Wie eng es in manchen Situationen auf höchstem Niveau im Profifußball zugehen kann, wie nah Glück und Pech beieinander liegen, ist immer wieder bemerkenswert. Man stelle sich nur vor, Union Berlins Angreifer Andrej Ilic hätte in der 42. Minute nach der zu kurz geratenen Kopfball-Rückgabe von Aaron Anselmino auf den zugleich auch unnötig zögerlichen Torwart Gregor Kobel ins Tor getroffen.
Getty Images"Weltklasse"! Für einen BVB-Star ist Aaron Anselminos starkes Debüt keine gute Nachricht
Oder Ilic wäre nach dem Trikotzupfer des Neuzugangs von Borussia Dortmund zu Boden gegangen - es hätte vermutlich beim Debüt die Rote Karte für Anselmino bedeutet. Die Geschichte des Spiels wäre bereits erzählt gewesen. Ilic blieb aber stehen und schoss daneben. Und Anselmino bekam sozusagen eine zweite Chance.
Diese nutzte der unter der Woche vom FC Chelsea ohne Kaufoption für ein Jahr ausgeliehene Argentinier dann auch bravourös. Das "Weltklasse-Spiel", das BVB-Trainer Niko Kovac ihm nach dem 3:0-Sieg gegen die Eisernen bei DAZN attestierte, war freilich etwas zu hoch gegriffen. Doch Anselmino zeigte in der Tat eine sehr ansprechende Leistung.
Der 20-Jährige kam bei seinem 76-minütigen Einsatz, durch den er zwölf Zeigerumdrehungen mehr absolvierte als im gesamten Jahr 2025 (!), auf durchweg vorzeigbare Statistiken. In Zahlen: Anselmino gewann vier seiner sieben Zweikämpfe, verzeichnete mit vier die drittmeisten Ballgewinne beim BVB und hatte mit sechs die nach Waldemar Anton wenigsten Ballverluste der Dortmunder Startelfspieler. Fünf klärende Aktionen waren die drittmeisten, die Passquote von rund 94 Prozent die zweitbeste.
gettyNiko Kovac nennt Leistung von Debütant Aaron Anselmino "sensationell"
"Sensationell" nannte Kovac die Leistung des nach den zahlreichen Ausfällen in der Defensive dringend nötigen Lückenfüllers. "Man sieht: Körperlich sehr fit, aber wenn du keinen Rhythmus hast, er hat sehr wenig gespielt, kriegst du irgendwann mal auch Krämpfe", sagte der Coach. "Von der Körperlichkeit her ist er aber topfit. Ich schätze, in der übernächsten Woche passiert ihm das nicht, dass er einen Krampf kriegt, weil er dann im Rhythmus ist. Wie er das heute gemacht hat, war überragend gut. Deswegen haben wir ihn auch geholt."
Anselmino, der erstmals seit einem Spiel mit seinem Ex-Klub Boca Juniors in seinem Heimatland im vergangenen November wieder in einer Anfangsformation stand, war zwar meist - und angesichts seiner Vorgeschichte natürlich auch folgerichtig - auf Sicherheit bedacht. Doch nach der Pause traute er sich wie die gesamte Mannschaft mehr zu.
Innerhalb von 16 Minuten reihte er drei Szenen aneinander, die aus einem soliden Debüt ein mehr als gutes machten: In der 57. setzte er zu einer tollen Grätsche gegen Ilyas Ansah an, für die er ebenso Szenenapplaus bekam wie in der 73. gegen Oliver Burke. Und dann war da noch der gute Pass ins Angriffsdrittel auf Serhou Guirassy, der den Treffer zum vorentscheidenden 2:0 auslöste.
