Vom Unantastbaren zur Teilzeitkraft: Vinicius Juniors neue Rolle bei Real Madrid birgt Zündstoff pur

Man mag es kaum glauben, aber Vinicius ist im Moment kein unangefochtener Stammspieler bei Real Madrid. Unter dem neuen Trainer Xabi Alonso hat er in dieser Saison noch keine Partie über die volle Distanz bestritten, nicht einmal für 80 Minuten stand er bislang in einem Match auf dem Rasen. Ein krasser Gegensatz zum Freibrief, den ihm noch von Alonsos Vorgänger Carlo Ancelotti ausgestellt wurde.

Beim Champions-League-Auftakt gegen Olympique Marseille (2:1) vergangene Woche schmorte er über eine Stunde auf der Ersatzbank des Santiago Bernabeu und vier Tage später entlud sich sein Frust, als er nach einem starken Auftritt beim 2:0-Sieg in LaLiga gegen Espanyol in der 77. Minute für Landsmann Rodrygo weichen musste. Während einer Trinkpause über seine Herausnahme informiert, reagierte Vinicius wütend, schmiss eine Wasserflasche auf den Rasen und stürmte in die Kabine, ohne seinen Trainer zunächst zu beachten. Später kehrte er zurück, hatte sich aber nur wenig beruhigt.

Im Nachgang des Spiels war dies das dominierende Thema und nicht etwa der fünfte Sieg seiner Mannschaft im fünften LaLiga-Spiel gegen einen unbequemen Gegner. Zum Beispiel meldete sich Jorge Valdano zu Wort. Der 69-Jährige ist bei Real eine Institution, war dort lange Jahre Torjäger und Sportdirektor. Bei Movistar+ erklärte er, Vinicius' Verhalten sei "in keiner Art und Weise hilfreich". Dann führte der Argentinier aus: "Vinicius ist ein Spieler, der von Real Madrid große Unterstützung bekommen hat. Er hat gegen die ganze Welt gekämpft und der Klub stand an seiner Seite. Jetzt aber erreichen wir ein neues Problem: Vinicius ist nicht mehr sauer auf die ganze Welt, jetzt ist er sauer auf seinen Trainer."

Valdano, der eine "Respektlosigkeit" Vinicius' gegenüber Rodrygo erkannt hatte, warnte: "Die Verantwortlichen bei Real Madrid haben den Klub immer über jeden Spieler gestellt. Er sollte also vorsichtig sein."

Deutlich diplomatischer äußerte sich erwartungsgemäß Alonso: "Ich war selbst ein Spieler und wenn ich ausgewechselt wurde, habe ich mich auch nicht gefreut. (…) Für mich war das normal, eine natürliche Reaktion. Ich werde daraus keine große Sache machen." Er unterstrich aber auch: "Was wir brauchen ist, dass wir ein Team sind. Jeder muss die Rolle verstehen, die wir für ihn in diesem Team vorsehen und jeder muss seinen Beitrag leisten."

Neben Vinicius gebe es "viele wichtige Spieler" in seiner Mannschaft und jeder solle sich "wichtig fühlen", so Alonso bereits in der Vorwoche, nachdem es Kritik an Vinicius' Körpersprache während des Marseille-Spiels gegeben hatte.

Wie aber sieht denn besagte Rolle für Vinicius aus? Welche Strategie hat Alonso, wenn er einen der unbestritten talentiertesten Spieler des Planeten mit einem leider nervigen Hang zu Drama und Theatralik nur als Teilzeitkraft sieht? Das sind die Fragen, die viele Fans und Experten sich gerade stellen. Fakt ist, dass der ehemalige Erfolgstrainer von Bayer Leverkusen noch an der perfekten Besetzung seiner Offensive tüftelt. 

Gesetzt ist einzig Kylian Mbappe. Der Franzose war zwar zu Beginn der Alonso-Amtszeit im Sommer bei der Klub-WM zunächst krank, mittlerweile ist er aber im Sturmzentrum unumstritten und liefert Scorerpunkte am Fließband: Sieben Tore und ein Assist sind es in sechs Pflichtspielen.

Alonso setzt bislang am häufigsten auf eine 4-2-3-1-Formation, er schickte seine Mannschaft aber auch schon in einem 4-3-3 oder einem 4-4-2 auf den Rasen. Dabei durften sich je nach System und Ausrichtung bereits Rodrygo, Franco Mastantuono, Brahim Diaz, Arda Güler und Vinicius neben oder um Mbappe herum versuchen.

Gefragt, in welcher Besetzung ihm seine Abteilung Attacke denn an den ersten sechs Spieltagen am besten gefallen habe, sagte Alonso: "Das ist eine schwierige Frage. Wenn ich sie beantworte, dann bekomme ich Probleme. Es ist klar, dass wir in einigen Bereichen noch Luft nach oben haben. Aber wir haben ein Fundament gegossen, es ist solide und darauf können wir in dieser Saison aufbauen."

In welchem Maße Vinicius Junior nun auf diesem Fundament als Baumeister zum Einsatz kommt, wird spannend sein zu sehen. Sportlich scheint er die neue Herausforderung gut anzunehmen. Immerhin zeigte er gegen Espanyol sein womöglich bestes Spiel in dieser Saison. Er war ein ständiger Unruheherd, kreierte zahlreiche Chancen und lieferte auch einen Assist. Einzig ein Aluminiumtreffer verhinderte sein drittes Saisontor. Jorge Valdano sieht den Angreifer trotzdem noch in der Pflicht: "Vinicius ist nicht mehr der Alte und sein Trainer ist auch jemand anderes. Er muss sich jetzt erstmal steigern und seinen Trainer überzeugen."

