Noch Mitte August herrschte bei Olmypique Marseille mal wieder das Chaos vor. Der Saisonstart war mit der 0:1-Niederlage bei Stade Rennes gründlich in die Hose gegangen - doch damit längst nicht genug. Nach der Partie kam es zwischen Mittelfeldspieler Adrien Rabiot und Stürmer Jonathan Rowe in der Kabine zu einer Prügelei, Trainer Roberto De Zerbi höchstselbst enthüllte später: "An einem Arbeitsplatz, wenn sich zwei Angestellte prügeln – wie in einem englischen Pub – mit einem anderen Kollegen, der bewusstlos zu Boden geht, was muss der Arbeitgeber in Frankreich tun? Es gibt zwei Lösungen: Suspendierung oder Entlassung", sagte De Zerbi auf einer Pressekonferenz.
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Rabiot und Rowe wurden daraufhin vom Verein vor die Tür gesetzt und zum Verkauf freigegeben. Vor allem in Rabiots Fall war damit ein Medienecho verbunden, das Olympique sicher gerne vermieden hätte. Die Mutter des französischen Nationalspielers beharrte auf einer anderen Darstellung der Geschehnisse, so drastisch wie dargestellt sei der Kabinenstreit gar nicht gewesen. Und überhaupt: "Der Trainer (Roberto De Zerbi, d. Red.), der so etwas noch nie gesehen hat, obwohl er immer schreit und herumbrüllt ... Und dann war er schockiert davon?", monierte Mama Rabiot.
Rund um OM waren damit schon wieder störende Nebengeräusche entbrannt, die man diese Saison eigentlich hinter sich lassen wollte. Vergangene Spielzeit gab es schließlich schon genug davon, im Frühjahr soll es intern zu einem üblen Zerwürfnis gekommen sein. Nach einer bitteren 1:3-Niederlage beim späteren Absteiger Stade Reims boykottierten Marseilles Spieler seinerzeit Medienberichten zufolge aus Trotz gegenüber der vorherigen Kritik de Zerbis das Training. Sportdirektor Medhi Benatia musste schlichten, nachdem einige Akteure angeblich sogar die Entlassung des Coaches gefordert hatten.
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Mit dieser Geschichte im Hinterkopf und die Auftaktniederlage sowie den Kabinen-Eklat vor Augen, dürfte es so manchem Marseille-Fan schon vor der neuen Saison gegraut haben. Doch nur knapp zwei Monate später ist von Störgeräuschen, Chaos und Zerwürfnissen nichts mehr zu spüren. Die Streithähne Rabiot (wechselte zur AC Mailand) und Rowe (nun beim FC Bologna) sind längst weg und sportlich läuft es trotz des einen oder anderen kleinen Rückschlags absolut rund.
Einer der Hauptverantwortlichen dafür ist der frühere Bayern-Verteidiger Benatia. Der 38-Jährige, im Januar zum Sportdirektor befördert, hielt im Frühjahr mit seinen schlichtenden Fähigkeiten den Laden zusammen und sorgte im abgelaufenen Sommertransferfenster federführend dafür, dass den Südfranzosen ein paar echte Coups gelangen.
"Ich glaube, in den letzten Tagen des Transferfensters hat sich etwas verändert", betonte De Zerbi vergangenen Woche. Gerade hatte seine Mannschaft in der Champions League Ajax Amsterdam mit 4:0 aus dem Stadion geschossen, in der Startelf standen dabei gleich acht Neuzugänge.
Der Trainer lobte explizit die fünf sehr späten Transfers, die Benatia kurz vor dem Ende der Wechselperiode Anfang September einfädeln konnte. Mit Nayef Aguerd, der für 23 Millionen Euro von West Ham United kam, sowie dem von Inter Mailand ausgeliehenen Benjamin Pavard wurde die Defensive stabilisiert. Mit Matt O'Riley (von Brighton) und Arthur Vermeeren (von RB Leipzig) kamen zwei Mittelfeldspieler ebenfalls per Leihe, die Rabiots Abgang qualitativ hochwertig auffingen. Und dann erwähnte De Zerbi auch noch Hamed Traore explizit, der aus Bournemouth geliehen wurde und bisher noch kaum zum Einsatz kam, künftig aber die Breite der Optionen in der Offensive verbessern wird.
"Damit hat es angefangen", führte De Zerbi den Umschwung auch auf die späten Neuverpflichtungen zurück. Seit dem 0:1 in Lyon Ende August hat Marseille fünf von sechs Pflichtspielen überzeugend gewonnen und lediglich zum Champions-League-Start bei Real Madrid (1:2) verloren. "Die gute Laune ist zurückgekehrt und damit der Optimismus", betont De Zerbi.
Getty ImagesOlympique Marseille im Aufschwung: Pierre-Emerick Aubameyang sorgt für gute Stimmung und Tore
Der italienische Coach, der auch mal beim FC Bayern gehandelt wurde und der im Sommer 2024 bei OM anheuerte, hat mittlerweile einen Kader zur Verfügung, den er selbst gestalten konnte und der bestens zu seiner Spielweise passt. Beim starken 4:0 gegen Ajax waren 13 der 15 eingesetzten Akteure Spieler, die nach De Zerbis Ankunft geholt wurden.