Starkes Debüt von Aaron Anselmino für Filippo Mane keine gute Nachricht
"Er hat ja bei Boca gespielt. Diejenigen, die da schon mal zugeschaut haben, wissen ganz genau, was man dort in diesem Stadion leisten muss. Hier ist es ähnlich", freute sich Kovac, der Anselmino schon unter der Woche als "Spieler mit sehr hohem Potenzial" pries, dessen Fähigkeiten man schon in den wenigen bislang absolvierten Trainingseinheiten gesehen habe.
Dass er bei seiner Auswechslung unter Standing Ovations, aber auch von Krämpfen geplagt vom Feld ging, sagte viel über seine Art des Verteidigens aus. Und freilich auch über das Fingerspitzengefühl des Dortmunder Publikums, das honorierte, wie sich der kurzfristig Berufene reinschmiss und kämpfte - typisch Argentinier, könnte man meinen.
Dass Anselmino viel Gier auf Ballgewinne ausstrahlte und das Berliner Umschaltspiel einige Mal gut antizipierte, darf dem hinten gebeutelten BVB durchaus Hoffnung auf mehr machen. Für Filippo Mane war Anselminos stabiles Debüt keine gute Nachricht. Bei dem Youngster lief es vor einer Woche im Bundesligadebüt gegen St. Pauli umgekehrt - sein Fehler wurde mit dem Platzverweis bestraft.
AFPBVB spielerisch himmelschreiend verbesserungswürdig
Blickt man von Einzelnen weg in Richtung Kollektiv, muss erneut und weiterhin festgehalten werden, dass die Dortmunder spielerisch jede Menge Luft nach oben haben. Mit Essen, St. Pauli und nun Union hatte man zum Auftakt keine übermächtigen Gegner vor der Brust, das Zusammenspiel der Borussen ist dennoch in allen Belangen himmelschreiend verbesserungswürdig.
Das von Marcel Sabitzer vor Anpfiff postulierte Vorhaben, diesmal mit "der Spielweise zu überzeugen", misslang gerade im ersten Abschnitt völlig. DAZN-Experte Michael Ballack nannte den Vortrag des BVB zu diesem Zeitpunkt gar "plump" - und hatte vollkommen Recht.
Dortmund mangelte es einmal mehr nicht nur an Tempo, Esprit, Energie und Dynamik. Es lässt sich weiterhin nur schwerlich eine Idee erkennen, wie die Westfalen den Ball aus der Dreierkette in die Offensive bringen wollen. Die Verbindung zwischen den Mannschaftsteilen bestand häufig nicht und man tat sich eminent schwer, eine sinnvolle Raumaufteilung und Positionierung im Übergangsspiel zu finden.
gettyBVB-Profis hadern sichtbar ihren Mitspielern
Wie unzufrieden die Akteure mit der Tatsache sind, dass sich keine Lösungen ergeben und häufig ohne Raumgewinn und Geschwindigkeit die Bälle hin und her gespielt werden, zeigte sich nicht nur in der Partie am Sonntagabend an ihrer Körpersprache. Mehrere Profis haderten deutlich sichtbar mit den Laufwegen und Angeboten ihrer Mitspieler. Bei einer Unterbrechung redete Kovac vehement auf Anton und Jobe Bellingham ein.
Dass es besser wurde und Dortmund am Ende einen ungefährdeten Sieg einfuhr, sollte man nicht unterschlagen. Genauso wenig wie den mit zunehmender Spieldauer immer biedereren Vortrag der Gäste. Wie der BVB in der derzeitigen Verfassung die während der Partie zugeloste Hürde Eintracht Frankfurt in der 2. Runde des DFB-Pokals Ende Oktober überspringen möchte, bleibt für den Moment allerdings ein sehr großes Rätsel.
BVB: Die nächsten Spiele von Borussia Dortmund
Termin Spiel 13. September, 15.30 Uhr 1. FC Heidenheim - BVB (3. Spieltag, Bundesliga) 16. September, 21 Uhr Juventus Turin - BVB (1. Spieltag, Champions League) 21. September, 19.30 Uhr BVB - VfL Wolfsburg (4. Spieltag, Bundesliga)

