Das Fehlen von Straßenzockern ist eines der großen öffentlichen Themen, wenn es um Nachwuchsfußball in Deutschland geht. "Wir brauchen mehr Straßenfußball und weniger Fifa-Playstation", sagte Bayerns Ex-Sportvorstand Hasan Salihamidzic mal der Frankfurter Rundschau. Und der ehemalige DFB-Direktor Oliver Bierhoff forderte in einem Beitrag für die Welt am Sonntag das Fördern einer Mentalität "wie wir sie von früher auf dem Bolzplatz kannten: schnell, direkt, Individualität zulassend und Kreativität fördernd."
Den Typ Straßenfußballer gibt es grundsätzlich ganz sicher noch, den wird es immer geben. Das sieht man schnell, wenn man sich Spiele oder Turniere von Jugendmannschaften anschaut. Natürlich fallen dort auch heute noch Jungs auf, die besondere Dinge mit dem Ball anstellen, die mit Inspiration und Kreativität spielen, die vor Liebe am Zocken sprühen. Dass sie mittlerweile wohl seltener oben ankommen, liegt möglicherweise auch daran, dass sie in den großen Vereinen zuletzt mitunter nicht mehr so gelassen wurden, wie sie sind.
Hinzu kommen unterschiedliche erschwerende Umstände, die das freie Zocken vermutlich seltener gemacht haben: Die vielfältigen Ablenkungen des digitalen Zeitalters mit Social Media und Co. Ein wachsender Umfang schulischer Verpflichtungen. Oder abgesperrte Fußballplätze, die früher noch stets offen waren.
Der Trend geht daher dorthin, Elemente aus dem Straßenfußball im organisierten Fußball, also den Vereinen zu integrieren. "Im früheren Straßenfußball spielten Kinder selbstorganisiert so, wie sie es wollten. Dieses freie Fußballspielen müssen wir den Jungen und Mädchen im Vereinsfußball wieder ermöglichen", heißt es in einem Beitrag auf der offiziellen Webseite der DFB-Akademie, der eine sicherlich viel zu drastische und irgendwie befremdliche Formulierung wählt. Denn man sollte auch nicht so tun, als sei Straßenfußball ein Relikt längst vergangener Tage und heute gar nicht mehr möglich.
Der Ansatz, Elemente vom Bolzplatz ins Vereinstraining herüberzuholen, wird jedenfalls auch in den Nachwuchsleistungszentren der größten Klubs des Landes verfolgt. Wie genau das aussehen kann und ob es überhaupt möglich ist, das authentisch zu machen, dazu später mehr. Grundsätzlich ist es sicherlich positiv, diese Richtung einzuschlagen und damit umzudenken.
Imago ImagesEin weiterer entscheidender Grund dafür, dass es weniger Straßenfußballer gibt, ist nämlich die Nachwuchsarbeit selbst. Die viel zu durchstrukturierten, viel zu früh professionalisierten Ausmaße des heutigen organisierten Jugendfußballs schränken die Möglichkeiten des freien Spielens ja selbst ein. Und inhaltlich wurde in der jüngeren Vergangenheit traurigerweise mehr Wert auf Strategie als auf die Liebe zum Ball gelegt. Dass sich dabei Straßenfußballer-Typen auch entfalten können, ist nur schwer möglich. "Den Jungs wird heutzutage der Spielwitz genommen, das sehe ich auch jetzt gerade in der Hertha-Akademie", sagte Kevin-Prince Boateng vor einigen Monaten im Sport1-Doppelpass. Niko Kovac schrieb 2018 in einer FAZ-Kolumne, dass typische Straßenkicker-Qualitäten im deutschen Jugendfußball "zu oft aberzogen" werden.
Derlei Entwicklungen entgegenzuwirken hat sich Keld Bordinggaard als eines seiner Hauptziele auf die Fahne geschrieben, als er im Frühjahr 2021 seinen Job als Nachwuchs-Cheftrainer bei Bayer Leverkusen antrat. Der 60-jährige Däne, früher selbst Profi und Nationalspieler, hatte erst mit 16 im Verein angefangen und zuvor einfach jeden Tag stundenlang auf der Straße gespielt. "Wir müssen uns Gedanken machen, wie wir heutzutage den Straßenfußball wieder in die Klubs bringen können. Denn leider spielt die Jugend von heute nicht mehr viel auf der Straße oder auf dem Bolzplatz", sagte er im Interview mit bayer04.de. "Stattdessen wird der Sport auf dem Computer simuliert, damit können wir nur schwer konkurrieren. Deshalb müssen wir uns die Mühe machen, die Qualität des Straßenfußballs in unser strukturiertes Training einzubauen."
