Deportivo Riestra steht traditionell im Schatten der argentinischen Top-Klubs. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Riestras lediglich 3000 Zuschauer fassendes Estadio Guillermo Laza liegt unmittelbar hinter dem etwa 16-mal so großen Estadio Pedro Bidegain von San Lorenzo - und wirkt dadurch noch mickriger, als es eh schon ist.
IMAGO / FotobairesMit einem YouTuber und einem 14-Jährigen in der ersten Liga! Wie der "Anwalt des Teufels" Argentiniens Sensations-Tabellenführer formte
San Lorenzo bildet gemeinsam mit den Boca Juniors, River Plate, dem Racing Club und Independiente die Cinco Grandes, die fünf großen Klubs des Landes. Sie haben zehntausende Socios, wie Vereinsmitglieder in Argentinien genannt werden, ihre Heimspiele sind chronisch ausverkauft, die Stimmung in den Stadien ist der Fiebertraum von Fußball-Fans aus der ganzen Welt.
Und Deportivo Riestra? Rund 800 Socios, Heimspiele trotz des Mini-Stadions praktisch nie ausverkauft. Sportlich hat der Emporkömmling die berühmte Konkurrenz aber überholt. Nach einem irrsinnigen Durchmarsch von der fünften Liga in die Primera Division gelang zuletzt der erstmalige Sprung an die Tabellenspitze der aktuell zweigeteilten Liga (dazu später mehr). Als Bestätigung gewann Riestra vor einer Woche auswärts gegen Verfolger River Plate, in der Nacht auf Dienstag steigt das nächste Topspiel gegen Velez Sarsfield.
Victor Stinfale, der "Anwalt des Teufels"
Deportivo Riestra wurde 1931 gegründet, seinen Namen hat der Klub von der nahen Avenida Riestra. Jahrzehntelang pendelten die Amateure unbeachtet durch die unteren Ligen, bis 2012 plötzlich der Heilsbringer erschien: Victor Stinfale. Als Anwalt verteidigte der heute 61-Jährige einst Bankräuber, Bordell-Besitzer, Diego Armando Maradona, Waffenhändler, Vertreter der berüchtigten Fan-Gruppierungen von River und Boca und einen Polizisten, der wegen eines Massakers mit 85 Toten angeklagt wurde. "Anwalt des Teufels" nennen sie Stinfale in Argentinien gerne. Er selbst soll mal gesagt haben: "Wenn Hitler mir eine Million Dollar gibt, verteidige ich ihn."
Neben seiner Anwaltstätigkeit baute Stinfale die Energy-Drink-Marke "Speed" auf. Kontroversen gab es auch da: Bei einem von der Firma mitveranstalteten Festival starben 2016 fünf Menschen, weshalb Stinfale zwischenzeitlich für 70 Tage ins Gefängnis musste.
2012 suchte er nach einem neuen Spielzeug. Womöglich inspiriert vom Red-Bull-Imperium wollte Stinfale mit Speed bei einem Fußballklub einsteigen. Grundvoraussetzung: Klubfarbe schwarz, damit sie kompatibel mit dem Firmen-Logo ist. Dass der "Anwalt des Teufels" dann ausgerechnet bei Riestra fündig wurde, ist wunderbar stimmig. Riestras Spitzname lautet "El Malevo", im argentinischen Slang die Bezeichnung für einen Schurken.
IMAGO / Europa PressDas Speed-Logo ist bei Deportivo Riestra omnipräsent
Exakte Details zur Zusammenarbeit zwischen Fußballklub und Energy-Drink-Marke wurden nie kommuniziert. Seit dem Einstieg prangt jedenfalls das Speed-Logo auf der Brust der Riestra-Trikots, die entsprechende Dose wird im Rahmen der Spiele und in den sozialen Netzwerken des Klubs exzessiv beworben. Stinfale selbst hat keinen offiziellen Posten, fungiert aber dennoch als wichtigster Entscheider. Angeblich segnet er nicht nur Transfers ab, sondern mischt auch bei der Trainingsgestaltung und als großer Elektro-Fan sogar bei der Kabinen-Playlist mit. Fest steht: Seit seiner Ankunft geht es mit Riestra rasant bergauf.
