft, die in der Serie A gut gestartet ist und gerade Inter Mailand, den CL-Finalisten aus der Vorsaison, geschlagen hat, quasi schon besiegt. "Was nicht gut war, waren die letzten paar Minuten. Das ist das, was weh tut. Aber trotzdem Kompliment an die Jungs", fasste Kovac passend zusammen.
Ganz nüchtern betrachtet sind die zwei verschenkten Punkte umso ärgerlicher, da der BVB in der Ligaphase noch bei Manchester City, bei Tottenham und gegen Inter ran muss und mit Athletic Bilbao sowie dem FC Villarreal zwei weitere sehr komplizierte Gegner hat. "Das Spiel müssen wir auf jeden Fall mit nach Hause nehmen. Da gibt es nichts Anderes zu sagen. Vielleicht haben wir es am Schluss auch einfach nicht verdient", sagte ein angefressener Adeyemi bei Sky Austria.