Eine solche Qualität ist zum Beispiel der Einbau von Mini-Bällen oder Tennisbällen in Übungen und Spiele, was in Nachwuchsleistungszentren gerade in jüngeren Jahrgängen ohnehin schon gängig ist. Zudem könnte man hin und wieder mal barfuß spielen und trainieren lassen. Und – auch wenn es zunächst vielleicht seltsam klingt – möglicherweise lohnt es, sich zu bemühen, dass nicht nur auf perfekt gemähtem Rasen oder hochmodernem Kunstrasen trainiert wird, sondern auch mal auf kleinen Plätzen mit unebenem, holprigem oder schlichtweg anderem Untergrund als der gewöhnliche. Im Nachwuchsbereich von AZ Alkmaar zum Beispiel, Heimat einer der erfolgreichsten Akademien Europas und des aktuellen Youth-League-Siegers, nutzt man diesen Gedanken: Auf dem Trainingsgelände des Klubs gibt es einen Bereich mit einem Beton- und einem Sandplatz. "Jede Trainingseinheit sollte etwas Überraschendes haben. Daher probieren wir, die Bedingungen zu verändern, um unsere Spieler herauszufordern", erklärte Paul Brandenburg, Leiter von Alkmaars Nachwuchsabteilung, im Interview mit Sky Sports. "Ein veränderter Untergrund ist eine Möglichkeit, das zu tun. Denn jeder Untergrund verlangt eine andere Technik."
Ein Ansatz, dessen Grundgedanken man auch auf andere Bereiche im Nachwuchsfußball ausweiten kann: Warum strebt man so sehr danach, immer die optimalen Bedingungen präsentieren zu können oder stets die neuesten Analyse-Möglichkeiten zur Verfügung zu haben? Thomas Tuchel hat dazu schon vor einigen Jahren im Rückblick auf seine Tätigkeit als Jugendtrainer etwas sehr Gutes gesagt: "Wenn ich jetzt noch einmal eine A-Jugend trainieren würde, würde ich sagen: Ein halber Platz, ein Fernseher, ein Video-Recorder – das ist genug. Und der Platz muss nicht immer gemäht sein, muss nicht immer in einem Top-Zustand sein." So zu lernen, mit Schwierigkeiten umzugehen, sei eines der wichtigsten Dinge überhaupt. "Diese ganze Ausstattung, die wir den Spielern zur Verfügung stellen, kann am Ende dazu führen, dass ihnen diese Qualität, Widerstände zu überwinden, fehlt", führte Tuchel aus.
Derweil verfolgt man wie in Leverkusen auch bei Hertha BSC die Idee, den Mehrwert von Straßenfußball wieder mehr für sich zu nutzen. Auch dort ist der Antrieb dahinter vor allem die Entwicklung, dass Fußball heutzutage weniger in der Freizeit stattfindet. Berlins U19-Trainer Oliver Reiß erinnerte sich im Interview mit Herthas Vereinswebseite in diesem Zusammenhang an den 1995er Jahrgang um Hany Mukhtar, den er in seiner Anfangszeit in der Akademie trainierte: "Die sind neben dem Training dreimal die Woche auf dem Savignyplatz in den Käfig gegangen, haben da ihre Skills ausprobiert und ihre Art Fußball gelernt. Ich wüsste nicht, wer von meinen Jungs das parallel noch so macht."
Imago ImagesEine Entwicklung, die extrem schade ist. Von GOAL und SPOX auf die Unterschiede von früher zu heute angesprochen, führt Reiß aus: "Ich habe mir vorgenommen, Hany mal zu fragen, wie er das eigentlich gemacht hat. Denn wirklich viel mehr Zeit hatten die früher nicht. Sie hatten auch ihre Schule, haben auch siebenmal die Woche trainiert. Heute sind Wissenschaft und Belastungssteuerung natürlich wichtige Themen. Die Jungs werden mehr darauf aufmerksam gemacht, dass sie genügend Regenerationszeit benötigen. Darauf wurde früher noch nicht so sehr eingegangen, sondern man hat sich eher gefreut, dass die Jungs zusätzlich noch zum Zocken in die Käfige gehen."
Zumindest auf NLZ-Spieler gemünzt stellt sich also durchaus die Frage: Warum muss so viel Wert auf die Belastungssteuerung gelegt werden? Wieso gewichtet man sie nicht einfach weniger stark und gibt den Jungs explizit mehr Freiraum, auch mal in den Käfigen und auf den Bolzplätzen zu zocken? Denn indem man stattdessen pedantisch darauf achtet, dass sie ja nicht zu viel machen, verhindert und limitiert man anstatt zu verbessern.
Ein Zitat von Ex-Bundesligaprofi Hanno Balitsch (zuletzt Co-Trainer der deutschen U20-Nationalmannschaft und ab September Chefcoach der U18 des DFB) stützt diese These: "Genau dieses freie Kicken hat uns damals gut gemacht", sagte er im kicker über seine fußballerischen Anfänge auf dem Bolzplatz. Und eigentlich erkennt man dieses enorme Potenzial des freien Spielens ja wie gesagt auch in den Nachwuchsleistungszentren.