Zunächst professionalisierte er die Infrastruktur des Klubs und vermittelte einen Ausrüster-Deal mit Adidas. Aktuell werden in Argentinien lediglich vier Mannschaften von Adidas ausgestattet: die Nationalmannschaft, River, Boca - und Riestra. Für entsprechende PR schaute einst Maradona beim Training und bei Spielen vorbei, für den sportlichen Durchmarsch dürften Stinfales enge Drähte zum argentinischen Verband hilfreich gewesen sein. "All die Aufstiege hatten etwas Merkwürdiges", sagt der argentinische Journalist Marcelo Patroncini vom Fußballmagazin Vermouth Deportivo im Gespräch mit SPOX. Riestra begleitet der Ruf, von Schiedsrichtern und Offiziellen stets begünstigt zu werden.
Deportivo Riestras Durchmarsch mit Merkwürdigkeiten
In Stinfales ersten beiden Jahren gelang der Durchmarsch von der fünften in die dritte Liga, so hoch hatte der Klub zuvor noch nie gespielt. Beim zweiten Aufstieg profitierte Riestra von einer kurzfristigen Aufstockung der dritten Liga auf 30 Klubs. "Das Geheimnis dieses Erfolgs ist Arbeit, Struktur und die richtigen Spieler", sagte der damalige Trainer Guillermo Szeszurak. "Und mit Victor haben wir ein Ass im Ärmel."
Unter höchst kontroversen Umständen folgte 2017 der nächste Aufstieg. Riestra führte im Playoff-Rückspiel gegen den Club Comunicaciones kurz vor Schluss im Gesamtscore mit 2:1. Als der Gegner vehement auf den Ausgleich drängte, stürmten Fans, Funktionäre und ein nicht nominierter Spieler von Riestra den Platz und attackierten ihre Gegner. Die Partie wurde abgebrochen, überraschend aber nicht für Comunicaciones gewertet, sondern einige Tage später zu Ende gespielt. Tor fiel keines mehr.
Riestra war nun erstmals Zweitligist, musste als Strafe aber mit zehn Minuspunkten in die darauffolgende Saison starten, was im direkten Wiederabstieg resultierte. Bereits ein Jahr später kehrte Riestra in die zweite Liga zurück und profitierte dabei erneut von einer kurzfristigen Regeländerung. Statt der eigentlich angedachten zwei Klubs durften plötzlich fünf aufsteigen, Riestra beendete die Saison auf Platz vier. "Es hört sich verrückt an, aber genau so ist es passiert", sagt Journalist Patroncini.
IMAGO / FotobairesMit einem YouTuber und einem 14-Jährigen in der ersten Liga
2024 trat Riestra schließlich erstmals in der Primera Division an. Obwohl das Estadio Guillermo Laza die Erstliga-Kriterien nicht erfüllt, bekam der Klub eine bis heute gültige Sondergenehmigung. Vor zwei Wochen wurde immerhin eine Flutlichtanlage installiert, bis dahin mussten alle Heimspiele bei Tageslicht ausgetragen werden.
In seinem Premieren-Jahr landete der Neuankömmling im grauen Tabellenmittelfeld, beherrschte dank Stinfales PR-Stunts aber dennoch die Schlagzeilen. Motto: Hauptsache polarisieren, damit das Speed-Logo in der argentinischen Öffentlichkeit omnipräsent ist. Das erste Training der Saisonvorbereitung begann um 3 Uhr morgens an einem Strand neben einem Nachtclub, aus dem Party-Musik schallte - die Aufnahmen gingen viral. Wie kaum ein anderer Klub beherrscht Riestra das Spiel mit den sozialen Medien.