Ein wichtiger Faktor bei dieser Überzeugungsarbeit ist das Pensum, das Vinicius bereit ist, abzurufen. Beinahe mantraartig hat Alonso nach seinem Amtsantritt betont, wie wichtig ihm die Defensivarbeit seiner Offensivkräfte ist. Dieser war einer der Schlüssel zum Erfolg seiner Bayer-Mannschaft und das mangelhafte Pressing von Vinicius, Mbappe und ihren Kollegen einer der Gründe für die titellose letzte Saison Madrids. Mbappe hat hier deutliche Fortschritte gemacht, und die soll zweifelsohne auch der eher semi-begeisterte Defensivarbeiter Vinicius machen.

Vinicius Juniors Leistungsdaten 2025/26:

Eine Zwischenbilanz allerdings gibt Alonso Recht: Real ist als einziges LaLiga-Team noch ohne Punktverlust und führt die Tabelle mit zwei Punkten Vorsprung auf Erzrivale Barcelona an. Was den Coach vielleicht sogar noch zufriedener stimmt: Seine Mannschaft stellt mit nur zwei Gegentreffern auch die beste Defensive im spanischen Oberhaus. Bei allem Erfolg aber ist es schwer vorstellbar, dass Vinicius über einen längeren Zeitraum hinweg eine reduzierte Rolle akzeptiert. Noch hält er sich öffentlich mit Kritik oder Aussagen allgemein zurück. Doch seine kurze Lunte ist bekannt und Alonso spielt hier gewissermaßen mit dem Feuer.

Die aktuelle Vinicius-Situation hat noch eine weitere, mindestens genauso explosive Komponente. Hier geht es nicht nur um einen Superstar, dessen Eitelkeit Kratzer bekommt, weil er manchmal draußen sitzen muss. Hier geht es auch um einen Ausnahmespieler, der mit seinem Klub wegen einem der lukrativsten Verträge überhaupt verhandelt. Mancher Verschwörungstheoretiker wittert gar einen Zusammenhang zwischen den Gesprächen und der Entwicklung von Vinicius' sportlicher Lage.

Bis 2027 ist ist der 25-Jährige noch an Real gebunden. Die Vertragsverhandlungen wegen einer vorzeitigen Verlängerung entpuppen sich als ziemlich zähe Angelegenheit – mit zunehmend ungewissem Ausgang. Monatelang zogen sich die Gespräche hin. Gerüchte über horrende Gehaltsvorstellungen des 41-fachen Nationalspielers machten zwischenzeitlich die Runde. So soll Vinicius gefordert haben, der bestbezahlte Spieler des Vereins zu werden und Mbappe abzulösen. Zur Einordnung: Mbappe kassiert nach seinem ablösefreien Wechsel von PSG in die spanische Hauptstadt jährlich rund 31,25 Millionen Euro. Vinicius steht aktuell bei einem Jahressalär von knapp 21 Millionen Euro. Eine fette Gehaltserhöhung wäre also nötig gewesen, um zum Spitzenverdiener aufzusteigen. Real soll dagegen "nur" ein Grundgehalt von 20 Millionen Euro samt möglicher Boni in Höhe von weiteren 10 Millionen Euro geboten haben.

Nun ist es aber so, dass Vinicius im Frühjahr seine Forderungen deutlich reduziert haben soll. Ebenso betonte er öffentlich stets, dass er seine Zukunft einzig im königlichen Dress sehe. Und im Februar kündigte er an, dass seine Unterschrift unter ein neues Arbeitspapier kurz bevorstehe. Taten folgten anschließend aber nicht, stattdessen überschlugen sich die spanischen und internationalen Gazetten zuletzt mit anderslautenden Meldungen.

Marca, ESPN und As berichteten übereinstimmend, dass die Verhandlungen zwischen Vinicius und Reals Bossen derzeit nicht fortgeführt werden. Bereits vor einigen Wochen sei es zum (vorübergehenden) Bruch gekommen. Durchaus bemerkenswert: Den Grund dafür gibt keines der Medien an.

Je länger die Vertragssituation und damit die mittelfristige Zukunft Vinicius' ungeklärt sind, desto größer wird naturgemäß die Wahrscheinlichkeit eines großen Knalls. Was, wenn Vinicius im Sommer 2026 noch immer nicht verlängert hat? Ließen die Real-Verantwortlichen einen der wertvollsten Spieler des Planeten ernsthaft mit auslaufendem Vertrag in die nächste Saison gehen? Angeblich sei man angesichts von 20 Monaten Restlaufzeit des aktuellen Kontrakts in der Führungsspitze des Klubs noch "entspannt", so Marca. Und welche Rolle spielt das latente Interesse aus Saudi-Arabien?

Die Pro League soll Vinicius in den vergangenen beiden Sommern mit unglaublichen Summen gelockt haben - jeweils vergeblich. Nach dieser Spielzeit könnte Anlauf Nummer drei folgen. Mit einem irren Gehaltsangebot, die Rede war bereits von einem Milliardenvertrag, für den Dribbelkünstler und einer verlockenden Offerte für Real: Womöglich winkt dann eine Rekordablöse für einen Spieler, der ein Jahr später ablösefrei wäre und bei dem Xabi Alonso gerade gezeigt hat, dass man ihn nicht mehr unbedingt braucht.

Angesprochen auf das wilde Gerücht, es werde sogar schon im Winter erwogen, sich zu trennen, meinte Alonso im Vorfeld des Ligaspiels gegen UD Levante am Dienstagabend ganz allgemein, er sei mit seinem Schützling "sehr zufrieden, ganz klar. Er muss weiter so hart arbeiten wie bisher, die Saison hat gerade erst begonnen."

Beim Ballon d'Or 2025 landete Vinicius übrigens auf Platz 16. Auch das unterstreicht seinen Abwärtstrend in den vergangenen elf Monaten.