"Wir müssen Wege finden, Elemente von der Straße auf unser Training zu übertragen und versuchen, sie so gut es geht zu simulieren", erklärt Reiß bei GOAL und SPOX. "Dabei spielen viele Komponenten eine Rolle: Es geht nicht nur um freies Spiel, Skills oder Tricks. Sondern auch darum, ob ein Spieler widerstandsfähig ist, seine Ellbogen auch mal ausfahren und mit Konflikten umgehen kann."
Aber ist es überhaupt authentisch möglich, den Freigeist des Straßenfußballs auf ein Vereinstrainingskonstrukt zu übertragen? Wahrscheinlich vor allem dann, wenn man maximal loslässt, wenn man alles Organisierte auch mal vergisst. Reiß findet, man könne Straßenfußball-Elemente im Vereinstraining "schon provozieren – vorausgesetzt, der Trainer kann es authentisch vorleben." Auch hierfür ist Freiraum eines der Zauberwörter, wie Reiß betont: "Es ist elementar, eine Atmosphäre zu kreieren, in der die Spieler nicht das Gefühl haben, dass sie spielen, um dem Trainer zu gefallen. Dadurch kann man viel erreichen."
Was auch ganz entscheidend ist: Immer und immer wieder ganz simpel Eins-gegen-Eins spielen lassen – aus dem Lauf heraus, aus dem Stand, mit unterschiedlichen Anlaufrichtungen des Verteidigers. Und in Spielen dann die Lust auf das Eins-gegen-Eins nicht nur zuzulassen, sondern sie auch ganz explizit einzufordern. Immer wieder aufs Neue die Gier zu wecken, den Gegenspieler auszuspielen, ihm Knoten in den Beinen zu verpassen. Oder eben umgekehrt auch den defensiven Part hervorzuheben und den Antrieb zu triggern, als verteidigender Spieler den Gegner auf gar keinen Fall vorbeizulassen.
Dabei geht es dann auch wieder darum, genau das als Coach authentisch vorleben zu können. Eine Fähigkeit, die in den Nachwuchsleistungszentren mit zunehmender Modernisierung leider mehr und mehr dem Drang gewichen ist, den Fußball zu analytisch zu denken, ihn zu verkomplizieren.
In den ersten Jahren der NLZs Anfang und Mitte der 2000er war das noch anders. Der Fußball wurde noch mehr in seiner Ursprünglichkeit gesehen, es gab mehr Freiraum, mehr Intuitives. Deutschlands U20-Nationaltrainer Hannes Wolf erklärte dazu passend zuletzt im kicker: "2010 gab es im Juniorenbereich noch keine Video-Analyse des Gegners. Auch die eigenen Einheiten wurden noch nicht gefilmt. Erst danach sind die Mechanismen des Profifußballs herübergeschwappt in den Nachwuchsbereich. Die Folge: Es wurde auf einmal Taktik trainiert mit Blick auf den nächsten Gegner und rein aufs Ergebnis. Aber genau das ist auf Dauer Gift."
Getty / GOALInhaltlicher Antrieb dahinter war auch die fatale Entwicklung, Fußball immer mehr als Strategie- und immer weniger als Ballspiel zu betrachten und zu vermitteln. Eine Veränderung, die nicht nur dem organisierten Nachwuchsfußball geschadet hat, sondern mittlerweile allgegenwärtig ist. Selbst die mediale Präsentation von Fußball ist heute voll von taktischen Analysen, bis ins kleinste Detail ausgewerteten Spielszenen. Es scheint, als wolle man mit einer unerklärlichen Verbissenheit versuchen, für alles irgendeine systematische Erklärung zu finden, hinter allem einen logischen Plan aufzudecken. Als wolle man alles Wilde, Chaotische, Unkontrollierbare und Instinktive nicht mehr gelten lassen. Dabei sind genau das elementare Eigenschaften dafür, dass sich in jeder Generation so viele Menschen in den Fußball verliebt haben.
Vielleicht liegt es unter anderem auch an der Verkomplizierung des Denkens über das Spiel, dass es weniger Straßenkicker gibt. Das Gute ist, dass auch Leute beim DFB wie Hannes Wolf, Hermann Gerland und Hanno Balitsch erkennen, dass man dieser Entwicklung vehement entgegenwirken muss. Sie haben ein hervorragendes Konzept für Jugendtraining entwickelt, das auf dem Grundsatz fußt, dass Fußball ein einfaches Spiel ist. Wolf betont dabei: "Wir müssen wieder dahin kommen, dass die Trainer das Selbstvertrauen entwickeln, auf diese Einfachheit zu bauen."