Symbole für Thomas Müllers Wirken beim FC Bayern, das weit über seine fußballerischen Leistungen auf dem Platz hinausgeht, lassen sich unendlich viele finden. Man kann überall landen, zum Beispiel bei einem Werbedreh für die Brauerei Paulaner in einem Münchner Biergarten. Da entstand im Sommer 2022 ein ganz wunderbares Video. Darin erklärt Müller dem damals 19-jährigen Jamal Musiala (eher mäßig erfolgreich), wie man eine Bierflasche mit einer anderen öffnet.
gettyThomas Müller ist sportlich nicht mehr unersetzbar
Thomas Müller ist der erfolgreichste Fußballer in der Geschichte des FC Bayern. Mit 742 Einsätzen Rekordspieler, zwölffacher deutscher Meister, zweifacher Triple-Sieger. Aller Voraussicht nach endet im Sommer seine Zeit als aktiver Spieler bei den Münchnern. Einem Bericht des kicker zufolge bietet ihm der FC Bayern keinen - zumindest für ihn akzeptablen - neuen Vertrag an. Laut Bild fühlt er sich vor den Kopf gestoßen. Ehe es zu größeren Verwerfungen kommt, muss der Klub diese heikle Causa schnell moderieren. Ein sauberer Abschied ist das Mindeste, was der Fußballer Müller verdient hat.
Auf dem Platz ist er mit seinen mittlerweile 35 Jahren beim FC Bayern längst ersetzbar. Unter Trainer Vincent Kompany stand Müller in dieser Saison lediglich zwölfmal in der Startelf, meist in unwichtigen Spielen. Entscheidende Tore schoss er dabei keine. Sein Gehalt von kolportierten 17 Millionen Euro steht in keiner Relation zu seinem sportlichen Wert. Gerade mit Blick auf die Sparzwänge wäre eine Trennung nachvollziehbar.
Auch Müller selbst dürfte mit seiner sportlichen Rolle nicht mehr zufrieden sein. Wie kompetitiv er auch im fortgeschrittenen Alter noch ist, zeigte sich in der kürzlich erschienenen Doku über sein Leben deutlich. Als Fußballer ist Müller beim FC Bayern zu ersetzen, als Typ aber nicht.
Getty Images SportIntegration und Interviews: Was Thomas Müller so wichtig macht
Man kann das Bier-Video mit Musiala natürlich als Werbe-Schabernack abtun. Es steht aber auch symbolisch für Müllers Rolle als helfender Integrator. Für seine umgängliche Art, gerade im Umgang mit nachrückenden Nachwuchsspielern. Gefragt nach den ersten Bezugspersonen bei den Bayern-Profis, erwidert jeder Neuankömmling: Thomas Müller. Egal ob Talent oder teurer Neuzugang. Egal ob das 17-jährige Eigengewächs Jamal Musiala oder der 29-jährige Weltstar Harry Kane. Dem einen hilft er beim Bier öffnen, mit dem anderen geht er golfen.
Müller hat ein unglaubliches Gespür für Menschen und wie man Menschen als Mannschaft zusammenhält. Nach dem dramatischen Finale dahoam 2012 war er es, der seine niedergeschmetterten Kollegen mit einer motivierenden WhatsApp-Nachricht aufgebaut und für die Zukunft eingeschworen hat. 2013 stand das Triple. Das ist die eine Gabe, die Müller für den FC Bayern so unersetzlich macht. Die andere ist seine Öffentlichkeitsarbeit. Sein Gespür für Worte und ihre Wirkung.
Wie kein anderer aktueller Spieler des FC Bayern steht Müller den Reportern und somit auch der Öffentlichkeit verlässlich Rede und Antwort. In guten wie in schlechten Phasen. Anders als viele Kollegen verzichtet er in seinen Interviews weitestgehend auf Floskeln. Müller hat das Fußball-Wissen und die Rhetorik, um Sachverhalte verständlich zu erklären. Er kann Diskurse lenken. Seine Analysen sind tiefgründig, ehrlich, ausführlich, überraschend. Und gerne garniert mit kleinen Witzchen. Gelingt mal wieder eine seiner zahlreichen Pointen, dann lacht er darüber selbst mindestens genauso wie seine Zuhörer. Ein klassischer Müller, heißt es dann wieder.