Zuletzt wurde dabei nicht nur in puncto Last-Minute-Transfers stark gearbeitet. So wurde diesen Sommer beispielsweise auch Pierre-Emerick Aubameyang zurückgeholt, der Marseille 2024 nach nur einem Jahr in Richtung Saudi-Arabien verlassen hatte. Der ehemalige BVB-Torjäger ist trotz seiner 36 Jahre sportlich weiterhin wertvoll und zudem mit seiner positiven Art für die Teamchemie wichtig: "Ich liebe die Art und Weise, wie meine Spieler arbeiten, die Freude, die sie zeigen und die Beziehung, die sie zu den Fans aufbauen", lobte De Zerbi zuletzt.
Wie viel er der Mannschaft aber auch fußballerisch noch geben kann, zeigte Aubameyang schon zur Genüge. Vier Tore und drei Assists steuerte er in den sieben Partien seit seiner Rückkehr bei, gegen Ajax überragte er mit einem Treffer und zwei Vorlagen. "Es war eine Herzensentscheidung", sagte Aubameyang im Sommer, nachdem er ein zweites Mal bei OM unterschrieben hatte. Er hätte auch in Saudi-Arabien bleiben und deutlich mehr Geld verdienen können. Doch er will noch einmal allen beweisen, dass er auch auf Top-Level in Europa noch einen Mehrwert bieten kann. Und bis dato gelingt ihm das.
De Zerbi beeindruckte indes auch, dass Aubameyang die Kapitänsbinde gegen Ajax ohne jegliches Murren an Pierre-Emile Höjbjerg, einen weiteren ehemaligen Bundesligaprofi, übergab, als jener nach gut einer Stunde eingewechselt wurde: "Er hatte die Bescheidenheit, die Binde Höjbjerg zu geben, obwohl ihn niemand dazu aufgefordert hatte", freute sich De Zerbi über die neue Harmonie beim stolzen Verein aus dem Süden Frankreichs.
AFPMarseille ist reifer geworden: "Genau diese Spiele haben wir letztes Jahr verloren"
Marseille ist es im Sommer gelungen, seinen Kader sowohl in der Spitze als auch in der Breite deutlich zu verstärken. Für den zu Inter Mailand abgewanderten Flügelspieler Luis Henrique kam in Igor Paixao, Hamed Traore und Timothy Weah gleich dreifach Ersatz, der auch qualitativ einen Sprung nach vorne bedeutete. Man hat einen herausragenden Mix aus auf höchstem Level erfahrenen Spielern und immer noch jungen, aber auch schon gestandenen Akteuren, die etwas zu bewiesen haben, neu dazu geholt.
Und bisher schlagen die Meisten davon sehr gut ein. Bei Paixao, dem mit 30 Millionen Euro teuersten Neuzugang, ist mit dem Doppelpack gegen Ajax der Knoten geplatzt, beim 3:0 in Metz am vergangenen Wochenende legte der 25-jährige Brasilianer gleich einen Treffer nach. Ohnehin war der Erfolg beim Aufsteiger ein weiteres Indiz dafür, dass OM diese Saison eine Reife an den Tag legt, die in jüngerer Vergangenheit fehlte.
"Genau diese Spiele haben wir letztes Jahr verloren", sagte De Zerbi nach dem hart erarbeiteten Sieg in Metz, bei dem es zur Halbzeitpause noch 0:0 gestanden hatte. "Wir sind gereift und das Team ist jetzt viel stärker. Ich bin sehr glücklich. Das ist momentan die beste Phase, seit ich in Marseille bin."
Was De Zerbi besonders gefreut haben dürfte: In Metz standen ausschließlich Spieler in der Startelf, die vor seiner Ankunft in Marseille ebenfalls noch nicht da waren. Und die nach seinen Vorstellungen geformte Elf präsentiert sich spürbar gefestigt, was sich auch am Tabellenstand ablesen lässt: Nach sieben Spieltagen ist Olympique Tabellenzweiter, der Rückstand auf Spitzenreiter PSG beträgt lediglich einen Punkt.
Marseille hat trotz eines schweren Auftaktprogramms sehr gut in die Saison gefunden, mit Lyon, Straßburg und Paris spielte man bereits gegen alle drei anderen Teams der aktuellen Top-4. Besonders der 1:0-Sieg gegen PSG Ende September stach heraus, hatte man gegen den Serienmeister doch zuletzt fast immer sehr schlecht ausgesehen. Ein frühes Tor von Aguerd reichte letztlich, die knappe Führung brachte die De-Zerbi-Elf mit viel Ruhe, großer Intensität und etwas Glück über die Zeit. Es war der erste Liga-Sieg gegen den Erzrivalen seit über fünf Jahren, von den neun Ligue-1-Duellen danach waren acht an PSG gegangen.
Das erste Ausrufezeichen gegen PSG seit langem sorgt für Euphorie und große Hoffnung, dass es etwas werden könnte mit dem ersten Meistertitel seit 2010. Marseille hat zwar erst die ersten Schritte dorthin hinter sich und drohte vor einigen Wochen noch im Chaos zu versinken. Doch ein sehr erfolgreicher Transferendspurt und ein verbessertes Mannschaftsklima machen Marseille zu einem Team, das sich auf bestem Weg befindet, eine der aufregendsten Mannschaften Europas in dieser Saison zu werden.