Als Speed-Werbefigur bot Riestra in einem regulären Meisterschaftsspiel den in Argentinien bekannten YouTuber Ivan Buhajeruk "Spreen" in der Startelf auf. Ohne Ballkontakt wurde er nach 50 Sekunden ausgewechselt. Braian Romero von Gegner Velez Sarsfield sprach von einem "Mangel an Respekt für den Fußball". Mateo Apolonio debütierte derweil im Alter von 14 Jahren und 29 Tagen für Riestra und avancierte damit zum jüngsten Spieler in der Geschichte des argentinischen Erwachsenenfußballs.
Deportivo Riestra: Die billigste und älteste Mannschaft Argentiniens
Faszinierend macht den sagenhaften Aufstieg des einstigen Amateurklubs auch, dass er offenbar ganz ohne kostspielige Transfers funktionierte. Laut dem Fachportal Transfermarkt hat Riestra in seiner Geschichte überhaupt erst einmal eine Ablöse für einen Spieler entrichtet. Und zwar Anfang dieses Jahres umgerechnet 192.000 Euro für den Stürmer Alexander Diaz, der seitdem exakt zwei Tore geschossen hat.
Der Kaderwert der Mannschaft beträgt laut Transfermarkt 7,86 Millionen Euro, der niedrigste Betrag aller 30 Erstligisten. In einem anderen Ranking liegt Riestra dagegen ganz vorne. Das Durchschnittsalter von 29 ist das höchste der Liga.
Erfahrung, eine höchst stabile Abwehr und trotz der mangelnden Fan-Unterstützung eine unglaubliche Heimstärke sind Riestras Erfolgsfaktoren. Nach zehn Spielen lautet das Torverhältnis 14:6. Im heimischen Stadion ist Riestra seit Mai 2024 ungeschlagen und seit 1.031 Minuten ohne Gegentor. Den Rekord hält der große Nachbar San Lorenzo mit 1.503 Minuten.
IMAGO / FotobairesIrak-Schriftzug und "Die Kunst des Krieges"
Als Trainer fungiert seit Anfang des Jahres Gustavo Benitez, zuvor war der 39-Jährige neun Jahre lang mit Riestra als Spieler durch die Ligen marschiert. Angeblich kassiert er umgerechnet lediglich 1.800 Euro pro Monat. Zum Vergleich: Rivers Marcelo Gallardo liegt bei einem Monatssalär von 427.000 Euro. Wie seine Vorgänger lässt auch Benitez einen kampfbetonten Fußball spielen. Ganz nach dem Geschmack Stinfales, der vor allem von zwei Trainern schwärmen soll: Jose Mourinho und Carlos Bilardo. Argentiniens Weltmeister-Coach von 1986 war berüchtigt für seine Siegen-um-jeden-Preis-Philosophie, in Argentinien als "Antifutbol" verschrien.
Was bei Riestra von einem Spieler erwartet wird, erfahren Neuzugänge schon bei ihrer Ankunft: Da bekommen sie traditionell Stinfales Lieblingsbuch "Die Kunst des Krieges" überreicht, geschrieben vom chinesischen General Sun Tzu. Den Rücken von Riestras Trikots ziert der Schriftzug "Irak", so heißt Stinfales Hobby-Mannschaft. Die Botschaft ist klar: Wie Soldaten im von Kriegen zerrütteten Irak sollen die Spieler auf dem Platz kämpfen. "Manche finden Riestra sympathisch, andere hassen den Klub", sagt Journalist Patroncini. "Es gibt keinen Graubereich."
Gelingt nun sogar der Meistertitel? Das ist aufgrund des komplizierten Liga-Modus trotz der Tabellenführung nicht absehbar. Die argentinische Meisterschaft besteht aus zwei Halbserien, Apertura und Clausura. In der aktuell laufenden Clausura sind die 30 Erstligisten in zwei 15er-Staffeln unterteilt. Nach dem Ende des Grunddurchgangs Mitte November duellieren sich die jeweils acht bestplatzierten Klubs der beiden Staffeln im K.o.-System um den Titel.