Als Reporter verhält es sich bei Müller ähnlich wie bei Klub-Patron Uli Hoeneß. Wenn er spricht, ist alles andere erstmal sekundär. Schlagzeilen sind fast garantiert. Müllers Wort hat Gewicht. Diese öffentlich kommunizierte Perspektive aus der Mannschaft wird nach seinem Abschied als Spieler genauso fehlen, wie er selbst seiner Mannschaft fehlen wird.
GettyHoeneß und Müller: Die Verkörperung des Mia san mia
Aufgrund dieser Fähigkeiten ist es für den FC Bayern von entscheidender Bedeutung, Müller künftig in den Klub einzubinden. Das scheint auch den aktuellen Bossen klar zu sein, wiederholt äußerten sie diese Hoffnung.
Ganz abstrakt gedacht, wäre Müller als Gesicht und Sprachrohr des FC Bayern der ideale Hoeneß-Erbe. Unabhängig von etwaigen Posten und Verantwortungsbereichen. Man weiß auch gar nicht, ob Müller ähnliche betriebswirtschaftliche Fähigkeiten entwickeln kann wie der langjährige Manager Hoeneß. Oder überhaupt Interesse hat an diesen Themengebieten. Eine passende Rolle ließe sich aber sicher finden. Vielleicht Präsident?
In vielerlei Hinsicht sind Hoeneß und Müller grundverschieden. Beide reden zwar gerne und viel, aber ganz anders. Der eine witzelt eher, der andere poltert. Beide aber transportieren ihre Botschaften und werden gehört. Nicht nur ihre Redegewandtheit eint sie, sondern auch ihre integrative Kraft. Damit verkörpern sie das Mia san mia wie niemand sonst. Fragt man Fans, welche Persönlichkeiten sie mit diesem so prägenden und gleichzeitig vieldeutigen Slogan des FC Bayern verbinden, dann fallen immer die zwei gleichen Namen: Hoeneß und Müller.
Getty Images SportSetzt Thomas Müller seine aktive Karriere fort?
Mehr als bei fast jedem anderen Top-Klub prägen beim FC Bayern seit jeher erfolgreiche Ex-Spieler die Führungsetage. Uli Hoeneß, Karl-Heinz Rummenigge, Franz Beckenbauer. Als Spieler formten sie den FC Bayern in den 1970er-Jahren zu einer Siegesmaschine, als Funktionäre machten sie einfach weiter. Das schafft bei den Fans Identifikation und Vertrauen. Diese Tradition ist in Gefahr, womöglich auch wegen der Tradition selbst beziehungsweise der weiterhin allumfassenden Präsenz von Hoeneß und Rummenigge.
Aus den späteren goldenen Generationen etablierten sich keine Spieler nachhaltig als Funktionäre. Von den 2001er-Champions-League-Siegern bekamen Hasan Salihamidzic und Oliver Kahn die Chance, scheiterten aber. Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger, die Helden von 2013, zeigten bisher keine entsprechenden Avancen. Damit der Klub in seiner heutigen Form weiterlebt, braucht es dringend spirituelle Nachfolger von Hoeneß (73) und auch Rummenigge (69). Müller ist diese Rolle mehr als jedem anderen zuzutrauen.
Es spricht übrigens nichts dagegen, wenn er seine aktive Karriere erstmal im Ausland fortsetzt - das taten schon viele vor ihm. Beckenbauer, Gerd Müller und Schweinsteiger kickten in den USA, die MLS wird oft auch als potenzielle Destination für Müller genannt. Hoeneß ließ seine Karriere beim 1. FC Nürnberg ausklingen, Rummenigge bei Servette Genf. Vielleicht lohnt sich etwas zeitlicher Abstand für Müller sowieso. Hoeneß und auch Rummenigge sind schließlich noch da. Und mit dem auferlegten Sparzwang übrigens mitverantwortlich dafür, dass Müller wohl keinen neuen Spielervertrag bekommt.

